Subgruppenbildung und intersektionale Diskriminierung
Subgruppenbildung und intersektionale Diskriminierung
Einleitung: der Normalfall der Diskriminierung
Die merkmalexterne Subgruppenbildung
Sachverhalt
Subgruppenbildung
Folge
Ungleichbehandlung, aber keine Diskriminierung
Schutz durch den allgemeinen europäischen Gleichbehandlungsgrundsatz
Die merkmalinterne Subgruppenbildung
Sachverhalt
Subgruppe
Bedeutung der Anknüpfung
Mittelbare vs unmittelbare Benachteiligung
Vergleichsgruppe
Intersektionalität als doppelte Subgruppenbildung
Intersektionalität
Doppelte Subgruppenbildung: die Entscheidung Parris
Sachverhalt
Subgruppenbildung
Notwendige Anknüpfung an zwei Merkmale
Gegen die Anerkennung der intersektionalen Diskriminierung
Systematik des Diskriminierungsrechts als spezielles Gleichbehandlungsrecht
Unwert der Anknüpfung an ein Diskriminierungsmerkmal
Intersektionale Benachteiligung als Schwachstelle des geltenden Rechts
Schwierige Handhabung
Fazit
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Die unmittelbare Benachteiligung ist der Normalfall des europäischen Antidiskriminierungsrechts.* Sie liegt vor, wenn eine Person in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde.*
Das ist aber nicht alles. Nach den europarechtlichen Vorgaben muss nicht bloß irgendeine weniger günstige Behandlung vorliegen. Diese muss vielmehr wegen eines Merkmals geschehen, das in den Richtlinien genannt wird, die den Grundsatz der Nichtdiskriminierung aus Art21 GRC konkretisieren. Entscheidend ist damit der Zusammenhang zwischen Benachteiligung und Diskriminierungsmerkmal.*
Die Trias aus Ungleichbehandlung, Anknüpfung und fehlender Rechtfertigung, die eine Diskriminierung definiert, ergibt sich dann aus der in den Richtlinien vorgesehenen Möglichkeit, Ungleichbehandlungen, die auf einem Diskriminierungsmerkmal beruhen, ausnahmsweise zu rechtfertigen.*
Beim Normalfall der Diskriminierung wird, um die Ungleichbehandlung festzustellen, die betroffene Person, die ein diskriminierungsrechtliches Merkmal aufweist, mit einer Person oder Gruppe verglichen, der dieses Merkmal fehlt.* Werden nun Subgruppen gebildet, dann scheint das auf den ersten Blick die Vergleichbarkeit zu erschweren, weil es mehr Konstellationen gibt, die verglichen werden können. Bei der Subgruppenbildung rückt jedoch nicht das Tatbestandsmerkmal der Vergleichbarkeit,* sondern das der Anknüpfung in den Mittelpunkt. Um das zu verdeutlichen, sollen zunächst drei Fälle verglichen werden. Es handelt sich dabei nicht um fiktive Konstellationen, sondern um Fälle, die bereits vom EuGH entschieden, aber bisher so nicht gegenübergestellt wurden. Die Rede ist von den Entscheidungen in Sachen Milkova,*Szpital Kliniczny* sowie Parris*.
Das Ziel der vergleichenden Analyse ist zunächst, die diskriminierungsrechtliche Bedeutung des Anknüpfungspunktes gegenüber der Vergleichsgruppe aufzuzeigen. Diese ist dann die Basis für die kritische Position gegenüber der intersektionalen Diskriminierung. Der EuGH nimmt ebenfalls eine ablehnende Haltung ein,* ist dafür aus der Wissenschaft jedoch – zu Unrecht – kritisiert worden.*
Die vergleichende Fallanalyse beginnt mit dem Fall von Petya Milkova. Sie wurde in Bulgarien als schwerbehinderte Beamtin aus dem Dienst entlassen. Zuvor wurde nicht die Zustimmung der Arbeitsinspektion eingeholt, die im österreichischen Recht der Zustimmung des Behindertenausschusses nach § 7 Abs 2 BEinstG entspricht. Das unterblieb deshalb, weil eine solche Zustimmungseinholung nach den Vorgaben des bulgarischen Rechts nur bei AN, nicht aber bei Beamten, verlangt wird.
Die Bildung der Subgruppe erfolgt hier anhand von Kriterien, die selbst keine Kategorien des Gleichbehandlungsrechts beschreiben. Daher stammt die Bezeichnung als merkmalextern. Im Fall von Frau Milkova ist dies die Trennung zwischen AN- und Beamtenstatus.
Um eine Subgruppe handelt es sich, weil sich in den Richtlinien des Nichtdiskriminierungsrechts diese Unterscheidung nicht findet.* Die sogenannte Geschlechter-RL* hält in Art14 fest, dass es im öffentlichen und privaten Sektor in Bezug auf die dort aufgeführten Bereiche keinerlei unmittelbare oder mittelbare Diskriminierung geben darf. Die sogenannte Antirassismus-RL* und die Gleichbehandlungsrahmen-RL* halten jeweils in Art3 wortgleich fest:
„Im Rahmen der auf die Gemeinschaft übertragenen Zuständigkeiten gilt diese Richtlinie für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen (...).“
In den genannten Richtlinien des europäischen Rechts ist eine Unterscheidung zwischen Beamten und AN demzufolge nicht angelegt. Lediglich die bulgarische, aber auch die österreichische oder deutsche Rechtsordnung trennen zwischen AN einerseits und Beamten andererseits. Dadurch entstehen auf nationaler Ebene zwei Subgruppen, das europäische Recht kennt demgegenüber nur eine („Personen“).*
Wurde Frau Milkova in diskriminierungsrechtlicher Hinsicht benachteiligt, weil in ihrem Fall die Arbeitsinspektion nicht angehört werden musste, im Fall der Kündigung einer schwerbehinderten AN, die auf einer vergleichbaren Position tätig ist, aber schon?
Weil die Bildung der Subgruppe nicht anhand eines Diskriminierungsmerkmals vorgenommen wurde, fehlt es am Zusammenhang zwischen Benachteiligung und Diskriminierungsmerkmal. Die Benachteiligung erfolgt nicht wegen eines Diskriminierungsmerkmals. Die Subgruppenbildung erhöht nur die Vergleichsmöglichkeiten.
Es lassen sich insgesamt vier Konstellationen miteinander vergleichen. Und zwar die zwischen AN und Beamten einerseits, die jeweils behindert bzw nicht behindert sein können. Frau Milkova stellt als behinderte Beamtin den Ausgangspunkt dar, den es mit den übrigen drei Konstellationen zu vergleichen gilt.
Vergleicht man Frau Milkova mit einer nicht behinderten Beamtin, liegt der diskriminierungsrechtlich relevante Unterschied vor, der in der Behinderung besteht. Es fehlt nur an einer Ungleichbehandlung, denn im Fall einer nicht behinderten Beamtin wird die Arbeitsinspektion auch nicht angerufen. Das gilt auch beim Vergleich mit der nicht behinderten AN, bei deren Entlassung keine Zustimmung der Arbeitsinspektion eingeholt wird.
Eine Benachteiligung ergibt sich erst, wenn man die Situation von Frau Milkova mit der einer behinderten AN vergleicht. Wird diese entlassen, muss die Arbeitsinspektion zustimmen, bei Frau Milkova muss sie es nicht. Für diese Unterscheidung entfaltet aber die Behinderung keine Relevanz. Denn beide sind behindert. Nur ist die eine Beamtin, die andere AN.
Frau Milkova wird schlechter behandelt als andere, aber für eine diskriminierungsrechtliche Relevanz fehlt es an der Anknüpfung, dh der Benachteiligung wegen eines in den Richtlinien ausgewiesenen Merkmals. MaW: Frau Milkova wird benachteiligt, diskriminiert wird sie nicht. Denn ihre Benachteiligung geschieht nicht in Abhängigkeit von ihrer Schwerbehinderung, sondern von ihrem Beamtenstatus. Der Schutz des Diskriminierungsrechts kam Frau Milkova also nicht zugute. Der EuGH beließ es allerdings – anders als etwa die Generalanwältin* – nicht bei diesem Ergebnis.
Die Benachteiligung von Frau Milkova ist dem EuGH zufolge immerhin an den Vorgaben des Europäischen Gleichbehandlungsgrundsatzes zu messen.* Das konnte der Gerichtshof so entscheiden, weil es sich bei der Anhörung der Arbeitsinspektion um eine sogenannte positive Maßnahme zugunsten behinderter Menschen handelt. Denn sie bezweckt, eine Kündigung, die auf der Behinderung basiert, zu verhindern.* Weil positive Maßnahmen auch in der Gleichbehandlungsrahmen-RL* verankert sind, liegt die bulgarische Regelung zur Beteiligung der Arbeitsinspektion im Anwendungsbereich des Unionsrechts. Deshalb konnte der EuGH „seinen“ Gleichheitssatz, also Art20 GRC, anwenden und gegenüber den bulgarischen Gerichten dessen Einhaltung anmahnen.*
Neben dieser merkmalexternen Subgruppenbildung, die anhand eines außerhalb des Diskriminierungsrechts stehenden Merkmals vorgenommen wird, lässt sich eine Subgruppe auch anhand eines diskriminierungsrechtlich relevanten Merkmals bilden. Im Fall Szpital Kliniczny* kam es zu einer Subgruppenbildung anhand des Merkmals der Behinderung – dh hierin lag auch der diskriminierungsrechtlich relevante Anknüpfungspunkt. Als „merkmalintern“ lässt sich diese Subgruppenbildung auch deswegen bezeichnen, weil auch die Obergruppe durch das Merkmal der Behinderung gebildet wird.
Der EuGH hatte damit über einen außergewöhnlichen Sachverhalt zu entscheiden, der, wie schon derjenige in Sachen Milkova, die Funktionsweise des europäischen Diskriminierungsrechts gut veranschaulicht.
Die Parteien stritten über einen Zuschlag zum Arbeitsentgelt. Die Kl war bei der Krakauer Klinik, nach der das Urteil benannt ist, als Psychologin beschäftigt. Im Dezember 2011 erhielt sie eine Bescheinigung über die Anerkennung einer Behinderung. Diese übermittelte sie ihrem AG noch im selben Monat.
Im Jahr 2013 entschied das Krankenhaus nach einer Personalversammlung, denjenigen AN, die nach diesem Treffen eine Bescheinigung über die Anerkennung einer Behinderung einreichten, einen monatlichen Zuschlag in Höhe von 250 polnischen Zloty (damals ca € 60,–) zum Arbeitsentgelt zu zahlen. Ziel dieser Maßnahme war die Verringerung der Beiträge, die das Krankenhaus an den Staatsfonds für die Rehabilitation von Menschen mit Behinderungen zahlen musste. In Polen existiert ein Mechanismus, der mit dem der Ausgleichstaxe in §§ 9 ff BEinstG vergleichbar ist. AG, die zu wenig behinderte AN beschäftigen, müssen Beiträge an 450 den Staatsfonds entrichten. Nachdem 13 AN ihre Bescheinigung eingereicht hatten, bekamen sie den vom AG ausgelobten Zuschlag. Die Kl bekam ihn nicht, da sie ihre Bescheinigung bereits vor dem Stichtag vorgelegt hatte.
Diesmal kommt es zu einer merkmalinternen Subgruppenbildung, weil allein die behinderten AN von der Stichtagsregelung des AG betroffen sind. Zu vergleichen sind hier einerseits die Gruppe der Kl, dh der behinderten AN, die ihre Bescheinigung vor dem Stichtag abgaben, und die Gruppe der behinderten AN, die ihre Bescheinigung nach dem Stichtag abgaben und nur deshalb einen Zuschuss erhielten.
Vergleicht man die Kl hier mit den nicht behinderten AN, dann fehlt es an der Benachteiligung. Diese AN bekommen auch keinen Zuschuss, weil es an der Behinderung fehlt – eben wie im Fall Milkova, bei den nicht behinderten Beamten die Arbeitsinspektion auch nicht angehört wird.
Wenn es um die Feststellung einer Diskriminierung geht, reicht allein dieser Vergleich zur Beurteilung der Schlechterstellung nicht aus. Das zeigt bereits die Analyse des Milkova-Judikats. Für eine Diskriminierung war entscheidend, dass die Benachteiligung an einem diskriminierungsrelevanten Merkmal anknüpft. Die Ungleichbehandlung, die mit der stichtagsversehenen Vorlage des Behinderungsnachweises einherging, musste wegen einer Behinderung geschehen.
Die Frage des Falles war also: Können behinderte AN gegenüber behinderten AN wegen einer Behinderung benachteiligt werden? Der EuGH konnte diese Frage hier bejahen und bei Frau Milkova die Diskriminierung verneinen, weil er erstens die zentrale Bedeutung des Anknüpfungspunktes betont und zweitens demgegenüber nicht notwendigerweise eine Vergleichsperson fordert, die nicht der Gruppe der Merkmalsträger angehört.
Die zentrale Bedeutung des Anknüpfungspunktes gegenüber der Vergleichsgruppe hat der EuGH zuvor bereits im Coleman-Urteil* festgehalten, als er entschied, dass Frau Coleman wegen einer Behinderung diskriminiert werden kann, obwohl nicht sie, sondern ihr Kind über eine Behinderung verfügte.* Damals wie heute hält der EuGH fest, dass der in der Gleichbehandlungsrahmen-RL verankerte Gleichbehandlungsgrundsatz nicht für eine bestimmte Kategorie von Personen gelte, sondern in Abhängigkeit von den in ihrem Art1 genannten, abschließend aufgezählten Gründen.* Dass diese Abhängigkeit hier vorlag, war für den EuGH selbstverständlich. Der Gerichtshof hält auch eine unmittelbare Benachteiligung für möglich* und ist dafür – zu Unrecht – kritisiert worden.*
Allgemein gilt, dass in Fällen, in denen die diskriminierende Maßnahme nicht direkt auf einem Diskriminierungsmerkmal beruht, zunächst eine mittelbare Benachteiligung naheliegt, die ja gerade auf dem Anschein nach neutralen Vorschriften, Kriterien oder Verfahren basiert, vgl § 5 Abs 2; § 19 Abs 2; § 32 Abs 2 GlBG sowie § 7c Abs 2 BEinstG. Demgegenüber bejaht der EuGH eine unmittelbare Benachteiligung dann, wenn diese auf einem Umstand beruht, der untrennbar mit dem Diskriminierungsmerkmal verbunden ist.* Dann fehlt es wohl schon am Anschein der Neutralität. Wer eine Schwangere benachteiligt, diskriminiert unmittelbar wegen des Geschlechts.* Wer Rollstuhlfahrer benachteiligt, diskriminiert unmittelbar wegen der Behinderung.* Warum sollte das anders zu beurteilen sein, wenn nicht der „Normalfall“ einer merkmalexternen Vergleichsperson, dh von jemandem, der das Merkmal nicht trägt, sondern eine merkmalinterne Vergleichsbildung vorgenommen wird? Man kann eine schwangere Bewerberin auch benachteiligen, wenn sich nur Frauen beworben haben.* Der gelähmte Rollstuhlfahrer kann auch dann unmittelbar wegen Behinderung benachteiligt werden, wenn sich die Maßnahme – wie die Stichtagsregelung im Fall Szpital Kliniczny – nur an behinderte Menschen richtet. Voraussetzung ist, dass die Stichtagsregelung untrennbar mit der Behinderung verbunden ist. Wenn das der Fall ist, der Gerichtshof tendierte dazu, überließ die Entscheidung aber letztlich dem nationalen Gericht,* dann wurde die Kl unmittelbar benachteiligt – andernfalls mittelbar.
Die Bedeutung eben dieses Anknüpfungspunktes wird beim Blick auf die Vergleichsgruppe deutlich. Diese unterscheidet sich gar nicht von der im Fall Milkova. Dort wie hier vergleichen wir mit anderen schwerbehinderten AN. Die Fälle unterscheiden sich jedoch darin, dass diesmal eine diskriminierungsrechtlich relevante Anknüpfung vorliegt, an der es im Fall Milkova noch fehlte.
Im Fall Szpital Kliniczny hält der EuGH explizit fest, dass das mit der Gleichbehandlungsrahmen- 451 RL verfolgte Ziel dafürspräche, Art2 Abs 1 und 2 dieser RL dahin auszulegen, dass durch sie der Kreis der Personen, gegenüber denen ein Vergleich zur Feststellung einer Diskriminierung wegen einer Behinderung iS dieser RL vorgenommen werden könne, nicht beschränkt sei auf Personen ohne Behinderung.*
Der EuGH formuliert an dieser Stelle erstmals das, was er zuvor bereits zur früheren Karfreitagsregelung in Österreich entschieden hat.* Seinerzeit wurden ein Feiertag sowie die Feiertagsvergütung nur AN zuerkannt, die Mitglieder bestimmter christlicher Kirchen waren. Der EuGH ging schon damals davon aus, dass eine Diskriminierung auch dann möglich sei, wenn Angehörige bestimmter Kirchen anders als die Angehörigen anderer Kirchen behandelt werden.*
Die Feststellung des EuGH aus dem Fall Szpital Kliniczny, der zufolge der Vergleich nicht auf Personen beschränkt sei, die keine Behinderung aufweisen, bedeutet: Schwangere können gegenüber Frauen wegen ihrer Schwangerschaft benachteiligt werden. Rollstuhlfahrer können wegen ihrer Lähmung gegenüber behinderten Menschen benachteiligt werden.
Wenn man jetzt die Bedeutung des Anknüpfungspunktes für die Fälle der Subgruppenbildung zugrunde legt und die intersektionale Benachteiligung als einen weiteren Fall der Subgruppenbildung begreift, dann lässt sich aufzeigen, warum diese entgegen anderen Stimmen in der Literatur* nicht als Anwendungsfall des Antidiskriminierungsrechts einzuordnen ist und auch nicht eingeordnet werden sollte.
Der Begriff der Intersektionalität bzw der intersektionalen Diskriminierung stammt vom englischen Wort für Kreuzung, intersection.* Die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw hat den Begriff in einem 1989 publizierten Beitrag geprägt.* Vor dem Hintergrund der besonderen Betroffenheit von schwarzen Frauen hat Crenshaw für deren Diskriminierung das Bild der Kreuzung gewählt. Steht das Opfer auf der Kreuzung, dann kann der Schaden, dh die Diskriminierung, von einem Auto, das aus einer Richtung kommt, verursacht werden, das Opfer kann aber auch von zwei Autos gleichzeitig getroffen werden. Darin liegt das Besondere der intersektionalen Diskriminierung: Die relevante Benachteiligung knüpft im Fall der intersektionalen Benachteiligung nicht an eine oder mehrere Kategorien additiv oder kumulativ* an, sondern erst und nur an das Zusammentreffen mehrerer Kategorien.* Dh: Nur beide Autos zusammen verursachen einen Schaden – jedes alleine würde keine diskriminierungsrechtliche Relevanz entfalten.
Wird demgegenüber durch jedes Fahrzeug ein Schaden in diskriminierungsrechtlicher Hinsicht verursacht, dann liegt ein Fall der sogenannten additiven Diskriminierung vor, der unkomplizierter zu lösen ist, weil jede einzelne Benachteiligung vor dem Hintergrund, der für das jeweilige Merkmal geltenden Anforderungen gerechtfertigt werden muss.*
Auch die kumulative oder verstärkende Diskriminierung wird durch das geltende Diskriminierungsrecht erfasst. Hierbei wird eine Person aus einem oder mehreren Gründen gleichzeitig diskriminiert, dabei wird die Diskriminierung aus einem Grund, die an sich schon die für eine Diskriminierung notwendige Intensität erreicht, durch einen weiteren Grund verstärkt. Wie bei der additiven Benachteiligung sind auch hier die einzelnen Benachteiligungen vor dem Hintergrund der jeweils geltenden Rechtfertigungsanforderungen zu prüfen.* Diese Diskriminierungen sind mehrdimensional, weil jeweils mehrere Benachteiligungsgründe zusammentreten.* Das gilt nicht für die intersektionale Diskriminierung. Sie ist eindimensional, beruht nämlich auf einem Grund, der sich lediglich aus zwei Kategorien zusammensetzt.* Um im Bild der Kreuzung zu bleiben: In den Fällen der mehrdimensionalen Diskriminierung wird das Opfer mehrfach getroffen, dh zB bei der additiven Benachteiligung von zwei Fahrzeugen nacheinander. Im Fall der intersektionalen Diskriminierung wird das Opfer demgegenüber nur einmal erfasst, allerdings von zwei Autos gleichzeitig.
Ein solcher, seltener Sachverhalt lag der E des EuGH in Sachen Parris zugrunde, der sich auch als ein Fall doppelter Subgruppenbildung bezeichnen lässt.
Der Parris-E des EuGH* lag ein Fall zugrunde, in dem der Lebenspartner eines Dozenten am 452 Trinity College Dublin keine Hinterbliebenenrente erhalten sollte, weil er die Lebenspartnerschaft erst nach Vollendung des 60. Lebensjahres eingegangen war und es damit an einer in den Regularien der Betriebsrente enthaltenen Voraussetzung fehlte. Herr Parris, der Dozent, machte geltend, er sei im Jahr 2010, als die eingetragene Lebenspartnerschaft in Irland eingeführt wurde, schon über 60 Jahre alt gewesen und habe die Voraussetzung deshalb nicht erfüllen können.
Diese Subgruppenbildung unterscheidet sich von den vorherigen. Auf den ersten Blick könnte auch die Gruppenbildung anhand eines diskriminierungsrelevanten Merkmals geschehen. Also in der Weise, dass Herr Parris als homosexueller Mann wegen seines Alters oder als alter Mann wegen seiner Homosexualität benachteiligt wird. So verstanden läge allerdings eine „normale“ Diskriminierung wegen des Alters oder wegen seiner Homosexualität vor. Für die intersektionale Diskriminierung ist wichtig, dass beide Faktoren die Subgruppe bilden, nicht einer allein.
So war die Situation im Fall Parris: Dieser wurde weder allein wegen seiner Homosexualität noch allein wegen seines Alters benachteiligt. Eine Benachteiligung ergibt sich erst, wenn man an das Alter und die sexuelle Orientierung anknüpft.
Es ist keine Frage der Vergleichsgruppe, wie man zuerst vermutet, wenn zB von einer Regelung „ältere homosexuelle Menschen“ oder, so die ersten Fälle der intersektionalen Diskriminierung in den USA, schwarze Frauen betroffen sind.
Wenn man diese Gruppe als besonders betroffen im Vergleich zu solchen Personen identifiziert, die ein bzw kein Merkmal aufweisen, ist damit in sozialwissenschaftlicher Hinsicht viel gesagt. Das bedeutet aber noch keine Einschlägigkeit des europäischen Antidiskriminierungsrechts, im Gegenteil.*
Auch und besonders im Vergleich mit den anderen Fällen sprechen vier Gründe gegen eine Einordnung der intersektionalen Diskriminierung als Anwendungsfall des europäischen Diskriminierungsrechts.
Die systematische Stellung der Vorschriften in der GRC deutet es an. Nach der allgemeinen Aussage des Art 20 GRC, „Alle Personen sind vor dem Gesetz gleich“, folgt in der spezielleren Vorschrift des Art 21 GRC die Herausnahme einzelner, spezieller und mit einem besonderen Unwert versehener Ungleichbehandlungen.* In diesen Situationen unterliegt der Diskriminierende jedenfalls gesteigerten Begründungspflichten oder stößt an zT unüberwindbare Rechtfertigungsgrenzen. Dieses Verhältnis und die Funktionsweise wurden im Fall Milkova besonders deutlich. Das bedeutet umgekehrt aber auch, dass am Ende des besonderen Diskriminierungsrechts nicht die Rechtlosigkeit beginnt. Denn dort gilt der allgemeine Gleichheitssatz, sei es – wie im Fall Milkova – der europäische Gleichheitssatz aus Art 20 GRC, sei es, wie im Fall Parris, der irische Gleichbehandlungsgrundsatz, der in der dortigen Verfassung verankert ist.*
Wenn man den Opfern einer intersektionalen Diskriminierung also den Schutz des besonderen Diskriminierungsrechts verwehrt, dann entlässt man sie nicht in die Recht- und Schutzlosigkeit. Ihre Fälle sind dann lediglich an den Maßstäben des allgemeinen Gleichheitssatzes zu messen, weil es an der notwendigen Anknüpfung an ein spezielles Diskriminierungsmerkmal fehlt.
Dass vergleichbare Sachverhalte gleich zu behandeln sind, ist schon die Grundidee des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes.* Der besondere Unwert drückt sich aber in der Anknüpfung an ein Merkmal aus, das die einzelne Person – wenn überhaupt – nur unter Schwierigkeiten ändern kann.* Diese Anknüpfung, das zeigte auch die vorangegangene Fallanalyse, stellt die Besonderheit dar, die eine spezielle gesetzliche Reaktion in Form des Antidiskriminierungsrechts rechtfertigt. Bei einer Anknüpfung an zwei oder mehr Merkmale gleichzeitig, die erst gemeinsam das Niveau einer Diskriminierung erreichen, wird dieser Unwert nicht verstärkt, sondern er verliert seine Konturen.
Das wird deutlich, wenn man sich folgendes – zugegebenermaßen überzeichnetes – Beispiel vor Augen führt:
Bei der Besetzung einer Stelle beschließt der AG mit Blick auf seine Belegschaft neben den Fragen der Qualifikation, Vorerfahrung etc ein weiteres Auswahlkriterium. Bewerber/innen, die – sofern erkennbar* – männlich, weiß, evangelisch, deutschsprachig, heterosexuell und über 50 Jahre alt sind, werden nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen. Alle Bewerber/innen, die in nur einem Kriterium abweichen, werden eingeladen. Nicht eingeladen werden nur diejenigen, die alle Kriterien erfüllen. Werden diese Bewerber/innen iSd 453 europäischen Antidiskriminierungsrechts diskriminiert? Wo beginnt der Unwert, der die Diskriminierung ausmacht? Das Beispiel zeigt: Der Unwert wird nicht größer, wenn es mehrerer Diskriminierungsmerkmale bedarf, um die Schwelle der Benachteiligung zu nehmen. Der Unwert steigt nicht, er nimmt ab. Das spricht gegen die Verankerung der intersektionalen Diskriminierung im besonderen Gleichbehandlungsrecht.
Das Diskriminierungsrecht trägt den Wunsch nach der eigenen Überflüssigkeit in sich. Es ist nicht geschaffen worden mit dem Ziel, möglichst häufig zur Anwendung zu kommen, sondern eher mit dem frommen Wunsch, generalpräventiv so auf die Gesellschaft zu wirken, dass – theoretisch – irgendwann die Notwendigkeit eines Diskriminierungsrechts entfällt.
Dass die intersektionale Benachteiligung vom geltenden Recht nicht erfasst wird, ist damit auf den ersten Blick Wasser auf die Mühlen derjenigen, die das bestehende Recht in Richtung eines „postkategorialen Diskriminierungsschutzes“ weiterentwickeln wollen.* Der Umstand, dass die bisherige Systematik die Fälle der intersektionalen Diskriminierung nicht erfasst, wird als ein Anlass für diese Weiterentwicklung gesehen.*
Mit der generalpräventiven Wirkung des Diskriminierungsrechts ist die Forderung nach einer Rechtserneuerung nicht zu begründen. Denn eine gesellschaftliche Wirkung verlangt eine klare gesetzliche Aussage. Die wird eher erreicht, wenn das besondere Diskriminierungsrecht auf die Fälle beschränkt ist, die klar an ein Merkmal anknüpfen. Das zeigt sich auch daran, dass in den Fällen der intersektionalen Benachteiligung die Anknüpfung häufig mittelbar, vermutlich sogar unbewusst, geschieht. Dann kann das Gesetz aber seine generalpräventive Funktion ohnehin nicht entfalten, wenn derjenige, der diskriminiert, sich seines Handelns nicht bewusst ist.
Der wohl berühmteste Fall der sektionalen Diskriminierung, der Sachverhalt der E de Graffenreid vs. General Motors,* veranschaulicht das Gesagte. Von einer Massenentlassung waren dort vor allem schwarze Frauen betroffen. Das lag aber nicht daran, dass diesen gezielt durch den AG gekündigt worden war. Ihre Betroffenheit ergab sich vielmehr aus dem zur Auswahl der zu kündigenden AN angewandten Prinzip „last hired – first fired“. Unbewusste Benachteiligungen können den Diskriminierungstatbestand ebenso erfüllen wie bewusste. Nur ist diesen nicht durch Maßnahmen der Generalprävention zu begegnen.
Eine Anerkennung im bestehenden System würde zudem erhebliche Probleme bei der praktischen Handhabbarkeit mit sich bringen. Schon aktuell werden zB die Fälle des Kopftuchverbots als solche der intersektionalen Benachteiligung diskutiert,* obwohl das – unabhängig von der konkreten Fallgestaltung – nicht der Fall ist.* Entweder betrifft das Verbot ohnehin beide Geschlechter – wie in den zuletzt vom EuGH entschiedenen Fällen* – oder es handelt sich um eine additive Diskriminierung, weil sowohl die Anknüpfung an das Geschlecht als auch an die Religion für sich gesehen eine Diskriminierung darstellen.
Es gibt gute Gründe, den Diskriminierungsschutz auszuweiten oder zu intensivieren. Die Union ist zB seit jeher der Auffassung, dass die Entgeltungleichheit, die ihrem Wesen nach eine Ungleichbehandlung wegen des Geschlechts ist, eine besondere Aufmerksamkeit verdient – Art 157 AEUV und der aktuell diskutierte Richtlinienentwurf* geben hier Zeugnis.
Das gilt aber nicht für die intersektionale Diskriminierung – weder de lege lata noch de lege ferenda. De lege lata sollte die intersektionale Diskriminierung nicht als ein Fall der Mehrfachdiskriminierung iSd §§ 12 Abs 13, 26 Abs 13 GlBG bzw § 7o des BEinstG verstanden werden. De lege ferenda sollte diesem sozialwissenschaftlichen Phänomen mit konkreten Maßnahmen begegnet werden, die an der Ursache der jeweiligen Diskriminierung ansetzen. Das Antidiskriminierungsrecht ist kein taugliches Mittel, um diesem Phänomen zu begegnen. 454