Kinderbetreuungsgeld und Unionsrecht*
Kinderbetreuungsgeld und Unionsrecht*
Einleitung
Problemfelder des Kinderbetreuungsgeldes
Tatsächlicher Bezug in eigener Person
Problemaufriss und Meinungsstand
Analyse
Gemeinsamer Haushalt und Hauptwohnsitzmeldung
Problemaufriss und Meinungsstand
Analyse
Mutter-Kind-Pass-Untersuchung im Ausland
Problemaufriss und Meinungsstand
Analyse
Erwerbstätigkeit und gleichgestellte Situation
Problemaufriss und Meinungsstand
Begriffsverständnis auf europäischer Ebene
Begriffsverständnis auf nationaler Ebene
Zeitliche Beschränkung der Gleichstellung von Karenzzeiten
Problemaufriss und Meinungsstand
Analyse
Ruhen und Anrechnung ausländischer Leistungen
Problemaufriss und Meinungsstand
Zweipersonenverhältnis
Mehrpersonenverhältnis
Berechnung des Differenzbetrags bei unterschiedlichen Bezugszeiträumen
Problemaufriss und Meinungsstand
Analyse
Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse
Die Vereinbarkeit des KBGG mit dem Unionsrecht beschäftigt die Forschung sowie die Praxis seit Längerem. In den Jahren 2019 und 2020 betraf fast ein Drittel aller Fälle des 10. Senats des OGH Bestimmungen des KBGG oder den Familienzeitbonus.* Im ersten Halbjahr des Jahres 2023 erging eine Weisung aus dem Bundesministerium für Frauen, Familie, Integration und Medien (BMFFIM) an die Österreichische Gesundheitskasse (ÖGK), welche dazu führte, dass rund 1.500 Grenzgänger:innen in Vorarlberg seit Februar kein Kinderbetreuungsgeld mehr erhielten.* Obgleich diese Weisung mittlerweile wieder aufgehoben wurde und das zurückbehaltene Kinderbetreuungsgeld in gewissen Fällen nun rückwirkend ausbezahlt wird, zeigt sie, dass noch immer Unklarheit hinsichtlich der Anspruchsvoraussetzungen, vor allem in grenzüberschreitenden Fällen, herrscht.
Dieser Beitrag analysiert jene Regelungen im KBGG, welche in einem Spannungsverhältnis zum Unionsrecht stehen. Auswirkungen auf das nationale Sozialrecht haben auf primärrechtlicher Ebene insb die Grundfreiheiten, allen voran Art 45 AEUV, und auf sekundärrechtlicher Ebene die VO 883/2004 (Koordinierungs-VO) als zentrale Rechtsgrundlage des europäischen Sozialrechts.*3
§ 2 Abs 7 KBGG determiniert, dass „bei getrennt lebenden Eltern [...] der antragstellende Elternteil, der mit dem Kind im gemeinsamen Haushalt lebt, obsorgeberechtigt sein und die Anspruchsvoraussetzung nach Abs 1 Z 1 in eigener Person erfüllen [muss]
“.* § 2 Abs 1 Z 1 KBGG verlangt, dass „für dieses Kind Anspruch auf Familienbeihilfe nach dem Familienlastenausgleichsgesetz 1967, BGBl. Nr. 376, besteht und Familienbeihilfe für dieses Kind tatsächlich bezogen wird
“.* In der Praxis kann nun die Konstellation auftreten, dass ein Elternteil in Österreich zwar grundsätzlich einen Anspruch auf Familienbeihilfe hat, dieser jedoch rechnerisch 0 € beträgt, weil er mit der ausländischen, der Familienbeihilfe vergleichbaren Leistung des anderen Elternteils gem §§ 4 Abs 3, 5 Abs 4 FLAG bzw Art 68 Koordinierungs-VO gegenzurechnen ist.* In diesen Fällen ist es fraglich, ob der tatsächliche Bezug der Familienbeihilfe in eigener Person als erfüllt anzusehen ist. Festzustellen ist, ob das grundsätzliche Bestehen des Anspruchs ausreichend ist oder nicht. Es bedarf daher einer Interpretation der gegenständlichen Bestimmungen.
Für das tiefergreifende Verständnis ist zunächst ein Blick auf die Genese notwendig. Zu beachten ist, dass Angelegenheiten betreffend die Familienbeihilfe den Finanzbehörden obliegen, während Streitigkeiten über das Kinderbetreuungsgeld vor den ordentlichen Gerichten ausgetragen werden. Es kam daher vor, dass die Arbeits- und Sozialgerichte in Verfahren zum Kinderbetreuungsgeld auch die Anspruchsvoraussetzungen zur Familienbeihilfe selbst prüften. Der Gesetzgeber führte mit der Novelle BGBl I 2007/76daraufhin die Voraussetzung des tatsächlichen Bezugs ein. Es sollte zum Ausdruck gebracht werden, dass die ordentlichen Gerichte hinsichtlich der Familienbeihilfe an die Ausführungen der Finanzbehörden gebunden sind, um zu verhindern, dass die verschiedenen Stellen in den gleichen Angelegenheiten zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen.* Im Zuge dieser Novelle fiel jedoch die ausdrückliche Klarstellung weg, dass die Voraussetzung des Bezugs der Familienbeihilfe auch erfüllt sein soll, wenn dieser „nur deswegen nicht besteht, weil Anspruch auf eine gleichartige ausländische Leistung besteht
“.*
In der Praxis wurde die Voraussetzung des § 2 Abs 1 Z 1 KBGG in Folge jedoch nicht als erfüllt angesehen, wenn der Anspruch auf Familienbeihilfe zwar besteht, jedoch aufgrund der Anrechnung mit einer ausländischen Leistung rechnerisch 0 € beträgt und bloß der Kinderabsetzbetrag ausbezahlt wurde. Den betroffenen Personen wurde das Kinderbetreuungsgeld von den zuständigen Stellen mit dieser Begründung verwehrt.*
Der OGH sprach wiederholt aus, dass das grundsätzliche Bestehen des Anspruchs auf Familienbeihilfe mit der bloßen Auszahlung des Kinderabsetzbetrags auch den novellierten § 2 Abs 1 Z 1 KBGG erfülle.* Der Kinderabsetzbetrag sei immerhin an den Bezug der Familienbeihilfe gebunden und habe den wirtschaftlichen Charakter eines Zuschlags. Der Umstand, dass die eine Leistung im EStG* und die andere im FLAG geregelt sei, resultiere aus Gedanken des Finanzausgleichs. Die Mittel für die Familienbeihilfe werden dem Familienlastenausgleichsfonds entnommen, während der Kinderabsetzbetrag das Steueraufkommen kürzt und in weiterer Folge zu Lasten der Gebietskörperschaften geht.* Beide genannten Leistungen erfüllen jedoch laut dem Gesetzgeber dieselbe Funktion.* In seiner Folgerechtsprechung stellt der OGH klar, dass § 2 Abs 1 Z 1 KBGG auch dann erfüllt ist, wenn kein Kinderabsetzbetrag ausbezahlt werde. Ausreichend sei das grundsätzliche Bestehen des Anspruchs. Dies ergäbe sich aus dem Unionsrecht.*
Einschlägig sind insb die Art 5 und 68 der Koordinierungs-VO sowie Art 60 der Durchführungs-VO. Art 5 Koordinierungs-VO beinhaltet eine allgemeine Gleichstellung von Leistungen und Sachverhalten. Werden gem dem nationalen Recht eines Staats durch den Bezug von Leistungen Rechtswirkungen ausgelöst, muss dies gem Art 5 lit b Koordinierungs-VO auch für den Bezug von gleichartigen, ausländischen Leistungen gelten. Diese Bestimmung gilt nur subsidiär zu etwaigen Sonderregelungen. * Übertragen auf die gegenständliche Problematik bedeutet dies Folgendes: Setzt der Bezug des Kinderbetreuungsgeldes den Bezug der Familienbeihilfe voraus, erfüllt auch der Bezug einer der Familienbeihilfe gleichartigen, ausländischen Leistung diese Voraussetzung.
Art 68 Koordinierungs-VO kommt zum Zug, wenn beide Elternteile zur gleichen Zeit gleichartige Leistungen aus verschiedenen Staaten beziehen. Er dient der Verhinderung von Doppelleistungen. 4
Dieses Ziel wird erfüllt, indem ein primär zuständiger Staat bestimmt wird, welcher die Leistung voll auszahlt, welche daraufhin im nachrangig zuständigen Staat angerechnet wird. Damit Art 68 Koordinierungs-VO überhaupt zur Anwendung gelangen kann, bedarf es des Vorliegens zweier gleichartiger Leistungen, ansonsten lägen ja keine Doppelleistungen vor. Dieser Bestimmung ist es somit inhärent, dass die anzurechnende, ausländische Leistung durch den anderen Elternteil bezogen wird.* Dieser Umstand wird auch durch die in Art 60 Durchführungs-VO determinierte Familienbetrachtungsweise untermauert.*
Zusammenfassend sind § 2 Abs 1 Z 1 und Abs 7 KBGG im Einklang mit Art 5 und 68 Koordinierungs-VO sowie Art 60 Durchführungs-VO auszulegen. Aus diesen Bestimmungen ergibt sich, dass der Bezug einer ausländischen, gleichartigen Leistung dem Bezug der Familienbeihilfe gleichzuhalten ist. Ansonsten läge eine Diskriminierung vor. Das Kriterium des Bezugs in eigener Person ist auch erfüllt, wenn die ausländische Leistung durch den anderen Elternteil bezogen wird, insofern der eigene Anspruch in Österreich dem Grunde nach besteht.
Gem § 2 Abs 1 Z 2 KBGG müssen die Eltern mit dem Kind im gemeinsamen Haushalt leben. ISd § 2 Abs 6 KBGG ist der gemeinsame Haushalt die dauerhafte Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft an derselben Wohnadresse, falls der Elternteil und das Kind dort leben und den Hauptwohnsitz dort gemeldet haben. Das formale Element der Hauptwohnsitzmeldung könnte in zweierlei Hinsicht unionsrechtlich problematisch sein. Einerseits werden in der Literatur Bedenken betreffend die Definition des Wohnorts iSd Art 11 Durchführungs-VO vorgebracht. Andererseits liegt ein Verstoß gegen die Definition des gemeinsamen Haushalts in Art 1 lit i Z 3 Koordinierungs-VO nahe.*
Die erste ins Treffen geführte Bestimmung ist Art 11 Durchführungs-VO. Er bezieht sich auf den Fall, dass zwischen zwei Trägern Uneinigkeit besteht, in welchem dieser beiden Staaten der Wohnort liegt und welcher dieser Staaten in weiterer Folge als Wohnortstaat iSd Kollisionsbestimmungen behandelt wird. ME widerspricht das Kriterium des gemeinsamen Haushalts im KBGG der Definition des Art 11 Durchführungs-VO nicht. Im KBGG geht es darum, dass der das Kinderbetreuungsgeld beziehende Elternteil und das Kind im gemeinsamen Haushalt leben. Obgleich die Kriterien des gemeinsamen Haushalts von Kind und der anspruchsberechtigten Person und der Wohnort* in einem engen Verhältnis zueinander stehen, handelt es sich um voneinander getrennte Gesichtspunkte. Im Zuge der Feststellung, wo der Wohnort iSd VO liegt, geht es nicht um den konkreten Haushalt, sondern darum, in welchem Mitgliedstaat der Wohnort liegt. Beim Kriterium des gemeinsamen Haushalts iSd KBGG ist hingegen ausschlaggebend, dass der Elternteil und das Kind in einer Wohngemeinschaft im selben Haus bzw in derselben Wohnung wohnen. Sinn und Zweck beider Definitionen unterscheiden sich somit. Die österreichische Definition des gemeinsamen Haushalts steht somit meiner Meinung nach nicht im Widerspruch zur europäischen Zweifelsregel des Art 11 Durchführungs-VO.*
Art 1 lit i Z 1 lit i Koordinierungs-VO verweist bei der Definition des Begriffs der Haushaltsangehörigen auf das jeweilige nationale Recht. Z 3 relativiert diese Freiheit der Begriffsbestimmung. Erkennt ein Staat nur solche Personen als Haushaltsangehörige an, die in häuslicher Gemeinschaft leben, „so gilt diese Voraussetzung als erfüllt, wenn der Unterhalt der betreffenden Person überwiegend von dem Versicherten oder dem Rentner bestritten wird
“.* Teile der Lehre sprechen sich nun implizit dafür aus, diese Gleichstellung generell auf nationale Voraussetzungen für Ansprüche zu erweitern.* Obgleich dies zu einer beträchtlichen Ausweitung der Definition führen würde, sprechen mE dennoch triftige Gründe für diese Ansicht.
Das Kriterium der Hauptwohnsitzmeldung des § 2 Abs 6 KBGG erweist sich nämlich als unionsrechtlich problematisch. Zweck des Art 1 lit i Z 3 ist es wohl, dass Personen nicht als Familienangehörige und in weiterer Folge als Anspruchsberechtigte ausgeschlossen werden sollen, wenn diese zwar nicht im gemeinsamen Haushalt mit dem Kind leben, allerdings für dessen Unterhalt aufkommen. Grundsätzlich sind es die Eltern und somit Familienangehörige, denen ein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld zukommt. Das Kinderbetreuungsgeld verfolgt den Zweck, finanzielle Lasten von Eltern kleiner Kinder zu verringern. Finanziell belastet ist nicht nur jener Elternteil, der mit dem Kind im gemeinsamen Haushalt wohnt, sondern auch jener, der unterhaltspflichtig ist. Die Definition des § 2 Abs 6 KBGG verstößt daher gegen die Vorgaben des Art 1 lit i Z 3 Koordinierungs-VO.*
Eine unionsrechtskonforme Interpretation des § 2 Abs 6 KBGG ist mE nicht möglich. Der Grund liegt in der Verwendung des Wortes „nur“: „Ein gemeinsamer Haushalt im Sinne dieses Gesetzes liegt nur dann vor, wenn [...].“
* Der Wortlaut im 5
österreichischen Recht stellt, anders als im europäischen, eine harte Auslegungsgrenze dar.* Es ist daher nicht möglich, die Hauptwohnsitzmeldung als Alternativvoraussetzung einzustufen. Dies würde eine Auslegung contra legem darstellen. Das Kriterium hat in weiterer Folge unangewendet zu bleiben. Das Kriterium des gemeinsamen Haushalts iSd Art 1 lit i Z 3 Koordinierungs-VO wird daher auch dann erfüllt, wenn die versicherte Person den Unterhalt des Kindes überwiegend bestreitet.*
§ 7 KBGG knüpft den vollen Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld an die Durchführung der Mutter-Kind-Pass-Untersuchung. Wird diese nicht durchgeführt, kommt es zur Kürzung. Nun ist es für Personen, die nicht in Österreich wohnen, natürlich umständlich, die österreichische Mutter-Kind-Pass-Untersuchung durchführen zu lassen. Es ist daher fraglich, ob diese Voraussetzung mit dem Unionsrecht vereinbar ist.
Der OGH hat sich mit diesem Fall bereits befasst. Es verstoße gegen das Diskriminierungsverbot des Art 4 Koordinierungs-VO, die Durchführung der Mutter-Kind-Pass-Untersuchung auch von im Ausland lebenden Personen zu verlangen. Dieses Kriterium sei nämlich von in Österreich wohnenden Personen leichter zu erfüllen. Für Wander-AN sei es umständlich bzw nahezu unmöglich, sich nach Österreich zu begeben, um die notwendigen Untersuchungen durchzuführen. Somit liege eine mittelbare Diskriminierung von Wander-AN vor. Diese könne auch nicht gerechtfertigt werden.*
Die österreichischen Regelungen müssten daher unionsrechtskonform ausgelegt werden. Der OGH löst diese Problematik wie folgt: Gibt es im Wohnortstaat ein mit dem österreichischen vergleichbares System der Mutter-Kind-Pass-Untersuchung, müssen die betroffenen Personen die Untersuchungen dort durchführen lassen, um einer Anspruchskürzung zu entgehen. Auf Basis der Rsp des EuGH* dürfen jedoch nicht zu hohe Anforderungen an die Vergleichbarkeit gestellt werden, völlige Gleichheit sei nicht notwendig. Dies ergäbe sich aus der Sachverhaltsgleichstellung des Art 5 Koordinierungs-VO. ZB sei das deutsche System des Mutterpasses und des Kinderheftes als vergleichbar einzustufen.*
Gibt es hingegen kein vergleichbares System, müsse laut OLG Wien geprüft werden, ob es den Anspruchsberechtigten zumutbar sei, die Untersuchungen dennoch in Österreich durchführen zu lassen. Sobald ein Sachleistungsanspruch der KV bestehe, sei dies der Fall.*
Jüngst hatte sich der OGH mit der Problematik zu beschäftigen, dass das deutsche Recht im Gegensatz zum österreichischen Recht keine Nachweispflicht der erfolgten vergleichbaren Untersuchungen beinhaltet. Die Kl verabsäumte es, die Nachweise für die letzten notwendigen Untersuchungen zu erbringen. Der OGH führte aus, dass das österreichische Recht anwendbar sei und sie somit gegen die Nachweispflicht gem § 24c Abs 1 Z 2 KBGG verstoßen habe. Das Verlangen des Nachweises beeinträchtige die Freizügigkeit nicht und sei daher unionsrechtskonform.*
Entscheidender unionsrechtlicher Maßstab für § 7 KBGG sind Art 4 und 5 Koordinierungs-VO. Art 4 Koordinierungs-VO enthält ein allgemeines Diskriminierungsverbot, welches sich sowohl auf direkte als auch indirekte Diskriminierung bezieht und auch auf die Familienangehörigen der betreffenden Person erstreckt.* Es ist im Einklang mit Art 45 AEUV auszulegen.* Bei Art 5 Koordinierungs-VO handelt es sich um eine Konkretisierung des allgemeinen Diskriminierungsverbots des Art 4 Koordinierungs-VO.* Art 5 Koordinierungs-VO beinhaltet eine Sachverhaltsgleichstellung im In- und Ausland. Hat der Bezug einer Leistung gewisse Rechtswirkungen, treten diese gem Art 5 lit a Koordinierungs-VO auch ein, wenn eine gleichartige, ausländische Leistung bezogen wird. Tritt ein Sachverhalt im Ausland ein, muss er bei der Anwendung der inländischen Rechtsgrundlagen gem Art 5 lit b Koordinierungs-VO so behandelt werden, als wäre er im Inland eingetreten.*
Übertragen auf die Mutter-Kind-Pass-Untersuchung bedeutet dies, dass ausländische, vergleichbare Systeme den inländischen gem Art 5 Koordinierungs-VO gleichgestellt werden müssen. Werden also die ausländischen, vergleichbaren Untersuchungen der Anspruchswerber:innen in deren Wohnortstaat durchgeführt, muss dies in Österreich anerkannt werden und der Anspruch darf nicht iSd § 7 KBGG gekürzt werden. Fehlt ein solches System gänzlich, ist die Notwendigkeit der Durchführung der Untersuchungen in Österreich an Art 4 Koordinierungs-VO zu messen. Auf Basis des Ansatzes des OLG Wien* geht es um die Zumutbarkeit. ME darf es jedoch nicht bloß auf das Bestehen eines Sachleistungsanspruchs 6gegen die KV ankommen. Im Einklang mit Sonntags Ausführungen* müssen auch weitere Kriterien, wie die Entfernung zum Wohnort, anfallende Reisekosten, das Vertrauensverhältnis zu den behandelnden Ärzten sowie sprachliche Hindernisse, Berücksichtigung finden. Dies ergibt sich aus dem Umstand, dass all diese Punkte diskriminierungsrechtlich relevant sein könnten. Gibt es im anderen Staat kein vergleichbares System und ist die Durchführung in Österreich unzumutbar, muss § 7 KBGG unangewendet bleiben.*
Die Einstufung des ausländischen Systems als vergleichbar bedeutet jedoch nicht, dass die inländischen Anspruchsvoraussetzungen in Folge ausgehebelt werden. Dies wird nun im Hinblick auf die zuvor beschriebene Problematik der nicht vorhandenen Nachweispflicht in Deutschland veranschaulicht. Ist Österreich nach Art 11 ff Koordinierungs-VO zuständig, muss in einem nächsten Schritt geprüft werden, ob alle nationalen Voraussetzungen vorliegen. Dies sind ua die Durchführung der Mutter-Kind-Pass-Untersuchungen iSd § 7 KBGG sowie die Nachweispflicht iSd § 24c Abs 1 Z 2 KBGG. Gem Art 5 Koordinierungs-VO sind vergleichbare ausländische Elemente anzuerkennen. Erfolgen die vergleichbaren Untersuchungen und ein theoretisch vergleichbarer Nachweis in Deutschland, müsste beides auch in Österreich anerkannt werden. Die Anwendung des Art 5 Koordinierungs-VO führt jedoch nicht dazu, dass die österreichische Voraussetzung der Nachweispflicht nicht erfüllt werden muss, weil es eine solche im deutschen Recht nicht gibt. Im Einklang mit den Ausführungen des OGH wirkt sich die Nachweispflicht in der betreffenden Rechtssache auch nicht beschränkend oder diskriminierend aus. Es wäre der Kl nicht absolut unzumutbar gewesen, diese zu erfüllen.*
Die meisten rechtlichen Fragen treten im Zusammenhang mit der Erwerbstätigkeit und der ihr gleichgestellten Situationen auf. Der Begriff der Erwerbstätigkeit wird in § 24 Abs 2 KBGG als „die tatsächliche Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen (kranken- und pensionsversicherungspflichtigen) Erwerbstätigkeit“* definiert. Einer solchen gleichgestellt sind „ZeiZeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens 182 Kalendertage andauernden Erwerbstätigkeit während eines Beschäftigungsverbotes nach dem Mutterschutzgesetz [...] sowie Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens 182 Kalendertage andauernden Erwerbstätigkeit zum Zwecke der Kindererziehung während Inanspruchnahme einer Karenz nach dem MSchG oder Väter-Karenzgesetz
“.* In § 24 Abs 3 KBGG wird klargestellt, dass nur in diesen Situationen eine gleichgestellte Situation nach Art 68 Koordinierungs-VO vorliegen soll.
Wichtig ist, dass diese Definition Auswirkungen auf zweierlei Ebenen hat, nämlich sowohl auf der Zuständigkeits- als auch auf der Leistungsebene. Auf Zuständigkeitsebene muss festgestellt werden, welcher Mitgliedstaat iSd Art 11 ff Koordinierungs-VO überhaupt zur Gewährung von Leistungen zuständig ist. Die Grundregel besagt, dass das Recht jenes Staats für eine Person anwendbar ist, in welchem sie ihre Beschäftigung oder selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt.* Der Beschäftigungsstaat ist sodann zur Gewährung von Leistungen aller Zweige der sozialen Sicherheit zuständig, nicht nur zur Gewährung von Familienleistungen. Aus systematischer Sicht ist es daher schon dem Grunde nach problematisch, hinsichtlich des Verständnisses der Erwerbstätigkeit und der ihr gleichgestellten Situationen iSd Art 11 Koordinierungs-VO auf die Definition des KBGG zurückzugreifen. Die Definition der Erwerbstätigkeit ist überdies innerhalb des Regimes des Art 68 Koordinierungs-VO von Bedeutung. Die Prüfung der Zuständigkeitsebene ist der Prüfung der Leistungsebene vorgelagert. Erst, wenn die Zuständigkeit Österreichs feststeht, ist zu prüfen, ob die nationalen Voraussetzungen vorliegen.* Auf Leistungsebene geht es darum, ob die nationalen Voraussetzungen für den Bezug einer Leistung, im gegenständlichen Fall die Ausübung einer Erwerbstätigkeit oder das Vorliegen einer ihr gleichgestellten Situation iSd KBGG, gegeben sind.
Es wird im Folgenden analysiert, ob das österreichische Verständnis mit dem koordinierungsrechtlichen übereinstimmt. Bei Unstimmigkeiten ist das nationale Recht, wenn möglich, unionsrechtskonform auszulegen oder muss bei Unmöglichkeit einer solchen Auslegung unangewendet bleiben.
Die Koordinierungs-VO verweist in Art 1 lit a und lit b bei der Definition der Beschäftigung und der selbstständigen Erwerbstätigkeit auf das nationale Recht. Ausschlaggebend ist daher grundsätzlich das Verständnis in den Mitgliedstaaten. Eine ausdrückliche, alle Versicherungszweige umfassende Definition gibt es in Österreich nicht, allerdings könnte § 24 Abs 2 KBGG herangezogen werden. Die Freiheit der Begriffsbestimmung der Mitgliedstaaten wird jedoch durch zwei Unionsrechtsakte relativiert, nämlich sowohl durch Art 11 Abs 2 Koordinierungs-VO als auch durch den Beschluss Nr F1* der Verwaltungskommission (VWK).*7
Art 11 Abs 2 Koordinierungs-VO legt fest, dass „bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung oder selbstständigen Erwerbstätigkeit eine Geldleistung beziehen, davon ausgegangen [wird], dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben
“.* Zeiten, in denen eine Geldleistung als Folge der Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit bezogen wird, werden der tatsächlichen Ausübung somit gleichgestellt.
Der Beschluss Nr F1 der VWK enthält eine ganze Reihe an Situationen, welche jedenfalls als Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit zu behandeln sind. Bis dato ist nicht eindeutig geklärt, welche Rechtskraft den Beschlüssen der VWK genau zukommt. Eine absolut zwingende Wirkung kann wohl nicht abgeleitet werden. Sie müssen bei der Auslegung der Koordinierungs-VO dennoch Beachtung finden.* Zunächst kann aus dem Beschluss Nr F1 aufgrund der Wortfolge „insbesondere dann
“* abgeleitet werden, dass es sich bei der Aufzählung der Situationen um eine demonstrative und keine abschließende handeln soll. Die genannten Fälle gelten daher jedenfalls als eine Beschäftigung oder eine Erwerbstätigkeit. Dem Wortlaut nach erstreckt sich dieser Beschluss jedoch nur auf Art 68 der Koordinierungs-VO, nicht auch auf das Verständnis iSd Art 11 Koordinierungs-VO.*
Es ist fraglich, in welchem Verhältnis die Anordnungen der Art 1 lit a und b, Art 11 und 68 Koordinierungs-VO zueinander stehen. In der Literatur herrscht Uneinigkeit.* In einem ersten Schritt ist die Zuständigkeit nach Art 11 ff Koordinierungs-VO zu ermitteln. Diese bleibt vom Beschluss Nr F1 der VWK unberührt, weil er sich dem Wortlaut nach ausdrücklich nur auf Art 68 Koordinierungs-VO bezieht. Art 68 Koordinierungs-VO wird schlagend, wenn auf der Zuständigkeit des Art 11 ff Koordinierungs-VO basierende, gleichartige Ansprüche beider Elternteile zusammentreffen. Bei der Anwendung des Art 68 Koordinierungs-VO hat der Beschluss Nr F1 der VWK jedenfalls Beachtung zu finden. Es ist daher möglich, dass ein Staat iSd Art 11 Koordinierungs-VO nicht als Beschäftigungsstaat zu behandeln ist, während er iSd Art 68 Koordinierungs-VO als solcher gilt.*
Im Ergebnis ist davon auszugehen, dass die Mitgliedstaaten die Beschäftigung und Erwerbstätigkeit gem Art 1 lit a und b Koordinierungs-VO selbst definieren können. Sie werden jedoch dahingehend eingeschränkt, als sie bei der Zuständigkeitsprüfung Art 11 Abs 2 Koordinierungs-VO und im Regime des Art 68 Koordinierungs-VO überdies den Beschluss Nr F1 der VWK zu beachten haben.
Nun wird erläutert, wie sich das nationale Begriffsverständnis mit dem europäischen in Einklang bringen lässt. Sowohl die Rsp* als auch die Literatur* haben sich mit dieser Thematik befasst.
Von besonderer Bedeutung ist die Rechtssache OGH 24.3.2015, 10 ObS 117/14z. In dieser E setzt sich der OGH ausführlich mit der Problematik der uneinheitlichen Beschäftigungsbegriffe und den verschiedenen unionsrechtlichen Rechtsquellen auseinander, welche auf das nationale Verständnis der Erwerbstätigkeit einwirken. Er entschied mit überzeugenden Argumenten, dass die Mitgliedstaaten iSd Art 1 lit a und b Koordinierungs-VO zwar frei bei der Definition seien, es jedoch einen harten, unionsrechtlichen Kern gäbe, der nicht berührt werden dürfe. Art 11 Abs 2 Koordinierungs-VO falle jedenfalls in diesen harten, unionsrechtlichen Kern.*
Der überwiegende Teil der Lehre bezweifelt die Unionsrechtskonformität des § 24 Abs 2 und 3 KBGG mit guten Argumenten.* Zusammenfassend sind beide Bestimmungen unionsrechtswidrig, weil sie nicht alle vom Unionsrecht verlangten Fälle umfassen und somit den harten, unionsrechtlichen Kern berühren. § 24 Abs 2 KBGG ist jedoch so formuliert, dass er unionsrechtskonform ausgelegt werden kann, indem er als demonstrative Aufzählung verstanden wird. Die in § 24 Abs 2 KBGG genannten Fälle werden somit durch Art 11 Abs 2 Koordinierungs-VO ergänzt.* § 24 Abs 3 KBGG kann dahingegen nicht unionsrechtskonform ausgelegt werden. Er deckt ebenfalls nicht alle in Art 11 Abs 2 Koordinierungs-VO bzw Beschluss Nr F1 der VWK genannten Fälle ab. Er ordnet jedoch ausdrücklich an, dass „nur“ die genannten Fälle erfasst werden sollen. Ihn als demonstrative Aufzählung zu verstehen, würde daher eine Auslegung contra legem darstellen. § 24 Abs 3 KBGG hat daher unangewendet zu bleiben.*
§ 24 Abs 2 KBGG begrenzt die Dauer der Gleichstellung von Zeiten, konkret von Zeiten des Beschäftigungsverbots sowie Zeiten der Kindererziehung während der Inanspruchnahme einer Karenz, auf den Ablauf des zweiten Lebensjahres des Kindes.* Auch dieses Element ist, wie im vorherigen Pkt 2.4. beschrieben wurde, bei der Feststellung der koordinierungsrechtlichen Zuständigkeit an Art 11 Abs 2 Koordinierungs-VO zu messen. Sowohl die Rsp als auch die Lehre haben sich mit dieser Thematik auseinandergesetzt.*
Zur Thematik der Vereinbarkeit der Zwei-Jahres- Grenze mit dem Unionsrecht ergingen bereits mehrere Urteile des OGH.* Er sprach aus, dass auch dieses Element an Art 1 lit a sowie Art 11 Abs 2 Koordinierungs-VO zu messen sei. Er erarbeitete drei Kriterien, bei deren Vorliegen eine gleichgestellte Situation auch nach Ablauf des zweiten Jahres eine Beschäftigung iSd Koordinierungs-VO darstellt. Erstens darf die Beschäftigung durch die gleichgestellte Situation nur vorübergehend unterbrochen werden. Zweitens muss die betreffende Person zumindest teilversichert sein. Drittens bedarf es für eine durchgehende Fiktion eines einheitlichen Sachverhaltselements.* Es sei angemerkt, dass auch die Einführung des § 24 Abs 3 KBGG faktisch keine Auswirkungen auf die Zwei-Jahres-Grenze hat.*
Bei einem Widerspruch zu den einschlägigen Bestimmungen des Unionsrechts hat daher auch die Zwei-Jahres-Grenze unangewendet zu bleiben. In diesem Fall gilt Österreich auch über die zwei Jahre hinausgehend als Beschäftigungsstaat iSd Koordinierungs-VO.*
Gem § 6 Abs 3 KBGG ruht der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld, insofern ein Anspruch auf eine ausländische Familienleistung besteht. Das Ruhen ist auf die Höhe der ausländischen Leistung beschränkt. Ein etwaiger Differenzbetrag wird angerechnet. Sobald ein ausländischer Anspruch besteht, tritt die österreichische Leistung demnach zurück. Diese Regelung ist insb an den Zuständigkeitsregeln der Art 11 und 68 Koordinierungs-VO zu messen. Dabei muss unterschieden werden, ob es bloß um das Verhältnis zwischen einer Person und dem zuständigen Träger (Zweipersonenverhältnis) oder um jenes zwischen beiden Elternteilen und dem zuständigen Träger (Mehrpersonenverhältnis) geht.*
Im Zweipersonenverhältnis ist § 6 Abs 3 KBGG an Art 11 Koordinierungs-VO zu messen. Ausgangspunkt ist, dass die betreffende Person die Anspruchsvoraussetzungen sowohl in Österreich als auch im anderen Staat erfüllt und somit Ansprüche hat. Kommt man auf Basis der Art 11 ff Koordinierungs-VO zum Ergebnis, dass Österreich zuständig ist, bedeutet dies, dass der andere Staat freiwillig leistet. Freiwillig leistet dieser deshalb, weil er koordinierungsrechtlich nicht dazu verpflichtet wäre.* Darf Österreich in diesem Fall die ausländische Leistung anrechnen? Dafür spricht zunächst das Doppelleistungsverbot des Art 10 Koordinierungs-VO. Leistet der andere Staat tatsächlich und rechnet Österreich den entsprechenden Betrag auf die nationale Leistung an, ergeben sich auch idR keine diskriminierungsrechtlichen Probleme. Die Person erleidet dann keine finanziellen Nachteile, sie wird bloß nicht bessergestellt. Eine Pflicht der Person, zuerst einen Antrag im anderen, nicht zuständigen Staat zu stellen, um die ausländische Leistung in weiterer Folge in Österreich anrechnen zu können, gibt es jedoch nicht.* Denkbar ist auch, dass der andere, nicht zuständige Staat eine mit § 6 Abs 3 KBGG vergleichbare Regelung kennt. Dann könnte es zu der Situation kommen, dass beide Staaten die eigene Leistung unter Verweis auf den Anspruch im jeweils anderen Staat aussetzen. In einem solchen Fall schlägt die koordinierungsrechtliche Zuständigkeit iSd Art 11 ff Koordinierungs-VO durch und Österreich müsste in voller Höhe leisten.* Ist Österreich auf Basis der Art 11 ff Koordinierungs-VO nicht zuständig, besteht grundsätzlich keine Leistungspflicht und § 6 Abs 3 KBGG kommt unverändert zur Anwendung.
Im Mehrpersonenverhältnis kommt es darauf an, ob Österreich iSd Art 68 Koordinierungs-VO primär oder nachrangig zuständig ist. Ist Österreich 9 primär zuständig, muss § 6 Abs 3 KBGG unangewendet bleiben und die Leistung grundsätzlich in voller Höhe erbracht werden. Ist Österreich bloß nachrangig zuständig, bleibt § 6 Abs 3 KBGG unverändert in Geltung.* Es sei an dieser Stelle angemerkt, dass der Anwendungsbereich des Art 68 Koordinierungs-VO verlangt, dass zwei Ansprüche von koordinierungsrechtlich zuständigen Staaten aufeinandertreffen. Leistet ein Staat freiwillig, ist Art 68 Koordinierungs-VO hingegen nicht anwendbar.*
Auch darf auf Basis der stRsp des OGH* sowie des EuGH* nur mit vergleichbaren ausländischen Ansprüchen aufgerechnet werden, ansonsten läge ja keine Doppelleistung vor. Wie die Rsp des OGH zeigt, scheitert die Vergleichbarkeit regelmäßig an der fehlenden Übereinstimmung hinsichtlich des Leistungszwecks. Das Kinderbetreuungsgeld zeichnet sich insb durch seine stark ausgeprägte Einkommensersatzfunktion aus.* Nicht mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbar sind das deutsche Betreuungsgeld nach dem Bundeselterngeld- und Elternteilzeitgesetz,* die liechtensteinische Geburten-,* Kinder-* und Alleinerziehendenzulage,* das bayrische Familiengeld,* die finnische Kinderbetreuungsbeihilfe* sowie das slowakische Elterngeld.*
Ein weiteres Problem, das sich im Zusammenhang mit § 6 Abs 3 KBGG und Art 68 Koordinierungs-VO stellt, betrifft die Berechnung des Differenzbetrags, falls die Bezugszeiträume der vergleichbaren Leistungen in den verschiedenen Staaten unterschiedlich lang sind bzw sich nur teilweise überschneiden. Es stellt sich die Frage, ob die jeweiligen Gesamtbeträge miteinander verglichen werden müssen oder nur jene Beträge, welche während dem Parallelbezug ausbezahlt wurden.
Spiegel sowie Felten haben sich bereits mit dieser Thematik beschäftigt. Laut Spiegel spreche der Umstand, dass der Unterschiedsbetrag nach Art 68 Abs 3 lit a Koordinierungs-VO iVm Art 7 Durchführungs-VO erst am Ende der Bezugsdauer der ausländischen Leistung festzustellen ist, für eine Anrechnung des Gesamtbetrags. Dies sei jedenfalls dann unionsrechtskonform, wenn ein Wahlrecht betreffend die Dauer oder die Höhe der Leistung besteht, wie es beim Kinderbetreuungsgeld der Fall ist. Ansonsten könnten die anspruchsberechtigten Personen Einfluss auf die Gesamthöhe ihrer Leistung nehmen.*Felten schließt sich dieser Meinung an und ergänzt, dass Art 68 Abs 2 Koordinierungs-VO grundsätzlich nur die Höhe der günstigsten Familienleistung schütze. Dem Problem, dass ein Wahlrecht betreffend die Bezugsdauer der Leistung zu Lasten des nachrangigen Staats ausgeübt werde, müsse auf nationaler Ebene begegnet werden.* Zu dieser Problematik erging erst jüngst eine E des OGH. Dieser schließt sich der
von Spiegel und Felten vertretenen Meinung an. Er kommt zu dem Ergebnis, dass bei der Berechnung der Ausgleichszahlung iSd KBGG die Gesamtbezüge in beiden Staaten zu berücksichtigen sind und nicht bloß die Zahlungen, die während den zeitlich kongruenten Zeiträumen bezogen werden, falls den anspruchswerbenden Personen betreffend den Bezugszeitraum ein Wahlrecht zukommt.* Aus den Ausführungen des OGH lässt sich der gegenteilige Schluss, dass die Aufrechnung des Gesamtbezugszeitraums bei einem fehlenden Wahlrecht generell zu verneinen ist, wohl nicht ableiten. Diese Frage ist dem Urteil nicht zu entnehmen und bleibt daher offen.*
Gegen die vom OGH, Spiegel und Felten vertretene Meinung könnte ins Treffen geführt werden, dass sich der Wortlaut des Art 68 Koordinierungs-VO auf Leistungen erstreckt, die „für denselben Zeitraum“ gewährt werden. Die besseren Argumente sprechen jedoch für die vom OGH, Felten und Spiegel vertretene Meinung. Einer der Grundgedanken, der nicht nur in Art 68 Koordinierungs-VO zur Geltung kommt, sondern in Art 10 Koordinierungs-VO auch ausdrücklich verankert ist, ist das Verbot von Doppelleistungen. Kommt den anspruchsberechtigten Personen ein Wahlrecht zu, wird dieses idR natürlich so ausgeübt werden, dass sich die Zeiträume möglichst wenig überschneiden und gesamt die höchstmögliche Leistung bezogen wird. Damit Doppelleistungen verhindert werden, müssten daher immer die Gesamtbeträge verglichen werden. Im Zentrum der gegenständlichen Problematik steht die Interpretation der Wortfolge „für denselben Zeitraum“ in Art 68 Koordinierungs-VO. Art 68 konkretisiert das allgemeine Doppelleistungsverbot des Art 10 Koordinierungs-VO.*10
Art 10 stellt hingegen ausdrücklich auf dieselbe „Pflichtversicherungszeit“ ab. Art 10 bezieht sich daher auf die Grundlage, auf welcher die Leistung basiert und nicht auf die Zeit, in der sie de facto bezogen wird. Eine Interpretation im Lichte des Art 10 Koordinierungs-VO spricht daher für eine Gesamtbetrachtung. Wie der OGH zutreffend ausführt, spricht auch der Umstand, dass sich die auszulegende Wortfolge in Art 68 Abs 1 Koordinierungs-VO befindet, für diese Ansicht. Die relevanten Regelungen zum Unterschiedsbetrag sind nämlich in Art 68 Abs 2 Koordinierungs-VO verankert. Folglich bezieht sich die Einschränkung auf „denselben Zeitraum“ bloß auf den Anwendungsbereich und die Prioritätsregeln, nicht jedoch auf die genaue Berechnung des Unterschiedsbetrags.*
§ 2 Abs 1 Z 1 iVm Abs 8 KBGG verlangt, dass die Familienbeihilfe in eigener Person bezogen werden muss. Diese Regelungen sind im Einklang mit Art 5 und 68 Koordinierungs-VO sowie Art 60 Durchführungs-VO auszulegen. Demnach gelten diese Voraussetzungen als erfüllt, wenn der Anspruch auf Familienbeihilfe zwar dem Grunde nach besteht, jedoch 0 € beträgt, weil mit einer gleichartigen ausländischen Leistung aufzurechnen ist.
Gem § 2 Abs 1 Z 2 KBGG muss der anspruchsberechtigte Elternteil mit dem Kind im gemeinsamen Haushalt leben. § 2 Abs 6 KBGG spezifiziert, dass der gemeinsame Haushalt nur dann gegeben ist, wenn eine dauerhafte Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft an derselben Wohnadresse besteht und beide den Hauptwohnsitz dort gemeldet haben. Diese Kriterien stehen im Widerspruch zu Art 1 lit i Z 3 Koordinierungs-VO. Weil eine unionsrechtskonforme Auslegung aufgrund des klaren Wortlauts des § 6 Abs 2 KBGG nicht möglich ist, muss das Kriterium der Hauptwohnsitzmeldung gegebenenfalls unangewendet bleiben.
§ 7 KBGG sieht eine Kürzung des Anspruchs auf Kinderbetreuungsgeld vor, falls die Mutter-Kind- Pass-Untersuchung nicht durchgeführt wird. Diese Einschränkung ist insb an den Art 4 und 5 Koordinierungs-VO zu messen. Wohnen anspruchswerbende Personen in einem Staat, in dem es ein mit der Mutter-Kind-Pass-Untersuchung vergleichbares System gibt, müssen die jeweiligen Untersuchungen in diesem Staat auch durchgeführt werden. Gibt es kein vergleichbares System, ist zu prüfen, ob es für die Personen zumutbar ist, für die notwendigen Untersuchungen nach Österreich zu kommen. Ist es unzumutbar, hat § 7 KBGG unangewendet zu bleiben.
§ 24 Abs 2 KBGG definiert die Erwerbstätigkeit und die ihr gleichgestellten Situationen. § 24 Abs 3 KBGG legt fest, dass nur in den gesetzlich aufgezählten Fällen eine gleichgestellte Situation iSd Art 68 iVm Art 1 lit a Koordinierungs-VO vorliegt. Die Mitgliedstaaten sind gem Art 1 lit a und lit b Koordinierungs-VO grundsätzlich frei hinsichtlich dieser Einstufung. Es gibt jedoch einen harten, unionsrechtlichen Kern, der beachtet werden muss. Art 11 Abs 2 Koordinierungs-VO sowie der Beschluss Nr F1 der VWK, welcher nur hinsichtlich Art 68 Koordinierungs-VO gilt, fallen jedenfalls in diesen Kern. § 24 Abs 2 KBGG ist in weiterer Folge dahingehend zu interpretieren, dass er eine demonstrative Aufzählung darstellt und um den harten, unionsrechtlichen Kern zu ergänzen ist. § 24 Abs 3 KBGG kann aufgrund seines klaren Wortlauts nicht unionsrechtskonform ausgelegt werden und hat daher gegebenenfalls unangewendet zu bleiben.
§ 24 Abs 2 KBGG begrenzt die Dauer der Gleichstellung gewisser Situationen überdies auf zwei Jahre. Diese Begrenzung ist wiederum an Art 11 Abs 2 Koordinierungs-VO zu messen. Laut OGH kann diese Grenze dann nicht aufrechterhalten werden, wenn die vorliegende Beschäftigung bloß vorübergehend unterbrochen wird, die anspruchswerbende Person zumindest teilversichert ist und ein einheitliches Sachverhaltselement vorliegt.
Gem § 6 Abs 3 KBGG ruht der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld, sobald ein Anspruch auf eine ausländische Familienleistung besteht. Im Einklang mit Art 68 Koordinierungs-VO ist eine solche Aufrechnung zunächst nur mit gleichartigen Leistungen möglich. Im zweipersonalen Verhältnis, also wenn es um den Anspruch eines Elternteils gegen den Sozialversicherungsträger geht, ist § 6 Abs 3 KBGG im Lichte von Art 10 und 11 Koordinierungs-VO zu betrachten und idR mit diesen vereinbar. Im Mehrpersonenverhältnis, also wenn es um Ansprüche beider Elternteile gegen Sozialversicherungsträger geht, ist überdies Art 68 Koordinierungs-VO zu beachten. Ist Österreich gem dieser Bestimmung nachrangig zuständig, kommt § 6 Abs 3 KBGG grundsätzlich unverändert zur Anwendung. Ist Österreich jedoch primär zuständig, hat § 6 Abs 3 KBGG unangewendet zu bleiben.
Bei der Berechnung des Unterschiedsbetrags iSd Art 68 Koordinierungs-VO bzw des Differenzbetrags iSd § 6 Abs 3 KBGG kann es vorkommen, dass sich zwei gleichartige Leistungen hinsichtlich ihrer Bezugsdauer nur vorübergehend überschneiden. Es sprechen die besseren Argumente dafür, auch in diesem Fall die Gesamtbeträge am Ende zu vergleichen, um dem Doppelleistungsverbot des Art 10 Koordinierungs-VO bestmöglich gerecht zu werden. 11