SimgeSchutz und Verantwortung in der digitalen und globalen Arbeitswelt. Die Stellung des Menschen im Arbeitsschutzsystem auf dem Weg zur (Un-)Abhängigkeit 4.0

Nomos Verlag, Baden Baden 2020, 523 Seiten, kartoniert, € 137,80 (E-Book € 134,–)

RUDOLFMOSLER (SALZBURG)

Die umfangreiche Augsburger Dissertation beschäftigt sich im Kern mit den Auswirkungen der Digitalisierung und Globalisierung auf das Schutz- und Verantwortungssystem des deutschen Arbeitsschutzrechts.

Es werden zunächst die 100-jährige Geschichte des Arbeitsschutzrechts und seine Entstehungsbedingungen analysiert, die zu einer Beschränkung der Vertragsfreiheit durch öffentlich-rechtliche Normen geführt haben. Wenig überraschend wird die Fremdbestimmung bzw Fremdsteuerung des AN als zentrale Grundlage der Verantwortungstragung des AG angesehen, während die Eigenverantwortung des Selbständigen aus der freien Vermarktung der eigenen Arbeitskraft resultiere. Dass die Einbeziehung arbeitnehmerähnlicher Selbständiger bzw die Hinwendung zum Beschäftigtenbegriff auf den europäischen Einfluss zurückzuführen ist, scheint mir nicht schlüssig zu sein. Jedenfalls in Österreich gab es diese Ausrichtung schon vor dem Beitritt zur Union.

Richtig ist zweifellos, dass Digitalisierung und Globalisierung neue Organisationsstrukturen mit sich bringen und tendenziell feste Arbeitsvorgaben durch eine flexible Arbeitsgestaltung abgelöst werden. Das bringt neue Risiken mit sich, AN gewinnen aber dadurch zT auch an Freiheit. Zuzustimmen ist der These, dass die neue Arbeitsorganisation in einem Spannungsverhältnis zum Normalarbeitsverhältnis steht, die auch Änderungen im Arbeitsschutzrecht erfordert. Ob die neuen Freiheiten von AN, flachere Hierarchien, Änderungen in der Verhandlungsposition und die Hebung der Position aufgrund der „Wissenssteigerung“ der AN wirklich einen generellen Trend in Richtung „unabhängiger“ AN und „abhängiger“ AG zur Folge haben, kann man wohl in Frage stellen. Das wird auf manche Branchen bzw Tätigkeiten mehr zutreffen, auf andere weniger oder gar nicht. Zu different ist die neue Arbeitswelt, um solche Beobachtungen generalisieren zu können. Simge spricht diese Unterschiede durchaus an, leitet aber doch generelle Schlussfolgerungen aus den Entwicklungen in der Arbeitswelt ab.

Eher kann man der These beipflichten, dass sich AN mit neuen Freiheiten und Selbständige mit zunehmender Abhängigkeit annähern. Freie DN oder Kleinunternehmer mit Werkvertrag scheinen tatsächlich in zunehmende Abhängigkeiten zu geraten. Dass die fremd- und selbstgesteuerte Selbstgefährdung im Arbeitsschutz berücksichtigt werden sollte, ist ein interessanter Aspekt. Die Lösungsansätze von Simge sind einerseits vor allem die Stärkung der Unterweisung und Belehrung der Beschäftigten unter Einbeziehung des „Selbstgefährdungspotenzials“, andererseits die Schutzausrichtung vom AN zum gefährdeten Erwerbstätigen. Die Idee ist also offenkundig, den Arbeitsschutz unabhängig von der formalen Qualifikation des Beschäftigten bzw Erwerbstätigen dort eingreifen zu lassen, wo man ihn tatsächlich braucht. Die praktische Durchführbarkeit steht auf einem anderen Blatt. Die Evaluierung von Arbeitsplätzen könnte (auch) im österreichischen Arbeitsschutzrecht einen Ansatzpunkt bilden. Ob das gerade für flexible Beschäftigte mit Freiheiten bei der Arbeitsgestaltung erfolgreich umgesetzt werden kann, scheint mir jedenfalls fraglich zu sein.

Die Dissertation hat einen grundlagenorientierten Zugang und geht sehr in die Tiefe, hat aber dadurch auch einen zT hohen Abstraktionsgrad. Es ist an sich erfreulich, wenn noch Bücher erscheinen, die sich mit Grundsatzproblemen beschäftigen. Die Arbeit versucht auch ernsthaft, aus der Entwicklung zu einer digitalisierten und globalisierten Arbeitswelt Schlussfolgerungen für eine Anpassung des Arbeitsschutzes zu ziehen. Es sind zwar schon viele Publikationen zu den Auswirkungen der neuen Arbeitswelt auf das Arbeitsrecht erschienen, nur ganz wenige Arbeiten beziehen sich aber auf den Arbeitsschutz. Das Buch hat durchaus Neuigkeitswert, was man bei wissenschaftlichen Produkten 76 nicht immer behaupten kann. Manches hätte man aber ohne Substanzverlust kompakter formulieren können. Das gilt vor allem dort, wo es ohnehin schon viel Literatur gibt, insb beim AN-Begriff oder bei den Ausführungen über die Erosion des Normalarbeitsverhältnisses. Für die unmittelbare Anwendung in der Praxis bringt das Buch wenig neue Erkenntnisse, das war aber auch nicht sein Ziel.