Die Mindestlohn-RL der EU: Wie steht es um die Kompetenz der Richtlinie und die Auswirkungen in Österreich?

HANNAH RUSSEGGER (SALZBURG)
Die Richtlinie über angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union, deren Entwurf im Lichte der Kompetenzausnahme in Art 153 Abs 5 AEUV bereits hoch umstritten war, wurde am 19.10.2022 verabschiedet. Die Umsetzungsfrist läuft noch bis zum 15.11.2024. Wie es um die kompetenzrechtliche Frage der verabschiedeten Richtlinie steht und ob sich die Richtlinie auch auf Österreich auswirkt und einen Umsetzungsbedarf schafft, wird in diesem Beitrag näher untersucht.
  1. Einleitung: Der Weg zur Mindestlohn-Richtlinie

  2. Der Inhalt der Mindestlohn-Richtlinie

  3. Die Kompetenzfrage der Mindestlohn-Richtlinie

    1. Regelt die Mindestlohn-Richtlinie das Arbeitsentgelt?

    2. Regelt die Mindestlohn-Richtlinie das Koalitions- und Streikrecht?

    3. Wurde die Mindestlohn-Richtlinie auf die richtige Kompetenzgrundlage gestützt?

  4. Die Auswirkungen der Mindestlohn-Richtlinie auf Österreich

  5. Fazit

1.
Einleitung: Der Weg zur Mindestlohn-Richtlinie

Die Mindestlohn-Richtlinie* (in Folge ML-RL) findet ihren Ausgangspunkt ua in der 2017 verabschiedeten Europäischen Säule sozialer Rechte – einem gemeinsamen sozialpolitischen Programm der EU ohne Rechtsverbindlichkeit.* Durch die RL soll dem sechsten Grundsatz der Europäischen Säule sozialer Rechte („Löhne und Gehälter“) Rechnung getragen werden, wonach alle AN das Recht auf eine gerechte Entlohnung haben, die ihnen einen angemessenen Lebensstandard ermöglicht.* Um diesen Grundsatz in rechtsverbindliche Form zu gießen, führte die EK nach Maßgabe des Art 154 AEUV eine zweistufige Konsultation der Sozialpartner durch. Die Aufnahme von Verhandlungen über eine Vereinbarung nach Art 155 AEUV schied mangels Einigung der Sozialpartner jedoch aus. Nach entsprechender Vorbereitung legte die EK am 28.10.2020 den Vorschlag für die ML-RL vor.* Verabschiedet wurde die ML-RL nach mehreren Verhandlungsrunden am 19.10.2022.

Ziel der ML-RL ist die Verbesserung der Lebensund Arbeitsbedingungen in der Union, Armut trotz Erwerbstätigkeit zu senken, zur Gleichstellung der Geschlechter beizutragen sowie die Lohnungleichheit in der Gesellschaft zu verringern. Dafür nimmt die ML-RL drei Kernbereiche in Angriff: (1) die Förderung von Tarifverhandlungen, (2) die Schaffung eines Rahmens zur Festsetzung von angemessenen gesetzlichen Mindestlöhnen sowie (3) die Sicherstellung eines wirksamen Zugangs zum Mindestlohnschutz (Art 1 Abs 1). Während der zweite und dritte Kernbereich als Inhalt einer Richtlinie über angemessene Mindestlöhne erwartbar sind, verwundert der erste zunächst. Der Zusammenhang zwischen dem ersten Kernbereich und angemessenen Mindestlöhnen wird jedoch in den Erwägungsgründen näher dargelegt: Konkret wird davon ausgegangen, dass eine hohe tarifvertragliche Abdeckung tendenziell mit einem geringeren 12 Anteil an Geringverdienenden sowie mit vergleichsweise höheren Mindestlöhnen einhergeht.* Diese Annahme bestätigt sich auch empirisch: In den Ländern, in welchen sich die Niedriglohnquote unter dem EU-Durchschnitt befindet, liegt die tarifvertragliche Abdeckung mehrheitlich bei etwa 80 % oder darüber.* Gleiches zeigt sich bei jenen Ländern, in welchen das durchschnittliche Nettoeinkommen über dem EU-Durchschnitt liegt.*

Umzusetzen ist die ML-RL von den Mitgliedstaaten bis zum 15.11.2024 (Art 17 Abs 1). Nachdem dieser Stichtag nicht mehr allzu fern in der Zukunft liegt, stellt sich die Frage, ob die ML-RL auch Auswirkungen auf ein Land ohne einheitlichen gesetzlichen Mindestlohn, welches zudem als Vorreiter im Bereich der Tarifverhandlungen gilt, entfaltet und ein Handeln des österreichischen Gesetzgebers – entgegen dem ersten Anschein – möglicherweise doch gefragt ist.

2.
Der Inhalt der Mindestlohn-Richtlinie

Die drei Kernbereiche der ML-RL werden primär in den Art 4 bis 6 sowie 8, 12 und 13 geregelt. Neben diesen Regelungen werden nachstehend auch noch zwei relevante, flankierende Bestimmungen – nämlich der Geltungsbereich der ML-RL (Art 2) sowie das Regressionsverbot (Art 16) – unter die Lupe genommen:

Der Geltungsbereich erstreckt sich gem Art 2 ML-RL auf AN in der Union, die nach den Rechtsvorschriften, Tarifverträgen oder Gepflogenheiten in dem jeweiligen Mitgliedstaat einen Arbeitsvertrag haben oder in einem Arbeitsverhältnis stehen. Klargestellt wird aber ausdrücklich, dass die Rsp des EuGH zu berücksichtigen ist. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, ob auch öffentlich Bedienstete, Vertragsbedienstete oder Beamte in den Anwendungsbereich der ML-RL fallen. Das ist insb für Österreich von Relevanz, da es hier gesetzliche Entgeltregelungen gibt, die von der ML-RL erfasst sein könnten.*

Im Lichte der Judikatur des EuGH gilt es diese Frage zu bejahen: Dieser hat Beamte bereits in der Vergangenheit in den Geltungsbereich von Richtlinien einbezogen, die eigentlich auf den nationalen AN-Begriff abstell(t)en. Die Bezugnahme auf den „Arbeitsvertrag“ bzw das „Arbeitsverhältnis“ stand dem nicht entgegen.* Im Zusammenhang mit Art 88 DSGVO, welcher ebenso auf den Begriff „Arbeitsvertrag“ Bezug nimmt, hat der EuGH auch erst kürzlich explizit festgehalten, dass – ausgehend vom Schutzzweck der Bestimmung – aus dieser Bezugnahme nicht abgeleitet werden kann, „dass die nicht auf einem Arbeitsvertrag beruhende Beschäftigung im öffentlichen Sektor vom Anwendungsbereich dieser Bestimmung ausgenommen ist“.* Ähnlich wie beim Datenschutz kann es auch beim Mindestlohnschutz – mit Blick auf dessen Schutzzweck – nicht auf das konkrete Rechtsverhältnis der Beschäftigung ankommen. Für die Einbeziehung von Beamten spricht zudem, dass die Arbeitsbedingungen-RL,* in welcher der Geltungsbereich fast wortident formuliert ist wie in der ML-RL, für Teile der Richtlinie eine eigene Ausnahmebestimmung für ua diese vorsieht.* Eine solche Ausnahmebestimmung ist nur notwendig, wenn Beamte grundsätzlich vom allgemeinen Geltungsbereich umfasst sind. Beamte müssen daher auch vom Geltungsbereich der ML-RL erfasst sein, denn bei fast wortidenter Formulierung kann wohl nicht mehr vertreten werden, dass die Geltungsbereiche der beiden Richtlinien unterschiedlich wären. Insgesamt ist daher von einer Verdrängung nationaler AN-Begriffe zugunsten des unionsrechtlichen AN-Begriffs und einem dadurch weiten Geltungsbereich der ML-RL auszugehen.* Dieses Verständnis findet auch Niederschlag in den Erwägungsgründen, nach welchen sowohl private und öffentliche Arbeitsverhältnisse als auch atypische Beschäftigungsverhältnisse sowie Scheinselbständige und nicht angemeldete AN unter den Anwendungsbereich der ML-RL fallen sollen können.*

Art 4 ML-RL realisiert sodann den ersten Kernbereich der RL: die Förderung von Tarifverhandlungen zur Lohnfestsetzung. Um die tarifvertragliche Abdeckung zu erhöhen, sind alle Mitgliedstaaten angehalten, (unter Beteiligung der Sozialpartner) bestimmte (Schutz-)Maßnahmen, wie zB die Förderung des Auf- und Ausbaus der Kapazitäten der Sozialpartner, Tarifverhandlungen zu führen, zu ergreifen (Abs 1). Die zu ergreifenden Maßnahmen sind dabei mehr als Zielvorgaben formuliert, sodass die Mitgliedstaaten in der konkreten Umsetzung der Maßnahmen sehr frei sind.* Alle Mitgliedstaaten, in welchen die tarifvertragliche Abdeckung unterhalb einer Schwelle von 80 %* liegt, haben darüber hinaus – unter Einbindung der Sozialpartner – zusätzlich einen Rahmen festzulegen, der die Voraussetzungen für Tarifverhandlungen schafft, und einen Aktionsplan zu erstellen, regelmäßig zu überprüfen sowie gegebenenfalls zu aktualisieren (Abs 2).

Art 5 und 6 ML-RL sind sodann dem zweiten Kernbereich – der Schaffung eines Rahmens zur Festsetzung von angemessenen gesetzlichen Mindestlöhnen – gewidmet. Dabei verpflichtet die ML-RL die Mitgliedstaaten nicht, gesetzliche Mindestlöhne 13 einzuführen (Art 1 Abs 3), sondern statuiert in Art 5 lediglich einen Rahmen zur Festsetzung von angemessenen gesetzlichen Mindestlöhnen für jene Mitgliedstaaten, die gesetzliche Mindestlöhne haben. Diese werden verpflichtet, die erforderlichen Verfahren zur Festlegung und Aktualisierung von gesetzlichen Mindestlöhnen zu schaffen. Als Zielvorgabe wird dabei die Angemessenheit der Mindestlöhne normiert (Abs 1). Diese stellt der Richtlinien-Gesetzgeber zweigleisig sicher: Zum einen müssen die Mitgliedstaaten klar definierte, nationale Kriterien festlegen. Diese müssen (1) die Kaufkraft der gesetzlichen Mindestlöhne unter Berücksichtigung der Lebenserhaltungskosten, (2) das allgemeine Niveau der Löhne und ihre Verteilung, (3) die Wachstumsrate der Löhne sowie (4) langfristige nationale Produktivitätsniveaus und -entwicklungen als Aspekte berücksichtigen. Über das relative Gewicht dieser Aspekte sowie der Kriterien allgemein können die Mitgliedstaaten selbst entscheiden (Abs 1 und 2). Zum anderen müssen die Mitgliedstaaten Referenzwerte zugrunde legen, wobei sie auf internationaler Ebene übliche oder auf nationaler Ebene verwendete Referenzwerte nutzen können (Abs 4). Die Einführung eines automatischen Indexierungsmechanismus zur Anpassung der gesetzlichen Mindestlöhne ist dabei nach Maßgabe der Vorgaben in Abs 3 und 5 zulässig. Erlaubt sind unter bestimmten Voraussetzungen auch unterschiedliche Sätze des gesetzlichen Mindestlohns für bestimmte AN-Gruppen sowie Lohnabzüge (Art 6 ML-RL). Zulässig sind diese, insofern sie den Grundsatz der Nichtdiskriminierung wahren sowie verhältnismäßig sind, wobei ua ein legitimes Ziel verfolgt werden muss (Abs 1).

Art 8, 12 und 13 ML-RL dienen schließlich der Sicherstellung eines wirksamen Zugangs zum Mindestlohnschutz und damit dem dritten Kernbereich der ML-RL. Dieser Zugang soll zum einen durch behördliche Kontrollen und Inspektionen sowie den Ausbau der Fähigkeiten der Behörden sichergestellt werden (Art 8 ML-RL). Zum anderen sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, AN Zugang zur Streitbeilegung zu verschaffen und ihnen einen Anspruch auf Rechtsbehelfe einzuräumen, wobei die Mitgliedstaaten gleichzeitig sicherzustellen haben, dass AN und AN-Vertreter vor nachteiligen Folgen geschützt werden, die sich aus der Rechtsdurchsetzung ergeben (Art 12 ML-RL). Darüber hinaus haben die Mitgliedstaaten wirksame, verhältnismäßige und abschreckende Sanktionen für Verstöße gegen die Rechte und Pflichten aus der ML-RL vorzusehen (Art 13 ML-RL).

Art 16 ML-RL normiert letztlich noch ein Regressionsverbot, wonach die Umsetzung der ML-RL eine Verringerung des den AN in den Mitgliedstaaten bereits jetzt gewährten allgemeinen Schutzniveaus, insb die Senkung oder Abschaffung von Mindestlöhnen, nicht rechtfertigt (Abs 1).

3.
Die Kompetenzfrage der Mindestlohn-Richtlinie

Die ML-RL stützt sich auf Art 153 Abs 2 lit b iVm Art 153 Abs 1 lit b AEUV („Arbeitsbedingungen“).

Art 153 Abs 5 AEUV normiert jedoch gleichzeitig, dass Art 153 AEUV nicht für das Arbeitsentgelt, das Koalitionsrecht, das Streikrecht sowie das Aussperrungsrecht gilt. Im Schrifttum wird daher die Frage nach der Kompetenzwidrigkeit der ML-RL diskutiert.

3.1.
Regelt die Mindestlohn-Richtlinie das Arbeitsentgelt?

Zu Art 153 Abs 5 AEUV hat der EuGH bereits ausgesprochen, dass die in Abs 5 angeführten Bereiche eng auszulegen sind, andernfalls die Tragweite der Kompetenzen nach Abs 1 bis 4 ungebührlich beeinträchtigt würde.* Zum Arbeitsentgelt hielt er in Folge konkret fest, dass nur unmittelbare Eingriffe in die Festsetzung der Arbeitsentgelte, etwa durch „Maßnahmen wie eine Vereinheitlichung einzelner oder aller Bestandteile und/oder der Höhe der Löhne und Gehälter oder die Einführung eines gemeinschaftlichen Mindestlohns“,* von der Rechtsetzungskompetenz der EU ausgenommen sind, sodass im Sekundärrecht normierte Entgeltgleichheitsgebote sowie Entgeltdiskriminierungsverbote mit Art 153 Abs 5 AEUV in Einklang stehen.* Dass Art 153 Abs 5 AEUV nicht absolut verstanden werden kann, ergibt sich auch aus Art 157 AEUV, welcher der Union im Bereich des Entgelts sehr wohl Kompetenzen zuspricht.

Ausgehend hiervon spalten sich im Schrifttum die Meinungen nun dazu, ob Art 5 ML-RL eine unmittelbare oder nur eine mittelbare Regelung des Arbeitsentgelts darstellt. Auf der einen Seite wird zunächst argumentiert, dass es sich um eine unmittelbare Regelung des Arbeitsentgelts handle, da die mitgliedstaatliche Freiheit bei der Lohnsetzung aufgrund der Verpflichtung, bestimmte Aspekte zu berücksichtigen, nach welchen das Arbeitsentgelt auch bestimm- und überprüfbar würde, bereits zu weitreichend und erheblich eingeschränkt werde.* Zum Vorschlag für die ML-RL führte Franzen zudem noch aus, dass sich die Unmittelbarkeit der Regelung aus der Interpretation des Begriffs „angemessen“ ergebe. Dieser sei auf eine bestimmte Weise zu interpretieren („Er [= der gesetzliche Mindestlohn] muss mindestens 60 % des Durchschnittslohns betragen“), wodurch die Höhe des Mindestlohns unmittelbar betroffen sei.* In der verabschiedeten Version von Art 5 ML-RL würde eine solche Interpretation jedoch Abs 3, welcher den Mitgliedstaaten bezüglich der Referenzwerte explizit ein Auswahlermessen einräumt, überflüssig 14 machen bzw diesem diametral entgegenstehen, sodass dieser Interpretation und damit der gesamten diesbezüglichen Argumentation Franzens nicht (mehr) gefolgt werden kann.

Auf der anderen Seite wurde einerseits bereits zum restriktiver formulierten Art 5 im Vorschlag für die ML-RL substanziiert, dass dieser lediglich eine mittelbare Regelung darstelle. Da die Mitgliedstaaten bloß Berücksichtigungspflichten hätten, ansonsten den Kriterienkatalog und die Richtwerte aber autonom festlegen könnten und auch die Entscheidung, was angemessen ist, bei den Mitgliedstaaten liege, wäre ein hinreichender Abstand zur unmittelbaren Festsetzung des Arbeitsentgelts gewahrt.* Andererseits argumentierten Klocke/Hautkappe dafür, dass es sich um keine Regelung des Arbeitsentgelts handle, sodass Art 153 Abs 5 AEUV nicht einschlägig sei. Ihrer Ansicht nach seien die Begriffe „Mindestlohn“ und „Arbeitsentgelt“ streng voneinander zu trennen, sodass ersterer nicht von zweiterem umfasst sei.* Dieser Ansatz ist wenig überzeugend und auch nicht erforderlich, um eine Kompetenzüberschreitung des Art 5 ML-RL verneinen zu können. Einfacher ist es stattdessen, Art 5 ML-RL genau anhand der EuGH-Rsp zu untersuchen. Im Rahmen einer solchen Untersuchung lässt sich nämlich feststellen, dass Art 5 ML-RL weder einer „Vereinheitlichung einzelner oder aller Bestandteile und/oder der Höhe der Löhne und Gehälter“ noch einer „Einführung eines gemeinschaftlichen Mindestlohns“ gleichzusetzen ist. Bezüglich des Terminus „gemeinschaftlicher Mindestlohn“ ist Franzen mit der Ergänzung zuzustimmen, dass damit kein unionsweiter einheitlicher Mindestlohn in absoluter Form gemeint sein kann. Ausgehend vom Erfordernis der engen Auslegung kann entgegen der Ansicht Franzens aber nicht schon bei Orientierungsleitlinien die Rede von einem „gemeinschaftlichen Mindestlohn“ sein. Passender erscheint es daher, den Begriff „gemeinschaftlicher Mindestlohn“ als unionsweiten einheitlichen Mindestlohn in relativer Form zu verstehen. Und einen solchen führt die ML-RL nicht ein, da die Mitgliedstaaten die Referenzwerte selbst wählen, sodass diese nicht unionsweit einheitlich sind bzw sein müssen. Durch Art 5 ML-RL kommt es ebenso zu keiner „Vereinheitlichung einzelner oder aller Bestandteile“: Durch die vier zu berücksichtigenden Aspekte kommt es zwar zu einer Annäherung, von einer tatsächlichen Vereinheitlichung kann aber aufgrund der Möglichkeit der Mitgliedstaaten, die Aspekte selbst zu gewichten, nicht gesprochen werden. Im Ergebnis ist Art 5 ML-RL daher nicht als unmittelbare Regelung des Arbeitsentgelts iSd EuGH-Judikatur zu qualifizieren.

Neben Art 5 ML-RL wird/wurde eine unmittelbare Regelung des Arbeitsentgelts auch in den Art 6 und 16 ML-RL gesehen. Art 6 im Vorschlag für die ML-RL verlangte nicht nur, dass Abweichungen diskriminierungsfrei und verhältnismäßig sind, sondern auch, dass sich diese auf ein Minimum beschränken, zeitlich begrenzt sowie objektiv und angemessen sind. Aufgrund dieser doch eingriffsträchtigen Voraussetzungen wurde Art 6 im Vorschlag für die ML-RL daher (zu Recht) als problematisch eingestuft.* Die jetzige Vorgabe, wonach nur noch die Grundsätze der Nichtdiskriminierung und der Verhältnismäßigkeit einzuhalten sind, beschränkt die Mitgliedstaaten aber jedenfalls nicht in einer Weise, die einem unmittelbaren Eingriff in die Lohnfestsetzung gleichzusetzen ist.

Im Regressionsverbot (Art 16 ML-RL) wird eine unmittelbare Regelung des Arbeitsentgelts sodann insofern gesehen, als angenommen wird, dieses Verbot bewirke, dass eine Abschaffung von bestehenden gesetzlichen Mindestlöhnen nicht mehr möglich ist. Dadurch greife die Union unmittelbar in die Festsetzung der Arbeitsentgelte ein. Argumentiert wird, dass Mitgliedstaaten mit bestehendem gesetzlichen Mindestlohn gegen die Zielrichtung und Grundtendenz der ML-RL verstoßen würden, wenn sie den gesetzlichen Mindestlohn wieder abschaffen und auf andere Instrumente für den Mindestlohnschutz setzen würden.*

Dieser Argumentation kann jedoch nicht gefolgt werden:* Regressionsverbote beziehen sich nach der Judikatur des EuGH nur auf die Richtlinienumsetzung. Eine Verringerung des den AN in den Mitgliedstaaten bereits jetzt gewährten allgemeinen Schutzniveaus ist daher nur unzulässig, wenn diese in einem Zusammenhang mit der Umsetzung der RL steht. Stützen die Mitgliedstaaten Entscheidungen, die zu einer Verringerung des Schutzniveaus führen – wobei der von der RL vorgesehene Mindestschutz natürlich nicht unterschritten werden darf –, auf ein anderes notwendiges Ziel, ist der erforderliche Zusammenhang nach der Judikatur nicht gegeben, sodass kein Verstoß gegen das Regressionsverbot vorliegt.* Der von der ML-RL vorgesehene Mindestschutz kann dabei nicht in einem Bestehen bzw Bestehenbleiben von gesetzlichen Mindestlöhnen liegen, da die ML-RL gerade nicht zur Einführung von gesetzlichen Mindestlöhnen verpflichtet. Vielmehr liegt der von der ML-RL vorgesehene Mindestschutz in der Angemessenheit der Mindestlöhne, welche durch die drei – oben näher besprochenen – Kernbereiche sichergestellt werden soll. Durch die Abschaffung eines bestehenden gesetzlichen Mindestlohns würde der Mindestschutz daher nur unterschritten, wenn die Angemessenheit der Mindestlöhne nicht auf andere Weise sichergestellt ist bzw wird. Im Ergebnis ist die Abschaffung eines gesetzlichen Mindestlohns daher nicht unmöglich, sodass es sich bei 15 Art 16 ML-RL um keine unmittelbare Regelung des Arbeitsentgelts handeln kann. Diese Auslegung von Art 16 ML-RL ist iS einer primärrechtskonformen und kompetenzwahrenden Auslegung jedenfalls vorzuziehen.

3.2.
Regelt die Mindestlohn-Richtlinie das Koalitions- und Streikrecht?

Neben dem Arbeitsentgelt nimmt Art 153 Abs 5 AEUV auch das Koalitions- und Streikrecht von der Rechtsetzungskompetenz der Union aus. Auch diese beiden Ausnahmen sind eng auszulegen; dies vor allem auch mit Blick auf die Kompetenz in Art 153 Abs 1 lit f AEUV.*

In der Literatur wird nun vertreten, dass die Vorgaben zur Förderung von Tarifverhandlungen in Art 4 ML-RL eine Regelung des Koalitions- bzw Streikrechts darstellen, sodass der Union die Kompetenz für eine solche Regelung fehle. Konkret wird argumentiert, dass zwischen dem Tarifverhandlungsrecht einerseits und dem Koalitionsrecht sowie dem Streikrecht andererseits ein so enger sachlicher Zusammenhang bestehe, dass im Ergebnis auch das Tarifverhandlungsrecht – wenngleich nicht explizit in Art 153 Abs 5 AEUV angeführt – von der Kompetenzausnahme erfasst sei.* Gleichzeitig wird aber darauf hingewiesen, dass der EuGH bei einer engen Auslegung durchaus zu dem Ergebnis kommen könnte, dass das Tarifverhandlungsrecht nicht von Art 153 Abs 5 AEUV umfasst ist.* Aber selbst wenn der EuGH nicht zu diesem Ergebnis kommen würde, wird man die näheren Ausführungen, die der EuGH zum Arbeitsentgelt getroffen hat, wohl auch insoweit auf das Koalitions- und Streikrecht übertragen müssen, als sich Art 153 Abs 5 AEUV nicht auf alle Fragen, die mit dem Koalitions- und Streikrecht in irgendeinem Zusammenhang stehen, erstrecken kann.*

Ansonsten würde auch die Kompetenz in Art 153 Abs 1 lit f AEUV ihrer Sinnhaftigkeit beraubt. Es liegt im nächsten Schritt daher nahe, das für das Arbeitsentgelt geschaffene Unmittelbarkeitskriterium auch auf das Koalitions- und Streikrecht zu übertragen. Nachdem Art 4 ML-RL nur eine Verpflichtung enthält, Tarifverhandlungen zu fördern, nicht aber etwa Tarifverträge abzuschließen oder Koalitionen zu bilden, und – wie oben angemerkt – zudem äußerst weit formuliert ist, ist Art 4 ML-RL keinesfalls als unmittelbare Regelung des Koalitions- oder Streikrechts zu qualifizieren, sodass die ML-RL die Kompetenzschranke jedenfalls wahren würde.

3.3.
Wurde die Mindestlohn-Richtlinie auf die richtige Kompetenzgrundlage gestützt?

Im Schrifttum wird darüber hinaus zum Teil die Meinung vertreten, die ML-RL sei auf die falsche Kompetenzgrundlage gestützt worden. Dies, weil die in Art 4 ML-RL vorgesehene Förderpflicht von Tarifverhandlungen keine „Arbeitsbedingung“ iSd Art 153 Abs 1 lit b AEUV darstelle. Einschlägig sei hier vielmehr Art 153 Abs 1 lit f AEUV.* Nachdem die ML-RL zwei gleichwertige Ziele (Förderung von Tarifverhandlungen sowie Sicherung angemessener gesetzlicher Mindestlöhne) verfolge und die Gesetzgebungsverfahren von Art 153 Abs 1 lit b und lit f AEUV miteinander unvereinbar seien, hätte – der Rsp des EuGH entsprechend* – lit f aufgrund der besonderen Stimmerfordernisse im Rat als spezifischere Bestimmung als Kompetenzgrundlage herangezogen werden müssen.* Dieser Meinung kann jedoch nicht gefolgt werden, da ihr eine schlichtweg falsche rechtliche Beurteilung zugrunde liegt: Genau genommen verfolgt die ML-RL nämlich nicht zwei Ziele, sondern nur ein Ziel – die Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen in der Union (Art 1 Abs 1). Dazu nimmt die ML-RL – wie oben schon ausgeführt – drei Kernbereiche in Angriff. Der Schwerpunkt in diesen Kernbereichen liegt dabei sowohl quantitativ* als auch qualitativ* bei den Vorschriften zum gesetzlichen Mindestlohn. Um die Förderung von Tarifverhandlungen geht es in der ML-RL nur sekundär.* Dies kommt letztlich schon im Titel der RL zum Ausdruck. Die ML-RL wurde daher richtigerweise auf Art 153 Abs 1 lit b AEUV gestützt.*

4.
Die Auswirkungen der Mindestlohn-Richtlinie auf Österreich

Wirft man nur einen kurzen, oberflächlichen Blick auf die ML-RL und die Ausgangslage in Österreich kann man durchaus zu dem Ergebnis kommen, dass sich die ML-RL in Österreich praktisch nicht auswirkt und kein Umsetzungsbedarf besteht.* Analysiert man die ML-RL und die Rechtslage in Österreich aber genauer, ergibt sich ein differenziertes Bild:

Betrachtet man zunächst den ersten Kernbereich (Art 4 ML-RL), ist festzustellen, dass in Österreich – aufgrund einer tarifvertraglichen Abdeckung von etwa 98 % – die zusätzlichen Maßnahmen in Abs 2 16

nicht beachtet werden müssen.* Auch mit Blick auf die Maßnahmen in Abs 1 besteht in Österreich kein Umsetzungsbedarf: Die hohe tarifvertragliche Abdeckung spricht selbst dafür, dass in Österreich ausreichend Maßnahmen zur Förderung von Tarifverhandlungen bestehen. Auch entsprechende Schutzmechanismen finden sich bereits im österreichischen Recht.*

Betrachtet man hingegen den zweiten Kernbereich genauer, ist festzustellen, dass die ML-RL in Art 3 Z 2 selbst definiert, was ein gesetzlicher Mindestlohn ist. Auf einen einheitlichen Mindestlohn kommt es dabei gerade nicht an, vielmehr ist jeder „gesetzlich oder durch andere verbindliche Rechtsvorschriften festgelegte Mindestlohn“ ein gesetzlicher Mindestlohn. Ausgenommen sind nur die „tarifvertraglichen Mindestlöhne, die für allgemein verbindlich erklärt wurden, ohne dass die die Allgemeinverbindlichkeit erklärende Behörde über einen Ermessensspielraum bezüglich des Inhalts der anwendbaren Bestimmungen verfügt“. Ausgehend von dieser Definition sind auch gewisse Entgeltregelungen in Österreich als gesetzlicher Mindestlohn iSd ML-RL zu qualifizieren:* Dies trifft zunächst auf den Mindestlohntarif gem § 22 ArbVG und das Lehrlingseinkommen gem § 26 ArbVG zu. Beide Entgeltregelungen werden vom Bundeseinigungsamt festgesetzt und sind nach gehöriger Kundmachung im BGBl II unmittelbar rechtsverbindlich.* Nachdem Mindestlohntarif und Lehrlingseinkommen also gesetzliche Mindestlöhne iSd ML-RL darstellen, stellt sich im nächsten Schritt die Frage, ob die Vorgaben aus Art 5 ML-RL hier (noch) umgesetzt werden müssen. Im Bereich des Mindestlohntarifs ist bei der Festsetzung der Mindestentgelte ua auf deren „Angemessenheit“ Bedacht zu nehmen (§ 23 ArbVG). Bei der Prüfung der „Angemessenheit“ ist dabei ähnlich vorzugehen wie bei der Prüfung des „angemessenen Entgelts“ nach § 1152 ABGB.* Es ist daher primär auf den Kollektivvertragslohn für vergleichbare Tätigkeiten bzw ein ortsübliches Entgelt abzustellen, wenn dieses höher ist als der Kollektivvertragslohn.*

Auf den Begriff „Angemessenheit“ stellt – wie oben ausgeführt – nun aber auch die ML-RL in Art 5 ab und schreibt diesbezüglich die Festlegung von Kriterien und Referenzwerten vor. Da sich für diese Kriterien und Referenzwerte in der ML-RL durchaus auch konkrete Anhaltspunkte (zB 60 % des Bruttomedianlohns, 50 % des Bruttodurchschnittslohns, Kaufkraft, Wachstumsrate etc*) ergeben, kann und wird (bei Nichtumsetzung von Art 5 ML-RL) § 23 ArbVG daher iSd Art 5 ML-RL (richtlinienkonform) interpretiert werden müssen.*

Ein anderes Bild ergibt sich hingegen mit Blick auf das Lehrlingseinkommen: Bei dessen Festsetzung wird „auf die für gleiche, verwandte oder ähnliche Lehrberufe geltenden Regelungen, sofern solche nicht bestehen, auf den Ortsgebrauch“ abgestellt. Hier müsste man dem Begriff „Ortsgebrauch“ bei einer richtlinienkonformen Auslegung ein Angemessenheitskriterium unterstellen, über welches die Vorgaben der ML-RL Berücksichtigung finden können. Ob dadurch nicht die Grenzen zulässiger Interpretation* überschritten werden, ist aber sehr fraglich. Im ArbVG besteht daher ein Umsetzungsbedarf der ML-RL iS einer Festlegung von Kriterien, Aspekten und Referenzwerten nach Art 5 ML-RL. Anbieten würden sich dafür die §§ 23 und 26 ArbVG.

Weniger eindeutig ist die Rechtslage im Hinblick auf gesetzliche Mindestlöhne iSd ML-RL sodann bei der Satzung gem § 18 ArbVG sowie bei den Entgeltbestimmungen im öffentlichen Dienst: Die Satzung ließe sich auf den ersten Blick grundsätzlich sehr gut unter die Ausnahmebestimmung für allgemein verbindlich erklärte tarifvertragliche Mindestlöhne (Art 3 Z 2 ML-RL) subsumieren. Fraglich ist jedoch, ob die Möglichkeit nach § 18 Abs 2 ArbVG, auch nur einzelne Bestimmungen des KollV zur Satzung zu erklären, einen Ermessensspielraum schafft, welcher der Subsumtion unter die Ausnahmebestimmung entgegensteht. Davon ist nicht auszugehen, da diese Möglichkeit gleichzeitig dadurch beschränkt wird, dass einzelne Kollektivvertragsbestimmungen nicht aus einem unmittelbaren rechtlichen und sachlichen Zusammenhang gelöst werden dürfen (§ 18 Abs 2 ArbVG). Einzelne Entgeltbestimmungen zu übernehmen und andere nicht, ist folglich nicht möglich, sodass im Ergebnis kein Ermessensspielraum im Hinblick auf das Entgelt besteht. Und nur ein solcher Ermessensspielraum könnte der Subsumtion unter die Ausnahmebestimmung sinnvollerweise entgegenstehen, da nur in diesem Fall nicht mehr sichergestellt wäre, dass die Mindestlöhne angemessen sind.* Die Ausübung anderer Ermessensspielräume, die in keinem Zusammenhang mit dem Entgelt stehen (zB die [Nicht-]Übernahme bestimmter arbeitszeitrechtlicher Regelungen im KollV), kann der Subsumtion unter die Ausnahmebestimmung hingegen nicht entgegenstehen. Im Ergebnis ist die Satzung daher unter die Ausnahmebestimmung zu subsumieren.

Offen ist darüber hinaus die Rechtslage im öffentlichen Dienst: Zwar wird in Österreich die Entlohnung auch im öffentlichen Dienst von einer Gewerkschaft verhandelt, die Verhandlungsergebnisse werden aber anschließend nicht in einem KollV festgehalten, sondern in Gesetzesform gegossen (zB VBG). Nimmt man eine sehr formalistische 17 Perspektive ein und stellt man nur auf den Wortlaut der ML-RL in Art 3 Z 2 ab, sind daher auch die Entgeltbestimmungen im öffentlichen Dienst gesetzlich festgelegte Mindestlöhne und gerade keine allgemein verbindlich erklärten tarifvertraglichen Mindestlöhne iSd Art 3 Z 2 ML-RL, die unter die Ausnahmebestimmung fallen könnten. Stellt man hingegen auf den Zweck der Ausnahmebestimmung ab – nämlich allgemein verbindliche, aber verhandelte Mindestentgelte auszunehmen –, wäre es wohl auch vertretbar, diese auf die Entgeltbestimmungen im öffentlichen Dienst zu erstrecken. Geht man nun vom formalistischen Standpunkt aus, ist eine Umsetzung von Art 5 ML-RL – idR mangels Spielraums für eine richtlinienkonforme Interpretation – auch in den Gesetzen des öffentlichen Dienstes notwendig, wenngleich aufgrund der Vielzahl der Entgeltregelungen im öffentlichen Dienst hier keine pauschale Aussage möglich ist. Im VBG finden sich aber beispielsweise überhaupt keine Bestimmungen über die Zusammensetzung der Höhe des Entgelts, die man gegebenenfalls richtlinienkonform interpretieren könnte, sodass jedenfalls ein Umsetzungsbedarf besteht. Naheliegen würde es hier wohl, den verschiedenen Entlohnungsschemata in den Gesetzen des öffentlichen Dienstes eine entsprechende Umsetzungsbestimmung voranzustellen.

Zu berücksichtigen wird man Art 5 ML-RL in der Zukunft darüber hinaus bei der Interpretation des § 1152 ABGB zu haben. Nach § 1152 ABGB gilt ein angemessenes Entgelt als bedungen, wenn vertraglich weder ein Entgelt noch Unentgeltlichkeit vereinbart wurden. Bei § 1152 ABGB handelt es sich zwar offensichtlich um keinen gesetzlichen Mindestlohn iSd ML-RL (Art 3 Z 1 und Z 2 ML-RL), da diese Bestimmung kein Mindestentgelt festlegt und darüber hinaus dispositiv ist (vgl § 1164 Abs 1 ABGB). Dennoch verlangt das Unionsrecht, dass der gesamte nationale Rechtsbestand richtlinienkonform auszulegen ist.* Zudem besteht – wie oben schon angesprochen – eine Auslegungsparallele zwischen dem Begriff „Angemessenheit“ in § 23 ArbVG und dem Begriff „angemessenes Entgelt“ in § 1152 ABGB,* wobei § 23 ArbVG – nach der hier vertretenen Auffassung – nach Ablauf der Umsetzungsfrist* jedenfalls richtlinienkonform zu interpretieren ist. Würde Art 5 ML-RL bei der Auslegung von § 1152 ABGB in Zukunft nicht berücksichtigt werden, käme es (plötzlich) zu einer gespaltenen Auslegung zweier, beinahe identer Begriffe, die wenig gerechtfertigt erscheint. Ein stimmiges Ergebnis wird daher nur erreicht, wenn Art 5 ML-RL auch bei der Auslegung des Begriffs „angemessenes Entgelt“ in § 1152 ABGB beachtet wird.

Keiner Umsetzung im zweiten Kernbereich bedarf hingegen Art 6 ML-RL. Gesetzliche Abzüge und Abweichungen vom Mindestlohn müssten in Österreich ohnehin in Einklang mit der Verfassung stehen. Ausgehend vom Gleichheitssatz (insb Art 7 B-VG) müssten diese diskriminierungsfrei und verhältnismäßig sein.*

Ähnlich wie der erste Kernbereich erfordert letztlich auch der dritte Kernbereich keine Umsetzung in Österreich:* AN können ihre Rechte bereits klagsweise vor den ordentlichen Arbeits- und Sozialgerichten durchsetzen und sind über § 879 ABGB bzw § 105 Abs 3 Z 1 lit i ArbVG vor Benachteiligung geschützt. Sanktionen sind ebenso schon im Lohnund Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz (LSD-BG) verankert, wobei sich seit deren Novellierung (BGBl I 2021/174) im Schrifttum (zu Recht) die Frage stellt, ob die Strafen noch abschreckend sind.*

Neben den eben beschriebenen „direkten“ Auswirkungen könnte sich die ML-RL darüber hinaus durchaus auch „indirekt“ auf die Kollektivvertragsverhandlungen in Österreich auswirken, indem die in Art 5 Abs 2 und Abs 4 ML-RL festgelegten Aspekte und Referenzwerte als normative Orientierungsmarke für die Mindestlohnpolitik den Forderungen der Gewerkschaften im Hinblick auf angemessene, kollektivvertragliche Mindestlöhne zusätzlich Nachdruck verleihen.*

5.
Fazit

Nach der hier vertretenen Ansicht ist die ML-RL in ihrer verabschiedeten Form nicht (mehr) kompetenz widrig. Die ML-RL regelt weder das Arbeitsentgelt noch das Koalitions- und Streikrecht in unmittelbarer Weise – die Kompetenzschranke des Art 153 Abs 5 AEUV wird gewahrt. Auch wurde die ML-RL vom Richtliniengesetzgeber nicht auf eine falsche Kompetenzgrundlage gestützt. Auf eine endgültige Antwort zur Frage der Kompetenzwidrigkeit der ML-RL wird man aber nicht mehr allzu lange warten müssen, nachdem Dänemark* am 18.1.2023 bereits Klage gegen das Europäische Parlament und den Rat eingereicht hat.*

Da die Klage – nach dem hier vertretenen Standpunkt – jedoch ohne Aussicht auf Erfolg ist und sich die Umsetzungsfrist ihrem Ende nähert, ist ein Handeln der nationalen Gesetzgeber gefragt. Der österreichische Gesetzgeber ist davon nicht ausgenommen. Entgegen dem ersten Anschein wirkt sich die ML-RL nämlich auch auf bestimmte Entgeltregelungen (Mindestlohntarif, Lehrlingseinkommen sowie tendenziell auch die Entgeltbestimmungen im öffentlichen Dienst) in Österreich aus und macht dort eine Umsetzung der Vorgaben zu den gesetzlichen Mindestlöhnen erforderlich. Der österreichische Gesetzgeber hat die Rechtslage in Österreich daher alsbald in Einklang mit den Anforderungen der ML-RL zu bringen. 18