23Rückwirkender Anspruch auf Waisenpension auch bei Säumigkeit des Erwachsenenvertreters
Rückwirkender Anspruch auf Waisenpension auch bei Säumigkeit des Erwachsenenvertreters
Aus dem Wortlaut, der historischen Entwicklungen und teleologischen Erwägungen folgt, dass durch die Bestimmung in § 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG Minderjährige und eingeschränkt geschäftsfähige Erwachsene vor denselben Gefahren geschützt werden sollen. Da dazu die Säumigkeit eines gesetzlichen Vertreters mit der Antragstellung zählt, besteht auch für durch einen Erwachsenenvertreter vertretene Erwachsene die Möglichkeit einer rückwirkenden Antragstellung.
Für einen bei Ablauf der Frist des § 86 Abs 3 Z 1 Satz 1 ASVG in seiner Geschäftsfähigkeit beeinträchtigten Antragsteller beginnt die sechsmonatige Antragsfrist auch dann erst mit Wiedererlangung der vollen Geschäftsfähigkeit zu laufen, wenn für ihn ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter bestellt ist.
Der 1994 geborene Kl litt bereits im Alter von sechs Jahren an einem ADHS-Syndrom, Konzentrationsstörungen sowie einem Schulleistungsdefizit. Spätestens ab Ende 2011 war er nicht mehr in der Lage, einer Erwerbstätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt nachzugehen. Derzeit leidet er an einer paranoiden Schizophrenie und einer Polytoxikomanie (Cannabis, Opioide, Alkohol). Am 5.1.2021 wurde für den Kl ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter bestellt. Seit August 2021 befindet er sich in Strafhaft.
Am 6.12.2021 beantragte der Kl eine Waisenpension nach seinem am 23.2.2020 verstorbenen Vater. Mit Bescheid vom 13.12.2021 lehnte die Bekl den Antrag des Kl mangels Erwerbsunfähigkeit ab.
Die Kl begehrte die Leistung der Waisenpension ab 24.2.2020. Das Erstgericht stellte die Erwerbsunfähigkeit fest und erkannte die Bekl schuldig, dem Kl ab 6.12.2021 (Tag der Antragstellung) eine Waisenpension in gesetzlicher Höhe zu zahlen, die jedoch für den Zeitraum seiner Inhaftierung (ab August 2021) ruhe.
Das Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil und stellte ergänzend fest, dass für den Kl ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter nach §§ 271 f ABGB, ua für die Vertretung vor Ämtern und Behörden, bestellt wurde. Daraus sowie aus den vom Erstgericht betroffenen Feststellungen könne man ableiten, dass der Kl zumindest seit dem Tod seines Vaters in seiner Geschäftsfähigkeit eingeschränkt sei. Trotz Schutzbedürftigkeit habe der Kl jedoch durch den gerichtlichen Erwachsenenvertreter am Rechtsverkehr teilnehmen können, was nach der Regelung des § 1494 Abs 1 ABGB einer Fristenhemmung entgegenstehe. Im Gleichklang dazu sei auch § 86 Abs 3 Z 1 ASVG so auszulegen, dass die dort normierte Sechsmonatsfrist für die Antragstellung, bei deren Einhaltung die Waisenpension schon ab dem dem Tod des Elternteils folgenden Tag zustehe, auch dann zu laufen beginne, wenn für den Hinterbliebenen ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter bestellt sei, in dessen Aufgabenbereich die Antragstellung falle. Im Anlassfall sei die Frist demnach durch die Bestellung vom 5.1.2021 in Gang gesetzt worden, sodass das Erstgericht die Pension zu Recht erst ab dem Tag der Antragstellung zuerkannt habe.
Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil zur Frage, wann die Frist des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG beginne, wenn für den Antragsteller ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter bestellt sei, noch keine höchstgerichtliche Rsp vorliege.
Laut OGH ist die Revision zulässig und auch berechtigt. Dem Klagebegehren, eine Waisenpension bereits ab 24.2.2020 zu gewähren, war stattzugeben.
1. Hinterbliebenenpensionen fallen grundsätzlich mit dem dem Todestag folgenden Tag an, wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach dem Todestag gestellt wird, bei späterer Antragstellung mit dem Tag der Antragstellung (§ 86 Abs 3 Z 1 Satz 1 und 2 ASVG). Ist die anspruchsberechtigte Person bei Ablauf 37 dieser Frist minderjährig oder in ihrer Geschäftsfähigkeit eingeschränkt, so endet die Frist hingegen mit Ablauf von sechs Monaten nach Eintritt der Volljährigkeit oder dem Wiedererlangen der Geschäftsfähigkeit (§ 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG).
2. Wie der Kläger zu Recht einwendet, hängt der Beginn des Fristenlaufs nach dem Wortlaut des § 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG nur davon ab, dass einerseits Minderjährige die Volljährigkeit und anderseits eingeschränkt Geschäftsfähige ihre volle Geschäftsfähigkeit wiedererlangen. In keinem der beiden Fälle stellt das Gesetz hingegen darauf ab, ob der Antragsteller über einen gesetzlichen Vertreter oder einen Erwachsenenvertreter verfügt, der den Antrag auf Gewährung der Waisenpension für ihn stellen kann, sodass er mit Hilfe des Vertreters am Rechtsverkehr teilnehmen kann.
3. Das Berufungsgericht und ihm folgend die Beklagte stellen das zwar nicht in Frage. Sie gehen aus systematischen Erwägungen im Zusammenhang mit §§ 239 ff und § 1494 ABGB jedoch davon aus, dass die Regelung trotz des keine Einschränkungen in diese Richtung aufweisenden Wortlauts nur solche nicht voll geschäftsfähige Personen erfasse, die keinen gesetzlichen Vertreter haben. […]
4.1. […] Nach § 86 Abs 3 Z 1 ASVG idF des SRÄG 1993 fiel die Waisenpension im Fall einer nicht fristgerechten (dh innerhalb von sechs Monaten nach dem Tod des Elternteils) erfolgten Antragstellung mit dem Eintritt des Versicherungsfalls bzw dem darauf folgenden Monatsersten an, sofern der Antrag längstens bis zum Ablauf von sechs Monaten nach dem Eintritt der Volljährigkeit der Waise gestellt wurde. Zu dieser Rechtslage verwies der Oberste Gerichtshof wiederholt darauf, dass das erklärte Ziel dieser Regelung darin lag, minderjährige Waisen, die selbst keinen Antrag stellen können, vor Rechtsverlusten infolge einer verspäteten Antragstellung ihrer gesetzlichen Vertreter zu schützen (ErläutRV 932 BlgNR 28. GP 48; OGH10 ObS 91/06i SSV-NF 20/41; OGH10 ObS 92/97w SSV-NF 11/156; 10 ObS 260/95 SSV-NF 10/6). Der Oberste Gerichtshof stellte auch mehrfach klar, dass diese Regelung nur Minderjährige, nicht aber Person erfasste, die wegen einer geistigen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage waren, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen (RS0053931 [T1, T4]).
4.2. Mit Erkenntnis vom 4. Dezember 2017, G 125/2017, VfSlg 20.224, hob der Verfassungsgerichtshof in § 86 Abs 3 Z 1 idF BGBl I 2015/2 im ersten Satz die Wortfolge „wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalls gestellt wird“ und den zweiten bis sechsten Satz (mit Wirkung vom 30. Juni 2018) als verfassungswidrig auf. Die Gleichheitswidrigkeit erkannte er darin, dass sich eine aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung geschäfts- oder prozessunfähige (volljährige) Person in einer mit einer minderjährigen Person rechtlich vergleichbaren Lage befinde, weshalb kein sachlicher Grund dafür zu erkennen sei, dass der Gesetzgeber zwar weitreichende Schutzvorschriften für Minderjährige, nicht aber für den genannten Kreis von volljährigen Personen vorsehe. […]
4.3. Der Gesetzgeber reagierte darauf mit Schaffung des – seit 15. August 2018 geltenden – § 86 Abs 3 Z 1 ASVG durch das Erwachsenenschutz-Anpassungsgesetz für den Bereich des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz (ErwSchAG BMASGK), BGBl I 2018/59. Nach den Gesetzesmaterialien (Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales) sollte dabei nur die vom Verfassungsgerichtshof aufgezeigte Ungleichbehandlung geschäftsunfähiger volljähriger Personen beseitigt, diese also gleich behandelt werden wie Minderjährige (AB 231 BlgNR 26. GP 2). […] Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber sein ursprüngliches Ziel, Minderjährige vor der Säumigkeit ihres gesetzlichen Vertreters zu schützen, aufgegeben haben soll. Vielmehr sollte die Sonderregel auf eingeschränkt geschäftsfähige volljährige Personen ausgedehnt werden, ohne dass in diesem Fall ein anderer Schutzgedanke ins Treffen geführt worden wäre.
4.4. Daran ändern auch die vom Berufungsgericht angestellten systematischen Überlegungen im Zusammenhang mit § 1494 Abs 1 ABGB nichts.
Nach der, mit dem 2. Erwachsenenschutz-Gesetz (2. ErwSchG), BGBl I 2017/59, novellierten Bestimmung des § 1494 Abs 1 ABGB soll die Ersitzungs- und Verjährungszeit gegenüber einer volljährigen, in ihrer Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigten Person nicht nur mit dem Wiedererlangen der Entscheidungsfähigkeit, sondern auch dann zu laufen beginnen, wenn ein gesetzlicher Vertreter die Rechte wahrnehmen kann. Der Gesetzgeber stellt in diesem Kontext also die Möglichkeit der Wahrnehmung von Rechten durch einen gesetzlichen Vertreter dem Wiedererlangen der Entscheidungsfähigkeit gleich. Daraus kann aber noch nicht auf eine (planwidrige) Unvollständigkeit des § 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG geschlossen werden. Mit dem ErwSchAG BMASGK – mit dem § 86 Abs 3 Z 1 ASVG novelliert wurde – sollten nämlich die Materiengesetze bloß an die durch das 2. ErwSchG eingeführten Vertretungsmodelle und dessen Terminologie angepasst werden (AB 231 BlgNR 26. GP 2). Es kann daher davon ausgegangen werden, dass dem Gesetzgeber die mit dem 2. ErwSchG geschaffene Regelung des § 1494 Abs 1 ABGB bekannt war und er in § 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG bewusst keine gleichlautende Regelung geschaffen, sondern nur auf das Wiedererlangen der Geschäftsfähigkeit abgestellt hat. Die Voraussetzungen für eine Gesetzeslücke liegen daher nicht vor. […]
5. Zusammenfassend folgt aus dem Wortlaut, der historischen Entwicklung und teleologischen Erwägungen, dass durch § 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG Minderjährige und eingeschränkt geschäftsfähige Erwachsene vor denselben Gefahren geschützt werden sollen. Da dazu die Säumigkeit eines gesetzlichen Vertreters mit der Antragstellung zählt, besteht auch für durch einen Erwachsenenvertreter vertretene Erwachsene die(-selbe) Möglichkeit einer rückwirkenden Antragstellung. 38
Insgesamt lässt sich daher folgender Rechtssatz formulieren: Für einen bei Ablauf der Frist des § 86 Abs 3 Z 1 Satz 1 ASVG in seiner Geschäftsfähigkeit beeinträchtigten Antragsteller beginnt die sechsmonatige Antragsfrist auch dann erst mit Wiedererlangung der vollen Geschäftsfähigkeit zu laufen, wenn für ihn ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter bestellt ist.
Gegenstand der E war die Auslegung der Anfallsbestimmungen für Hinterbliebenenpensionen in § 86 Abs 1 Z 3 ASVG. Die entsprechenden Pensionsleistungen fallen nach dieser Bestimmung – rückwirkend – mit dem dem Eintritt des Versicherungsfalles (dh des Todes) folgenden Tag an, wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalles beim zuständigen Versicherungsträger gestellt wird. Für minderjährige und geschäftsunfähige Personen beginnt diese sechsmonatige Antragsfrist jedoch erst ab Eintritt der Volljährigkeit bzw ab Wiedererlangung der Geschäftsfähigkeit.
Der OGH hat sich im gegenständlichen Fall mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Frist von sechs Monaten für geschäftsunfähige Personen auch dann zu laufen beginnt, wenn die Person selbst zwar nicht die Geschäftsfähigkeit (wieder-)erlangt, jedoch aufgrund der Bestellung eines gerichtlichen Erwachsenenvertreters wieder eine Teilnahme der vertretenen Person am Rechtsverkehr ermöglicht wird.
In der vorliegenden E stellt der OGH eindeutig fest, dass § 86 Abs 1 Z 3 ASVG vom Gesetzgeber bewusst so gestaltet ist und keine Sonderregelung für die Bestellung eines gesetzlichen oder gerichtlichen Vertreters trifft. Dem Gesetzeswortlaut und den Materialien folgend enthält die Bestimmung im Vergleich zu anderen Regelungen für gesetzliche Fristen (zB § 1494 Abs 1 ABGB) gerade kein Auslösen des Fristlaufs durch Bestellung des Erwachsenenvertreters.
Im gegenständlichen Fall war die Antragstellung am 6.12.2021 aufgrund der mangelnden Geschäftsfähigkeit demnach trotz wirksamer Erwachsenenvertretung seit Mai 2019 (letzte Bestellung am 5.1.2021) rechtzeitig, weil die Frist von sechs Monaten mangels Wiedererlangung der Geschäftsfähigkeit nicht zu laufen begonnen hat. Die Waisenpension gebührt dem Kl daher rückwirkend ab dem dem Eintritt des Versicherungsfalles (Tod des Vaters) folgenden Tag, dh ab dem 24.2.2020.