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Keine Verwirkung des Anspruchs auf Waisenpension bei Mord im Zustand fehlender Zurechnungsfähigkeit

PIA ANDREAZHANG

Eine im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit begangene Tat erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 88 Abs 1 Z 2 ASVG und führt daher nicht zu einer Verwirkung von Ansprüchen.

Sachverhalt

Bei dem 1989 geborenen Kl kommt es seit dem 16. Lebensjahr zu Symptomen einer paranoiden Schizophrenie. Begonnen hat es mit akustischen Halluzinationen, im weiteren Verlauf kamen visuelle Halluzinationen und die Entwicklung eines Wahnsystems dazu. Eine Symptomfreiheit konnte selbst unter kontrollierten Bedingungen nicht erreicht werden.

Mit Urteil des LG für Strafsachen Wien als Geschworenengericht vom 21.2.2019 wurde der Kl in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB eingewiesen. Unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustandes hat er am 21.9.2018 seinen Vater vorsätzlich getötet. Seit 21.2.2019 befindet er sich im Maßnahmenvollzug.

Verfahren und Entscheidung

Die Bekl lehnte mit Bescheid vom 24.2.2022 den Antrag des Kl auf Waisenpension wegen Verwirkung des Leistungsanspruchs ab. Dagegen brachte er Klage ein und verwies darauf, dass bei Personen, die sich im Maßnahmenvollzug nach § 21 Abs 1 StGB befinden, kein Ruhen der Leistungsansprüche nach § 89 ASVG normiert wird. Analog dazu könne der Anspruch auch nicht verwirkt werden.

Die Bekl wies darauf hin, dass der Kl wegen Begehung einer mit mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe bedrohten Vorsatztat rechtskräftig verurteilt worden sei. Dass statt Verhängung der Strafe ein Maßnahmenvollzug angeordnet wurde, ändere nichts an der Verwirkung nach § 88 Abs 1 Z 2 ASVG.

Das Erstgericht gab der Klage statt und verneinte eine Verwirkung nach § 88 Abs 1 Z 2 ASVG mangels Zurechnungsfähigkeit.

Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren ab und begründete dies damit, dass trotz Zurechnungsunfähigkeit eine mit Vorsatz begangene gerichtlich strafbare Handlung vorliege. Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil zur Frage, ob eine Verwirkung nach § 88 Abs 1 Z 2 ASVG ausscheide, wenn es wegen der Zurechnungsunfähigkeit des Täters nicht zu einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe komme, noch keine Rsp des OGH vorliege. 39

Die Revision des Kl, mit der er die Stattgebung der Klage beantragte, ist zulässig und berechtigt.

Originalzitate aus der Entscheidung

„[…] 2. Nach § 88 Abs 1 Z 2 ASVG steht ein Anspruch auf Geldleistungen aus dem betreffenden Versicherungsfall Personen nicht zu, die den Versicherungsfall durch die Verübung einer mit Vorsatz begangenen gerichtlich strafbaren Handlung veranlasst haben, derentwegen sie zu einer mehr als einjährigen Freiheitsstrafe rechtskräftig verurteilt worden sind. Das Erfordernis eines rechtskräftigen Strafurteils entfällt, wenn ein solches wegen des Todes, der Abwesenheit oder eines anderen in der betreffenden Person liegenden Grundes nicht gefällt werden kann (§ 88 Abs 3 ASVG).

3. Dem Berufungsgericht ist beizupflichten, dass die Schuldfähigkeit keine Voraussetzung für die Bildung eines Vorsatzes im Sinn des § 5 StGB ist […].

4. Daraus sowie dem Umstand, dass in § 88 Abs 1 Z 2 ASVG ein schuldhaftes Handeln (§ 4 StGB) nicht genannt wird, lässt sich aber nicht ableiten, dass die Verwirkung eines Anspruchs davon unabhängig ist und daher auch bei nicht schuldfähigen (zurechnungsunfähigen) Personen in Betracht kommt.

4.1. Der seit seiner Einführung mit der 31. ASVG-Novelle BGBl 1974/775 unverändert gebliebene § 88 Abs 1 Z 2 ASVG steht historisch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Einführung des StGB am 1. Jänner 1975. […]

4.2. Abgesehen davon, dass der Gesetzgeber den Begriff „strafbare Handlung“ daher ausdrücklich im Sinne des Strafrechts verstanden wissen wollte, folgt das auch aus systematischen Erwägungen, weil es widersprüchlich wäre, wenn das Gesetze zwar strafrechtliche Begriffe verwenden, damit jedoch anderes meinen würde (2 Ob 100/19y [ErwGr 4.2.]). Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der (mit Vorsatz begangenen gerichtlich) strafbaren Handlung richtet sich daher nach dem StGB. Dieses unterscheidet klar zwischen dem Begriff der „strafbaren Handlung“ und jenem der „mit Strafe bedrohten Handlung“.

4.3. Unter einer „strafbaren Handlung“ ist ein tatbestandsmäßiges, rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten zu verstehen, das auch allfälligen zusätzlichen Voraussetzungen für die Strafbarkeit genügt […]. Zu diesen zusätzlichen Voraussetzungen gehört insbesondere das Fehlen von Strafausschließungsgründen im weiteren Sinn (17 Os 3/18x = SSt 2018/34).

4.4. Eine „mit Strafe bedrohte Handlung“ meint demgegenüber eine Tat, die einige wesentliche, aber nicht alle Voraussetzungen einer Straftat erfüllt. […] Ein deliktisches Verhalten im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit ist aber „bloß“ eine „mit Strafe bedrohte“, nicht aber eine konkret auch strafbare Handlung […].

4.5. Vor dem Hintergrund dieser Grundsätze trifft daher nicht zu, dass für ein Verwirken nach § 88 Abs 1 Z 2 ASVG nur ein vorsätzliches, aber kein schuldhaftes Verhalten erforderlich ist. […] Das Erfordernis des Vorsatzes dient entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts daher nur dazu, die an die Tat – und nicht an den Täter – gestellten Anforderungen festzulegen, indem bloße Fahrlässigkeitsdelikte von der Verwirkung ausgenommen werden (vgl 10 ObS 135/90 SSV-NF 4/66). Eine wenn auch vorsätzlich verübte Tat im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit erfüllt daher nicht die Voraussetzungen des § 88 Abs 1 Z 2 ASVG.

5. Dieses Ergebnis wird sowohl durch die vom Kläger ins Treffen geführte Bestimmung des § 89 ASVG als auch die vom Erstgericht herangezogene Rechtsprechung zu § 540 ABGB gestützt.

5.1. Zwar kann aus der Nichterwähnung des § 21 Abs 1 StGB in § 89 Abs 1 Z 1 ASVG kein direkter Schluss auf die Verwirkung gezogen werden […]. Die hier relevante, ebenfalls auf die 31. ASVG-Novelle zurückgehende Passage des § 89 Abs 1 Z 1 ASVG bestätigt aber, dass der Gesetzgeber bewusst zwischen zurechnungsunfähigen Personen (§ 21 Abs 1 StGB) und zurechnungsfähigen Personen (§§ 21 Abs 2, 22, 23 StGB) differenziert und sie auch unterschiedlich behandelt.

5.2. Es ist auch der Ansicht des Erstgerichts zuzustimmen, dass die Auslegung des § 539 ABGB idF des ErbRÄG 2015 (BGBl I 2015/87) auf einer vergleichbaren Ausgangslage beruht wie die des § 89 Abs 1 Z 2 ASVG. Denn auch die Bezugnahme auf eine vorsätzlich begangene „gerichtlich strafbare Handlung“ in der Vorgängerbestimmung des § 540 ABGB idF des BGBl 1974/496 erfolgte zur Anpassung an die Begriffe bzw Begriffsinhalte des (damals neuen) StGB (Bericht des Justizausschusses 1240 BlgNR 13. GP 1). Darauf aufbauend nimmt die Rechtsprechung bei Begehung einer Tat im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit keine Erbunwürdigkeit an, weil tatbestandsmäßiges Handeln bei fehlender Schuld keine „strafbare Handlung“ darstellt (2 Ob 100/19y [§ 539 ABGB]; 6 Ob 636/93 [§ 540 ABGB aF]).

6. Die Ansicht des Berufungsgerichts kann auch nicht auf § 88 Abs 3 ASVG gestützt werden. […] Dennoch kann die Zurechnungsunfähigkeit nicht als in der betreffenden Person liegender Grund gewertet werden, der die Fällung eines Strafurteils verhindert. Den in § 88 Abs 3 ASVG (explizit) angeführten Gründen (Tod; Abwesenheit) ist nämlich gemein, dass sie keine rechtlichen, sondern tatsächliche Gründe sind, die einer Hauptverhandlung und damit auch einem Strafurteil rein faktisch entgegenstehen. Um sich in den demonstrativen Katalog des § 88 Abs 3 ASVG systemkonform einzufügen, muss das auch auf die „anderen in der Person des Betroffenen liegenden“ Gründe zutreffen. […]

7. Zusammenfassend erfüllt eine im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit begangene Tat nicht die Voraussetzungen des § 88 Abs 1 Z 2 ASVG und führt daher auch nicht zu einer Verwirkung von Ansprüchen. Der Gesetzgeber hat sich bewusst dazu entschieden, an subjektiv nicht vorwerfbare Handlungen (auch) keine sozialrechtlichen Sanktionen zu knüpfen und nimmt dabei selbst gravierende Fälle 40 wie den vorliegenden in Kauf. Das mag auf den ersten Blick überraschen, stellt letztlich aber eine konsequente Anwendung des (einfachgesetzlich) in § 4 StGB verankerten Schuldprinzips dar.

8. Der Revision ist daher Folge zu geben und im Ergebnis das klagestattgebende Ersturteil wiederherzustellen. […]

Erläuterung

§ 88 ASVG normiert bestimmte Fälle, in denen Ansprüche auf Geldleistungen verwirkt werden. Nach § 88 Abs 1 Z 2 ASVG tritt dies ein, wenn der Versicherungsfall durch eine mit Vorsatz begangene gerichtlich strafbare Handlung veranlasst wurde und die Person zu einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr rechtskräftig verurteilt wurde. Eine Verwirkung tritt nach Abs 3 auch ohne rechtskräftigem Strafurteil ein, wenn ein solches wegen des Todes, der Abwesenheit oder eines anderen in der betreffenden Person liegenden Grundes nicht gefällt werden kann.

Im vorliegenden Fall ging es darum, ob eine Verwirkung nach § 88 ASVG auch dann eintritt, wenn die Tat im Zustand fehlender Zurechnungsfähigkeit begangen wurde. Der OGH stellt klar, dass die Zurechnungsunfähigkeit zwar nicht dem Vorsatz entgegensteht, es sich dann aber nicht mehr um eine im Gesetz geforderte „gerichtlich strafbare Handlung“ handelt. Dies wird neben dem Bezug auf die strafrechtlichen Begrifflichkeiten auch durch die Rsp zur Erbunwürdigkeit nach § 530 ABGB gestützt, wonach bei Tatbegehung im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit auch keine Erbunwürdigkeit eintritt, da keine „strafbare Handlung“ vorliegt.

Die Ausnahmebestimmung nach Abs 3 kommt in diesen Fällen ebenso nicht zur Anwendung, da es sich dabei bloß um tatsächliche Gründe (Tod, Abwesenheit) handelt, die einer Verurteilung entgegenstehen und nicht um rechtliche, wie die Zurechnungsunfähigkeit.

Insgesamt handelt es sich um eine systemisch konsistente Rechtsauslegung und der OGH verweist zum Schluss auch auf die konsequente Umsetzung des Schuldprinzips nach § 4 StGB, wonach nur strafbar ist, wer schuldhaft handelt.