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Dreijähriger rechtmäßiger Aufenthalt ist keine Voraussetzung für Daueraufenthalt nach Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger-RL

FABIANGAMPER
Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger-RL; § 53a Abs 3 NAG; § 292 ASVG

Ein „rechtmäßiger“ Aufenthalt wird in Art 17 Unionsbürger-RL nicht gefordert.

Das Unionsrecht findet bei missbräuchlichen Praktiken keine Anwendung. Der Nachweis eines Missbrauchs setzt zum einen voraus, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden.

Die Erfüllung der in der Unionsbürger-RL normierten Voraussetzungen eines rechtmäßigen Aufenthalts kann für sich allein genommen in der Regel keinen Rechtsmissbrauch darstellen. Auch erfolglose Anträge auf Gewährung von Leistungen deuten – ohne Hinzutreten weiterer Umstände – auf einen Rechtsmissbrauch grundsätzlich nicht hin.

SACHVERHALT

Die 1956 geborene slowakische Kl ist verwitwet, ihr Sohn lebt in der Slowakei, ihre Tochter in Österreich. Seit 1.2.2015 bezieht sie eine Alterspension in der Slowakei, davor bezog sie seit September 2003 eine slowakische Invalidenrente. In Österreich war die Kl von 1.8.2019 bis 18.8.2020 für ein Entgelt von etwa € 560,- brutto beschäftigt. Den Hauptwohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt hat die Kl seit 19.1.2015 in Österreich. Am 30.5.2022 wurde der Kl das unionsrechtliche Daueraufenthaltsrecht gem § 53a Abs 1 NAG bescheinigt.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Die Kl beantragte am 25.8.2020 die Gewährung einer Ausgleichzulage. Dieser Antrag wurde von der bekl Pensionsversicherungsanstalt mit Bescheid vom 25.10.2021 abgelehnt. Das Erstgericht verpflichtete die Bekl zur Leistung der Ausgleichszulage vom 1.9.2020 bis 17.10.2022 (Anm: Schluss der mündlichen Verhandlung). Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl Folge und änderte das Ersturteil im klageabweisenden Sinn ab. Es vertrat die Ansicht, dass die Kl mangels rechtmäßigen Aufenthalts von über fünf Jahren kein Daueraufenthaltsrecht erworben habe.

Gegen diese Entscheidung erhob die Kl die außerordentliche Revision an den OGH. Die Revision ist teilweise – hinsichtlich des Anspruchs auf Ausgleichszulage ab 18.10.2022 – mangels Beschwer unzulässig und hinsichtlich des Anspruchs vom 1.9.2020 bis 17.10.2022 zulässig und berechtigt.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„[13] I.1. Die Klägerin begehrte erkennbar die Gewährung einer Ausgleichszulage in gesetzlicher Höhe 50 ab dem 1. September 2020. Das Erstgericht gab dem Klagebegehren für den Zeitraum von 1. September 2020 bis 17. Oktober 2022 statt, unterließ es allerdings, über nach diesem Zeitraum liegende Ansprüche abzusprechen, obwohl es den Anspruch dem Grunde nach als gegeben und der Höhe nach zumindest bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung erster Instanz als bezifferbar ansah. […] das Erstgericht [hätte] auch über die noch nicht fälligen Beträge – bei bisherigen Einkünften in unterschiedlicher Höhe allenfalls in Form eines Vorschusses – absprechen müssen […]. Aus der Entscheidung des Erstgerichts ist jedoch der Wille, über nach dem Schluss der Verhandlung liegende Zeiträume nicht abzusprechen, unzweifelhaft zu erkennen.

[14] I.2. Wurde gegen die Nichterledigung eines Sachantrags (hier dem Begehren der Klägerin auf Leistung einer Ausgleichszulage nach dem 17. Oktober 2022) weder durch Ergänzungsantrag nach § 423 ZPO noch durch Berufung nach § 496 Abs 1 Z 1 ZPO Abhilfe gesucht, scheidet dieser Anspruch aus dem Verfahren aus. Das Berufungsgericht hat daher über den nicht mehr verfahrensgegenständlichen Teil des Klagebegehrens nicht entscheiden dürfen.

[15] I.3. […] Die Abweisung des nicht mehr verfahrensgegenständlichen Teils des Klagebegehrens durch das Berufungsgericht entfaltete in diesem Umfang keine Wirkungen und griff daher auch nicht in die Rechtsstellung der Klägerin nachteilig ein. […]

[18] In Bezug auf den Teil des Klagebegehrens, der nach dem 17. Oktober 2022 liegende Zeiträume betrifft und aus dem Verfahren ausgeschieden ist, fehlt der Revision der Klägerin somit die Beschwer. Insoweit ist sie folglich zurückzuweisen. […]

[20] II.2.1. Nach § 292 Abs 1 ASVG hat der Pensionsberechtigte Anspruch auf Ausgleichszulage, solange er seinen rechtmäßigen Aufenthalt in Österreich hat. Durch das Abstellen auf den „rechtmäßigen Aufenthalt“ soll ein Gleichklang der Ausgleichszulagenregelung mit dem europäischen und österreichischen Aufenthaltsrecht hergestellt werden […]. […]

[22] II.2.3. Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt, der grundlegende Status der Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten zu sein. Jeder Unionsbürger kann sich daher in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art 18 AEUV) berufen, das auch in Art 4 VO (EG) 883/2004 und in Art 24 Unionsbürger-RL konkretisiert wird. […] Diese Richtlinie sieht hinsichtlich des Aufenthaltsrechts im Aufnahmemitgliedstaat ein abgestuftes System vor, das im Recht auf Daueraufenthalt mündet […].

[23] II.2.3.1. Erstens beschränkt Art 6 Unionsbürger-RL für Aufenthalte bis zu drei Monaten die für das Aufenthaltsrecht geltenden Bedingungen oder Formalitäten auf das Erfordernis des Besitzes eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses. […] Abweichend vom Recht auf Gleichbehandlung nach Art 24 Abs 1 Unionsbürger-RL ist der Aufnahmemitgliedstaat […] nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen, Personen, denen dieser Status erhalten bleibt, und ihren Familienangehörigen während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während der längeren Dauer der Arbeitssuche (Art 14 Abs 4 lit b Unionsbürger-RL) einen Anspruch auf Sozialhilfe zu gewähren (Art 24 Abs 2 Unionsbürger-RL).

[24] II.2.3.2. Zweitens ist bei einem Aufenthalt von mehr als drei Monaten die Ausübung des Aufenthaltsrechts von den Voraussetzungen des Art 7 Abs 1 Unionsbürger-RL abhängig, und nach Art 14 Abs 2 Unionsbürger-RL steht Unionsbürgern und ihren Familienangehörigen dieses Recht nur so lange zu, wie sie diese Voraussetzungen erfüllen […]. Insbesondere dem Erwägungsgrund 10 der Unionsbürger-RL ist zu entnehmen, dass diese Voraussetzungen ua verhindern sollen, dass diese Personen die Sozialhilfeleistungen des Aufnahmemitgliedstaats unangemessen in Anspruch nehmen […].

[25] II.2.3.3. Drittens erwirbt jeder Unionsbürger, der sich rechtmäßig […] fünf Jahre lang ununterbrochen im Aufnahmemitgliedstaat aufgehalten hat, gemäß Art 16 Abs 1 Unionsbürger-RL ein Daueraufenthaltsrecht, das keinen Bedingungen mehr unterworfen ist […]. Abweichend davon haben nach Art 17 Abs 1 Unionsbürger-RL bestimmte, dort näher bezeichnete Personen bereits vor Ablauf des ununterbrochenen Zeitraums von fünf Jahren das Recht auf Daueraufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat. Soweit hier von Interesse, gehören dazu nach Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger-RL Arbeitnehmer oder Selbständige, die zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das in dem betreffenden Mitgliedstaat für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehene Alter erreicht haben, oder Arbeitnehmer, die ihre abhängige Erwerbstätigkeit im Rahmen einer Vorruhestandsregelung beenden, sofern sie diese Erwerbstätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat mindestens während der letzten zwölf Monate ausgeübt und sich dort seit mindestens drei Jahren ununterbrochen aufgehalten haben. […]

[27] Das Berufungsgericht verneinte einen rechtmäßigen Aufenthalt der Klägerin in den letzten fünf Jahren, weil sie in dieser Zeit nicht über ausreichende Existenzmittel verfügt habe, und bezog sich damit (nur) auf Art 16 Unionsbürger-RL. Diese in der Revision (auch) bekämpfte Beurteilung ist aber nicht entscheidungswesentlich, weil sich die Klägerin zutreffend auf ein […] Recht auf Daueraufenthalt nach Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger-RL stützen kann.

[28] II.3.1. Die dort enthaltenen zeitlichen Voraussetzungen – die Ausübung einer Erwerbstätigkeit während der letzten zwölf Monate einerseits und ein ununterbrochener Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat seit mindestens drei Jahren andererseits – gelten auch für Arbeitnehmer (wie die Klägerin), 51die zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das in diesem Mitgliedstaat für die Geltendmachung einer Altersrente gesetzlich vorgesehene Alter erreicht haben […], und sind im vorliegenden Fall unstrittig erfüllt.

[29] II.3.2. […] Für die Qualifizierung als Arbeitnehmer im Sinn des Art 7 der Unionsbürger-RL ist erforderlich, dass eine Person eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, die keinen so geringen Umfang hat, dass sie sich als vollständig untergeordnet und unwesentlich darstellt. […] Wesentliches Merkmal eines Arbeitsverhältnisses ist die Erbringung von Leistungen nach Weisung während einer bestimmten Zeit, für die als Gegenleistung Vergütungen gewährt werden […]. Der Umstand, dass eine unselbständige Tätigkeit für kurze Dauer ausgeübt wird […], ändert daran grundsätzlich genauso wenig wie die beschränkte Höhe dieser Vergütung, der Ursprung der Mittel, die stärkere oder schwächere Produktivität des Betroffenen oder die geringe Anzahl geleisteter Wochenstunden […]. Bei dieser Prüfung sind nur die Art der Tätigkeit und des fraglichen Arbeitsverhältnisses maßgeblich […] und Umstände, die sich auf das Verhalten des Betreffenden vor und nach der Beschäftigungszeit beziehen, ohne Bedeutung […].

[30] Weder die nach Ansicht der Beklagten „kurzzeitige“ Tätigkeit noch die von ihr behaupteten Verhaltensweisen der Klägerin vor und nach der Beschäftigungszeit vermögen daher die Qualifikation der Klägerin als Arbeitnehmerin im Sinn des Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger-RL in Zweifel zu ziehen. Soweit die Beklagte der Klägerin einen unionsrechtlichen Rechtsmissbrauch unterstellt, ist ihr zu entgegnen, dass das Problem eines Rechtsmissbrauchs keinen Einfluss auf diese Beurteilung haben kann […].

[31] II.3.3. Die Beklagte stand in erster Instanz noch auf dem Standpunkt, dass sich die Klägerin nicht drei Jahre rechtmäßig in Österreich aufgehalten hat und sich daher (auch) nicht auf Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger-RL berufen könne. Abgesehen davon, dass ein „rechtmäßiger“ Aufenthalt in Art 17 Unionsbürger-RL – anders als in Art 16 (oder Art 18) Unionsbürger-RL – nicht gefordert wird, kam sie darauf schon in der Berufung nicht mehr zurück, sodass diese […] Frage nicht weiter zu prüfen ist.

[32] II.3.4. Dass die Klägerin die Voraussetzungen des Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger-RL formal erfüllt, bestreitet die Beklagte auch in der Revisionsbeantwortung nicht mehr. Sie hält dem derart begründeten Recht auf Daueraufenthalt vielmehr lediglich […] einen unionsrechtlichen Rechtsmissbrauch der Klägerin entgegen. Dies begründete sie damit, dass die Klägerin unmittelbar nach Beendigung des letzten Dienstverhältnisses in der Slowakei während des Bezugs einer slowakischen Invaliditätsrente nach Österreich übersiedelt sei, kurz danach erstmalig die Gewährung einer Ausgleichszahlung beantragt habe, den Antrag nach Befassung der Aufenthaltsbehörde zurückgezogen habe, dann neuerlich die Gewährung der Ausgleichszulage beantragt habe, kurz nach Ablehnung dieses Anspruchs im 64. Lebensjahr kurzfristig ein Dienstverhältnis aufgenommen habe und schließlich jedwede Beschäftigung in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Zuerkennung der österreichischen Alterspension aufgegeben habe. Die von der Klägerin in Österreich aufgenommene Erwerbstätigkeit sei daher von dem Bemühen getragen gewesen, auf kürzest möglichem Wege die Zuerkennung der Ausgleichszulage zu erwirken.

[33] II.3.4.1. […] Dem Erstgericht ist […] darin zuzustimmen, dass sich aus diesem Vorbringen ein unionsrechtlicher Rechtsmissbrauch der Klägerin, der einen Ausgleichszulagenanspruch ausschließen könnte, nicht ableiten lässt.

[34] II.3.4.2. Das Unionsrecht findet bei missbräuchlichen Praktiken keine Anwendung […]. Der Nachweis eines Missbrauchs setzt zum einen voraus, dass eine Gesamtwürdigung der objektiven Umstände ergibt, dass trotz formaler Einhaltung der unionsrechtlichen Bedingungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde, und zum anderen ein subjektives Element, nämlich die Absicht, sich einen unionsrechtlich vorgesehenen Vorteil dadurch zu verschaffen, dass die entsprechenden Voraussetzungen willkürlich geschaffen werden […].

[35] II.3.4.3. Voranzustellen ist, dass die Erfüllung der in der Unionsbürger-RL normierten Voraussetzungen eines rechtmäßigen Aufenthalts für sich allein genommen in der Regel keinen Rechtsmissbrauch darstellen kann. Auch erfolglose Anträge auf Gewährung von Leistungen deuten – ohne Hinzutreten weiterer, hier nicht vorgetragener Umstände – auf einen Rechtsmissbrauch grundsätzlich nicht hin.

[36] Aus der Aufnahme einer Beschäftigung durch die Klägerin, die die zeitlichen Voraussetzungen des Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger-RL von einem Jahr erfüllt und daher […] nicht bloß „kurzzeitig“ ausgeübt wurde, ist insbesondere nicht ersichtlich, dass das Ziel dieser Richtlinie – die Förderung der Freizügigkeit der Unionsbürger ohne unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfe des Aufnahmestaats – nicht erreicht worden wäre. Hintergrund des Rechts auf Daueraufenthalt nach den Art 16 f Unionsbürger-RL ist erkennbar eine entsprechende Integration des Unionsbürgers im Aufnahmestaat; die von der Beklagten genannten Umstände stehen dieser Intention nicht entgegen.

[37] Dem Vorbringen der Beklagten lässt sich somit insgesamt nicht entnehmen, inwiefern die vom EuGH für einen unionsrechtlichen Rechtsmissbrauch erforderlichen objektiven Elemente vorliegen. Auf die Frage, ob das vom EuGH außerdem (zusätzlich) geforderte subjektive Element hier vorlag, muss daher nicht eingegangen werden. Die von der Beklagten angeführten Umstände stehen dem Recht der Klägerin auf Daueraufenthalt somit nicht entgegen, sodass insofern auch keine sekundären Feststellungsmängel zu erkennen sind. […]52

ERLÄUTERUNG

Die E des OGH lässt sich thematisch in drei Teile gliedern:

1. Verfahrensrechtliches

Im gegenständlichen Verfahren hat das Erstgericht über den Anspruch auf Ausgleichzulage nur bis zum Tag der mündlichen Verhandlung abgesprochen. Das Erstgericht hätte, da bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung alle relevanten Einkommensverhältnisse festgestellt wurden, auch über die noch nicht fällige Ausgleichszulage, allenfalls als Vorschuss, absprechen müssen. Das Klagebegehren wurde damit nicht vollinhaltlich erfüllt, da dies jedoch im weiteren Verfahren von der Kl nicht aufgegriffen wurde, scheidet der zeitlich nachfolgende Anspruch aus dem Verfahren aus. Dieser kann daher nicht mehr im Revisionsverfahren geltend gemacht werden.

2. Ausgleichszulage und rechtmäßiger Aufenthalt

Die Ausgleichszulage hat den Zweck, den Pensionsbezieher:innen ein gewisses Mindesteinkommen zu sichern, solange die betroffene Person ihren rechtmäßigen und gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat.

Für den rechtmäßigen Aufenthalt von Unionsbürger:innen ist die Unionsbürger-RL und ihre Umsetzung im österreichischen Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG) maßgeblich. Wie bereits in anderen Entscheidungen hat der OGH auch hier zum stufenweisen unionsrechtlichen Aufenthalt umfassend ausgeführt (vgl dazu Gamper, Vorabentscheidungsersuchen: Ausgleichszulage für nicht-erwerbstätigen Ehegatten einer Wanderarbeitnehmerin? DRdA-infas 2023/158, 325). Liegt das Daueraufenthaltsrecht vor, bedarf es keiner weiteren Voraussetzungen, wie bspw des Vorliegens ausreichender Existenzmittel oder einer AN-Eigenschaft. Art 17 Unionsbürger-RL normiert einzelne Tatbestände, in denen ein zeitlich früherer Erwerb des Daueraufenthaltsrechts, also bereits vor Ablauf der in Art 16 Unionsbürger-RL vorgesehenen fünf Jahre eines rechtmäßigen Aufenthalts, möglich ist. Gegenständlich ist im gegebenen Fall Art 17 Abs 1 lit a Unionsbürger-RL. Diese Bestimmung sieht vor, dass AN und Selbständige, die zum Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Erwerbsleben das im betreffenden Mitgliedstaat für die Geltendmachung einer Alterspension notwendige Alter erreicht haben, oder AN, die ihre abhängige Erwerbstätigkeit im Rahmen einer Vorruhestandsregelung beenden, das Daueraufenthaltsrecht erwerben, wenn sie diese Erwerbstätigkeit im betreffenden Mitgliedstaat mindestens während der letzten zwölf Monate ausgeübt und sich dort mindestens drei Jahre ununterbrochen aufgehalten haben. Hinsichtlich der Voraussetzung des mindestens dreijährigen ununterbrochenen Aufenthalts stellt der OGH ausdrücklich klar, dass hierbei, anders als in Art 16 oder 18 Unionsbürger-RL, kein rechtmäßiger Aufenthalt verlangt wird.

3. Unionsrechtlicher Rechtsmissbrauch

Das Unionsrecht findet bei missbräuchlichen Praktiken keine Anwendung. Ob ein entsprechender Missbrauch vorliegt, wird anhand einer Gesamtwürdigung der objektiven Umstände geprüft. Rechtsmissbrauch liegt vor, wenn sich ergibt, dass trotz Einhalten der formalen Voraussetzungen das Ziel der Regelung nicht erreicht wurde und der unionsrechtlich vorgesehene Vorteil dadurch verschafft wurde, dass die Voraussetzungen willkürlich geschaffen wurden.

Die Bekl stützt ihre Revisionsbeantwortung vorrangig darauf, dass gegen den Erwerb des Rechts auf Daueraufenthalt ein Rechtsmissbrauch der Kl stünde. Dies wurde insb mit dem Umzug nach Österreich während des Bezugs der slowakischen Invaliditätsrente, den mehrmaligen Anträgen auf Ausgleichszulage und der „kurz“ ausgeübten Erwerbstätigkeit von nur einem Jahr während des 64. Lebensjahrs begründet. Diese Erwerbstätigkeit sei bloß vom Bemühen getragen gewesen, auf möglichst kurzem Wege den Anspruch auf Ausgleichszulage zu erwirken.

Der OGH stellt klar, dass die Erfüllung der in der Unionsbürger-RL normierten Voraussetzungen des rechtmäßigen Aufenthalts in der Regel keinen Rechtsmissbrauch darstellt, und somit würde, selbst wenn die von der Bekl vorgebrachten Behauptungen festgestellt worden wären, daraus kein unionsrechtlicher Rechtmissbrauch ableitbar sein. Insb wurde die Erwerbstätigkeit nicht bloß „kurzzeitig“ ausgeübt und es ist nicht ersichtlich, dass das Ziel der Unionsbürger-RL – die Förderung der Freizügigkeit der Unionsbürger:innen ohne unangemessene Inanspruchnahme der Sozialhilfe des Aufnahmestaats – nicht erreicht worden wäre. Dem Vorbringen der Bekl war daher nicht einmal das nach Rsp des EuGH notwendige objektive Element zu entnehmen.53