32Kinderbetreuungsgeld: Bei fehlender Koordinierungszuständigkeit ist eine Leistungsgewährung nach innerstaatlichem Recht dennoch möglich
Kinderbetreuungsgeld: Bei fehlender Koordinierungszuständigkeit ist eine Leistungsgewährung nach innerstaatlichem Recht dennoch möglich
Die Antikumulierungsbestimmungen der VO (EG) 883/2004 sind nur bei einem Zusammentreffen von vergleichbaren (gleichartigen) Leistungen aus zwei Staaten anzuwenden. Liegen vergleichbare Familienleistungen nicht vor und ist der Anspruch nach nationalem österreichischen Recht zu bejahen, würde das Fehlen der Leistungszuständigkeit Österreichs nach den Koordinierungsregeln nicht dazu führen, dass eine Leistungsgewährung nach dem innerstaatlichen Recht ausgeschlossen wird.
Die Kl lebt mit ihrem Kind und dem Kindesvater in einem gemeinsamen Haushalt in Niederösterreich, wo sich der Lebensmittelpunkt der Familie befindet. Die Kl ist in Bratislava unselbständig beschäftigt und pendelt täglich aus Niederösterreich mit dem Zug dorthin. Der Kindesvater ist in Österreich unselbständig beschäftigt. Die Kl beantragte das pauschale Kinderbetreuungsgeld für den Zeitraum von 29.11.2019 bis 28.3.2022. Bis 12.7.2020 bezog die Kl in der Slowakei „materské“ (Mutterschaftsgeld). Andere Leistungen beantragte sie in der Slowakei nicht, da sie darauf keinen Anspruch hat.
Die bekl Österreichische Gesundheitskasse bezweifelte, dass die Kl ihren Lebensmittelpunkt in Österreich hat und ersuchte die slowakischen Behörden um entsprechende Auskünfte. Diese teilten mit, dass Österreich für die Zahlung von Familienleistungen primär zuständig sei. Danach traf die Bekl eine vorläufige Entscheidung über die anzuwendenden Prioritätsregeln nach Art 60 Abs 3 DVO (EG) 987/2009, in der sie festhielt, dass Österreich für die Zahlung von Familienleistungen nachrangig zuständig sei. Die Bekl übermittelte dem slowakischen Träger zwar ihre vorläufige Entscheidung, nicht jedoch den Antrag der Kl. Der slowakische Träger gab keine Stellungnahme iSd Art 60 Abs 3 DVO (EG) 987/2009 ab.
Gegenstand des Verfahrens war der Anspruch der Kl auf pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto im Zeitraum von 29.11.2019 bis 28.3.2022.
Mit Bescheid wies die Bekl den Antrag der Kl ab. Mit ihrer Klage begehrte die Kl einerseits die Feststellung, dass ihr Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld zu Recht bestehe sowie zusätzlich, die Bekl schuldig zu erkennen, ihr für diesen Zeitraum Kinderbetreuungsgeld im gesetzlichen Ausmaß zu zahlen.
Die Bekl hielt dem entgegen, dass mangels einer Stellungnahme des slowakischen Trägers iSd Art 60 Abs 3 DVO (EG) 987/2009 die vorrangige Zuständigkeit der Slowakei zur Erbringung von Familienleistungen bindend geklärt sei. Darauf aufbauend stehe der Kl zwar ein Unterschiedsbetrag zu, dessen Höhe könne aber derzeit nicht berechnet werden, weil die Kl in der Slowakei keine Anträge auf Familienleistungen in der Slowakei gestellt habe.
Das Erstgericht erkannte die Bekl schuldig, der Kl für die Zeit von 13.7.2020 (Ende des Bezugs des slowakischen Mutterschaftsgeldes) bis 28.2.2022 (letzter voller Monat vor Schluss der Verhandlung erster Instanz) Kinderbetreuungsgeld als Ausgleichszahlung zu zahlen und sprach aus, dass ein Anspruch auch für den anschließenden Zeitraum von 1.3. bis 28.3.2022 bestehe. Die Mehrbegehren – also das auf Zahlung von Kinderbetreuungsgeld im Zeitraum von 29.11.2019 bis 12.7.2020 sowie von 1.3. bis 28.3.2022 gerichtete Leistungsbegehren und das den Zeitraum von 29.11.2019 bis 28.2.2022 erfassende Feststellungsbegehren – wies es rechtskräftig ab.
Das von der Bekl angerufene Berufungsgericht bestätigte das erstgerichtliche Urteil mit der Maßgabe, dass das Kinderbetreuungsgeld nicht bloß als Ausgleichszahlung zustehe und führte aus, dass die vorläufige Entscheidung der Bekl über die Leistungszuständigkeit keine Wirkungen entfalte. Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil der OGH noch nicht entschieden habe, ob eine vorläufige Entscheidung iSd Art 60 Abs 3 DVO (EG) 987/2009 mangels einer Stellungnahme des anderen Trägers auch dann bindend sei, wenn diesem der Antrag nicht weitergeleitet wurde.
Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Bekl. Die Revision war zulässig, wobei aus ihrem Anlass eine den Vorinstanzen unterlaufene Nichtigkeit aufzugreifen war. Im Übrigen war die Revision auch berechtigt.
„I. Zur Nichtigkeit:
Aus Anlass der zulässigen Revision ist hinsichtlich des noch nicht rechtskräftig erledigten Teils des Feststellungsbegehrens (betreffend den Zeitraum von 1. März 2022 bis 28. März 2022) […] aufzugreifen.
Gemäß § 65 Abs 2 ASGG fallen unter die Sozialrechtssachen auch Klagen auf Feststellung. […] auch Feststellungsklagen [unterliegen] nach § 65 Abs 2 ASGG dem Prinzip der sukzessiven Kompetenz und 54setzen daher jedenfalls einen Bescheid voraus […]. Darauf aufbauend entspricht es der ständigen Rechtsprechung, dass die Sozialgerichte nur dann über ein Feststellungsbegehren entscheiden können, wenn im Verfahren vor dem Versicherungsträger eine entsprechende Feststellungsentscheidung in Leistungssachen vorgesehen ist (RS0085830).
Im Anlassfall hat die Klägerin weder im Verwaltungsverfahren eine feststellende Entscheidung begehrt noch ordnet das KBGG eine solche an. Eine bescheidmäßige Erledigung ist […] nach § 27 Abs 3 KBGG überhaupt nur dann vorgesehen, wenn ein Anspruch auf eine Leistung gar nicht oder nur teilweise anerkannt wird (Z 1). […] das Gericht [ist] nicht befugt […], über das Feststellungsbegehren der Klägerin zu entscheiden. Anzumerken ist […], dass mit einem Zahlungsbegehren ohnedies der Zuspruch künftiger Leistungen erreicht werden kann (§ 89 Abs 1 iVm § 65 Abs 1 Z 8 ASGG), womit der strittige Anspruch auch dem Grunde nach vollständig erledigt wird.
Die Urteile der Vorinstanzen […] sind daher im Umfang der Feststellung, dass der Anspruch der Klägerin auf Kinderbetreuungsgeld für die Zeit von 1. März 2022 bis 28. März 2022 zu Recht besteht, amtswegig wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs als nichtig aufzuheben (RS0042080). […]
II. Zur Revision
1. Im Revisionsverfahren ist nicht strittig, dass die Klägerin Grenzgängerin iSd Art 1 lit f VO (EG) 883/2004 und der persönliche Anwendungsbereich der Verordnung eröffnet ist. Unstrittig ist ferner, dass Kinderbetreuungsgeld eine zu koordinierende Familienleistung iSd Art 1 lit z und Art 3 Abs 1 lit j VO (EG) 883/2004 sowie der DVO (EG) 987/2009 ist (RS0122905 [insb T3]; 10 ObS 117/22m ua). Die Beklagte bestreitet auch nicht (mehr), dass sämtliche Anspruchsvoraussetzungen des § 2 Abs 1 KBGG erfüllt sind […].
2. Darauf aufbauend hält die Beklagte in der Revision an ihrem bisher vertretenen Standpunkt fest, dass die vorläufige Entscheidung über die Leistungszuständigkeit anwendbar geworden sei und damit die vorrangige Zuständigkeit der Slowakei bindend feststehe. […] Sie sei daher (nach Art 68 Abs 2 VO [EG] 883/2004 bzw § 6 Abs 3 KBGG) nur insoweit zur Erbringung von Leistungen verpflichtet, als das österreichische Kinderbetreuungsgeld das „slowakische Kinderbetreuungsgeld“ übersteige […].
3. Die vom Berufungsgericht und der Beklagten als entscheidend erachtete, auf dem Ergebnis der Auslegung des Unionsrechts (Art 60 Abs 3 DVO [EG] 987/2009) aufbauende Frage, ob Österreich iSd VO (EG) 883/2004 vor- oder nachrangig zuständig ist, stellt sich derzeit nicht.
3.1. Die Antikumulierungsbestimmungen der VO (EG) 883/2004 sind nämlich nur bei einem Zusammentreffen von vergleichbaren (gleichartigen) Leistungen aus zwei Staaten anzuwenden […]. Entsprechend diesen unionsrechtlichen Vorgaben gilt auch für eine Anrechnung nach der innerstaatlichen Antikumulierungsregel des § 6 Abs 3 KBGG das Erfordernis des Vorliegens von Leistungen gleicher Art […]. In diesem Sinn vergleichbar sind Leistungen dann, wenn sie einander in Funktion und Struktur (Zweck, Berechnungsgrundlage, Voraussetzungen für ihre Gewährung) im Wesentlichen entsprechen (RS0122907; 10 ObS 55/23w mwN; EuGHC-347/12, Wiering[Rn 54 f] ua).
3.2. Liegen vergleichbare Familienleistungen nicht vor und ist der Anspruch […] nach nationalem österreichischen Recht zu bejahen, würde das Fehlen der Leistungszuständigkeit Österreichs nach den Koordinierungsregeln nicht dazu führen, dass eine Leistungsgewährung nach dem innerstaatlichen Recht ausgeschlossen wird […]. In dieser Konstellation stünde der Leistung nur eine nationale Antikumulierungsregel entgegen […]. Auch nach § 6 Abs 3 KBGG kommt es aber nur bei einem Zusammentreffen vergleichbarer Leistungen zum Ruhen des Anspruchs (zu einer Anrechnung); der Frage der vor- oder nachrangigen Zuständigkeit nach der VO (EG) 883/2004 kommt auch nur in diesem Fall Bedeutung zu. […]
3.3. Die Frage, ob es zu einer Koordinierung kommt und die Beklagte bloß einen Unterschiedsbetrag iSd § 6 Abs 3 KBGG leisten muss, hängt daher davon ab, ob die Klägerin einen Anspruch auf eine vergleichbare slowakische Leistung hat.
4. Ob und welche mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistungen die Slowakei gewährt, lässt sich mangels Erhebungen zur slowakischen Rechtslage derzeit aber nicht beantworten. […] Es lässt sich somit noch nicht beantworten, ob die Antikumulierungsregeln des § 6 Abs 3 KBGG überhaupt zur Anwendung gelangen. Das stellt einen Verfahrensmangel besonderer Art dar, der die Aufhebung der Entscheidungen der Vorinstanzen zur amtswegigen Ermittlung des ausländischen Rechts bedingt (RS0116580; RS0040045). […]
Sofern sich ergeben sollte, dass die Slowakei keine dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbaren Leistungen gewährt, wird dem verbleibenden Leistungsbegehren unabhängig davon stattzugeben sein, ob Österreich nach der VO (EG) 883/2004 (vor- oder nachrangig) zuständig ist. Mit den (Aus-)Wirkungen der von der Beklagten gefällten vorläufigen Entscheidung nach Art 60 Abs 3 DVO (EG) 987/2009 werden sich die Vorinstanzen hingegen erst zu befassen haben, wenn feststeht, dass vergleichbare Familienleistungen zusammentreffen.“
Die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit wird in der Europäischen Union durch die VO (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates geregelt. Wenn Ansprüche auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen zusammentreffen, normiert Art 68 Abs 1 der VO (EG) 883/2004 sogenannte Prioritätsregeln und legt für den Fall der Kumulierung von Anspruchsberechtigungen aus verschiedenen 55 Mitgliedstaaten fest, welche Staaten vorrangig zuständig sind. Gem Art 68 Abs 1 lit a VO (EG) 883/2004 stehen an erster Stelle Ansprüche, die deshalb bestehen, weil die betreffende Person im jeweiligen Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt. Für die Auszahlung der Familienleistungen ist vorrangig jener Mitgliedstaat zuständig, in dem ein Elternteil erwerbstätig ist – selbständig oder unselbständig – und zwar auch dann, wenn die Familie ständig in einem anderen Vertragsstaat lebt. Diesen nachgereiht sind Ansprüche, die durch eine Rente ausgelöst werden. Darauf folgen an letzter Stelle Ansprüche, die aufgrund des Wohnsitzes bestehen. Für den Fall, dass ein Anspruchskonflikt deshalb besteht, weil die Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten jeweils aus dem gleichen Grund (nämlich Beschäftigung oder selbständige Erwerbstätigkeit; Rentenbezug; Wohnort) zur Anwendung kommen, bestimmt Art 68 Abs 1 lit b VO (EG) 883/2004 jenen Staat als vorrangig zuständig, in dem auch die Kinder ihren Wohnort haben. Bestehen gleichzeitig gleichartige – vergleichbare – Ansprüche in unterschiedlichen Mitgliedstaaten, so hat der prioritär zuständige Mitgliedstaat die Leistung zu erbringen. Der nachrangig zuständige Mitgliedstaat leistet einen Differenzbetrag, sofern dort höhere Familienleistungen als im prioritär zuständigen Mitgliedstaat vorgesehen sind.
Eine Vergleichbarkeit iSd § 6 Abs 3 KBGG wird vom OGH – entsprechend der Auslegung der unionsrechtlichen Antikumulierungsvorschriften durch den EuGH – angenommen, wenn die Leistungen einander in Funktion und Struktur im Wesentlichen entsprechen (RS0122907).
Die Frage der vor- oder nachrangigen Zuständigkeit Österreichs in Hinblick auf das Unionsrecht (Art 60 Abs 3 DVO [EG] 987/2009) stellte sich im hier vorliegenden Fall (noch) nicht, denn relevante Vorfragen – nämlich ob und welche Familienleistungen die Slowakei gewährt und, ob diese mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistungen sind – blieben von den Vorinstanzen unerledigt.
Der OGH hat daher aufgetragen, im fortgesetzten Verfahren durch Ermittlung des ausländischen Rechts diese Fragen abzuklären. Hierbei wird auf das slowakische Mutterschaftsgeld („materské“) nicht mehr einzugehen sein, weil dieses bereits zur Gänze angerechnet wurde. Mit Blick auf die neueste Rsp kann eine Auseinandersetzung mit dem slowakischen Elterngeld („rodičovský príspevok“) ebenso unterbleiben (OGH 25.4.2023, 10 ObS 101/22h).
Der OGH führte aus, dass – sofern sich ergeben sollte, dass die Slowakei keine dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbaren Leistungen gewährt – dem verbleibenden Leistungsbegehren unabhängig davon stattzugeben sein wird, ob Österreich nach der VO (EG) 883/2004 vor- oder nachrangig zuständig ist, denn die Kl erfüllt sämtliche Anspruchsvoraussetzungen nach § 2 KBGG. Als Begründung wurde hervorgehoben, dass das Fehlen der Leistungszuständigkeit Österreichs nach den Koordinierungsregeln nicht ab ovo zu einem Anspruchsverlust führt, insb dann nicht, wenn nationale Anspruchsvoraussetzungen erfüllt werden. Die nationale Antikumulierungsregel § 6 Abs 3 KBGG bewirkt das Ruhen des Anspruchs nur bei einem Zusammentreffen vergleichbarer Leistungen.
Mit den Auswirkungen der von der Bekl gefällten vorläufigen Entscheidung nach Art 60 Abs 3 DVO (EG) 987/2009 werden sich die Vorinstanzen erst zu befassen haben, wenn feststeht, dass vergleichbare Familienleistungen zusammentreffen.
Abschließend wurde vom Höchstgericht angemerkt, dass nach dem eigenen Standpunkt der Bekl, sie selbst das begehrte Kinderbetreuungsgeld nach Ablauf von zwei Monaten (Art 60 Abs 3 DVO [EG] 987/2009) zumindest als vorläufige Leistung auszahlen hätte müssen (OGH 28.5.2019, 10 ObS 42/19b). Eine Auszahlung blieb dennoch aus. 56