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Anrechnung eines anderweitigen Verdienstes gemäß § 1155 ABGB bei vereinbarter (unwiderruflicher) Dienstfreistellung

MANFREDTINHOF

Wird ein AN aus Gründen, die auf Seiten des AG liegen, an der Dienstleistung gehindert, ist das in der Zeit der Verhinderung in anderen Dienstverhältnissen tatsächlich verdiente Entgelt, ungeachtet der Motive für den „Annahmeverzug“ des AG, anzurechnen. Dies findet nur dann nicht statt, wenn der Einwand des AG rechtsmissbräuchlich erhoben wird. Die Anrechnungsverpflichtung nach § 1155 ABGB zweiter Halbsatz ist somit auch bei (selbst grundloser) Dienstfreistellung des AN zu bejahen.

SACHVERHALT

Die bekl AG wollte das Arbeitsverhältnis zur Kl auflösen und vereinbarte mit dieser am 11.11.2020 eine einvernehmliche Lösung zum 30.4.2021. Einhergehend mit einer sofortigen unwiderruflichen Dienstfreistellung sollte die Kl die Urlaubsersatzleistung für zehn offene Urlaubstage ausbezahlt bekommen, wobei ein weiterer offener Resturlaub sowie Zeitausgleichstage während der Dauer der Dienstfreistellung zu verbrauchen seien. Die schriftliche Vereinbarung enthielt weiters die Gehaltszahlung bis zum Beendigungszeitpunkt, die Zahlung eines Bonus, einer freiwilligen Abfertigung sowie die der Kl gewährte Möglichkeit, das Dienstverhältnis mit einem Vorlauf von einer Woche vorzeitig zu beenden. In diesem Fall sollte die Kl ihr Gehalt und die freiwillige Abfertigung bis zum vorzeitigen Beendigungszeitpunkt pro rata ausbezahlt erhalten. Dass die Kl verpflichtet war, das Arbeitsverhältnis bei Eingehen eines neuen Dienstverhältnisses vor dem Beendigungszeitpunkt vorzeitig zu beenden oder der Bekl zu melden, wurde zwischen den Parteien nicht besprochen; ebenso wenig, dass bei Eingehen eines neuen Dienstverhältnisses vor dem Beendigungszeitpunkt das bisherige automatisch endet. Seit 1.3.2021 ist die Kl bei einer anderen AG beschäftigt und wurde deshalb von der Bekl am 18.3.2021 rückwirkend zum 28.2.2021 von der SV abgemeldet.

Mit der vorliegenden Klage begehrt die Kl die Zahlung der Gehälter für März und April 2021 inklusive anteiliger Sonderzahlungen.

Verfahren und Entscheidung

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren zur Gänze statt. Behauptete mündliche Vereinbarungen seien weder ausdrücklich noch konkludent geschlossen worden. Das Dienstverhältnis zwischen den Parteien habe daher unabhängig vom neuen Dienstverhältnis der Kl bis 30.4.2021 gedauert, weshalb ihr das auch in der Auflösungsvereinbarung festgelegte Entgelt für die Monate März und April 2021 samt Sonderzahlungen zustehe. Eine Anrechnung des von der Kl bei der neuen AG erzielten Verdienstes habe nicht stattzufinden, weil die Parteien schlüssig eine Anrechnung nach § 1155 ABGB abbedungen hätten.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl nicht Folge. Da die Kl aufgrund der Auflösungsvereinbarung keine Dienstleistung mehr geschuldet habe, liege ohnehin kein Fall des § 1155 ABGB vor.

Der OGH gab der Revision der Bekl teilweise Folge und wies den dem Verdienst bei der neuen AG der Kl entsprechenden Anteil des Klagebegehrens ab.

Originalzitate aus der Entscheidung

„[14] 1. Richtig ist, dass die Bestimmung des § 1155 ABGB dispositiv ist (e contrario § 1164 ABGB; 9 ObA 77/22x Rz 29; Spenling/Kietaibl in Bydlinski/Perner/Spitzer, KBB7 § 1155 ABGB Rz 1 mwN) und daher von den Arbeitsvertragsparteien abbedungen werden kann. Die Abbedingung einer Norm des dispositiven Rechts durch eine abweichende vertragliche Regelung setzt grundsätzlich eine solche voraus. Eine ausdrückliche vertragliche Regelung dazu, nämlich zum Ausschluss der Anrechnungsregel, ist in der hier zu beurteilenden Auflösungsvereinbarung nicht enthalten. In Betracht käme daher nur ein konkludenter vertraglicher Ausschluss. Für die Annahme eines solchen ist jedoch im Allgemeinen nach § 863 ABGB ein strenger Maßstab anzulegen (RS0014146). Es darf kein vernünftiger Grund bestehen, daran zu zweifeln, dass ein ganz bestimmter Rechtsfolgewille vorliegt (RS0109021).

Für die Annahme eines derart eindeutigen übereinstimmenden Rechtsfolgewillens der Parteien über den Ausschluss der Anrechnungsregel des § 1155 ABGB liegen im gegenständlichen Fall aber keine ausreichenden Anhaltspunkte vor. […]

[17] 2.3. Bereits in seiner Entscheidung 9 ObS 34/93 hat der Oberste Gerichtshof auch für den Fall der (dort einseitigen) Dienstfreistellung durch den Dienstgeber die Anwendbarkeit der Einrechnungsverpflichtung nach § 1155 ABGB bejaht und dabei auf die Unmissverständlichkeit der Dienstfreistellung hingewiesen, sodass wegen der Sicherheit des Umstands, dass der Dienstgeber seine Dienste nicht mehr in Anspruch nehmen will, dem Dienstnehmer die Annahme anderer Beschäftigungen nach „Treu und Glauben“ zumutbar gewesen sei. Die Anwendung des § 1155 ABGB im Falle eines Verzichts des Dienstgebers auf die Dienstleistung des Dienstnehmers wird auch in der Lehre befürwortet (vgl Rebhahn in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 1155 ABGB Rz 52; Gruber-Risak in Schwimann/Neumayr, ABGB Taschenkommentar5 § 1155 ABGB Rz 6, 13; Pfeil in Schwimann/Kodek, ABGB5 § 1155 ABGB Rz 11, 21; Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger, 10 ABGB4 § 1155 Rz 31, 58; Aichberger-Beig, Reduktion des Entgelts in Zeiten der Nicht-Beschäftigung? – Zur Anrechnungsregel des § 1155 ABGB, DRdA 2018, 473 [475 f]).

[18] 2.4. Richtig ist zwar, dass der volle Entgeltanspruch dem Arbeitnehmer jedenfalls für Zeitabschnitte zusteht, in denen er die geschuldete Leistung erbracht hat. § 1155 ABGB setzt also das Unterbleiben der Arbeitsleistung voraus. Ein Arbeitnehmer ist – entsprechend dem Inhalt der Arbeitspflicht – lediglich dazu verpflichtet, dem Arbeitgeber seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Er erfüllt daher seine Vertragspflichten auch dann, wenn er sich zur vereinbarten Arbeitszeit am Arbeitsort bereit hält und der Arbeitgeber ihm keine Tätigkeiten zuweist (vgl 9 ObA 53/05t; Rebhahn in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 1151 ABGB Rz 75). Der Umstand, dass der Arbeitnehmer bereits durch die Arbeitsbereitschaft (bzw die Zurverfügungstellung seiner Arbeitskraft) seine Vertragspflichten erfüllt, hat in der Lehre zu Diskussionen über den Anwendungsbereich des § 1155 ABGB geführt, weil § 1155 ABGB – scheinbar widersprüchlich – einerseits die Arbeitsbereitschaft des Arbeitnehmers voraussetzt, aber andererseits die Rechtsfolgen der unterbliebenen Erfüllung regelt (Aichberger-Beig, Reduktion des Entgelts in Zeiten der Nicht-Beschäftigung? – Zur Anrechnungsregel des § 1155 ABGB, DRdA 2018, 473 [475] FN 24). Richtigerweise erklärt sich dies daraus, dass zwar bereits in der Leistungsbereitschaft die Erfüllung der Arbeitspflicht liegt, aber die Erfüllung dann scheitert, wenn der Empfänger die Leistung ablehnt. Der Anwendungsbereich des § 1155 ABGB ist daher eröffnet, wenn der Arbeitgeber die Arbeitsleistung – für den Arbeitnehmer erkennbar – endgültig nicht in Anspruch nimmt, zB indem er ihn „nachhause schickt“ oder freistellt (Aichberger-Beig, Reduktion des Entgelts in Zeiten der Nicht-Beschäftigung? – Zur Anrechnungsregel des § 1155 ABGB, DRdA 2018, 473 [475]).

[19] 2.5. Nichts anderes kann – wie hier – im Fall einer „vereinbarten“ (unwiderruflichen) Dienstfreistellung gelten. Auch hier schuldet zwar der Dienstnehmer keine Arbeitsleistung mehr, dennoch kam die grundsätzlich nach dem Dienstvertrag vom Dienstnehmer geschuldete Arbeitsleistung in der Zeit der Dienstfreistellung nicht zustande. Der Dienstnehmer hat daher nach § 1155 ABGB erster Halbsatz – wie hier in der Beendigungsvereinbarung auch festgehalten – dennoch Anspruch auf sein Entgelt.

[20] 2.6. In der Entscheidung 9 ObA 81/10t (= RS0126226 = DRdA 2012/27, 384 [Reissner]) hat der Oberste Gerichtshof unter ausführlicher Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Lehrmeinungen im Falle eines sich arbeitsbereit erklärten Arbeitnehmers, dem die Arbeitgeberin Hausverbot erteilt hatte, die Rechtsauffassung vertreten, dass die Einrechnung des aus der Verwertung der Arbeitskraft tatsächlich erzielten anderen Einkommens nicht nur dem klaren Wortlaut des § 1155 ABGB entspricht, sondern auch anderen Anrechnungsregeln im ABGB. Wird der Arbeitnehmer somit aus Gründen, die auf Seiten des Dienstgebers liegen, an der Dienstleistung gehindert, ist das in der Zeit der Verhinderung in anderen Dienstverhältnissen tatsächlich verdiente Entgelt ungeachtet der Motive für den „Annahmeverzug“ des Dienstgebers anzurechnen. Dies findet nur dann nicht statt, wenn der Einwand des Dienstgebers rechtsmissbräuchlich erhoben wird (9 ObA 81/10t = RS0021583 [T6]). Die Anrechnungsverpflichtung nach § 1155 ABGB zweiter Halbsatz ist somit auch bei (selbst grundloser) Dienstfreistellung des Dienstnehmers zu bejahen (Schrammel in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang3 § 1155 ABGB Rz 32).

[21] 2.7. Der Abzug von Vorteilen, die der Dienstnehmer tatsächlich aus der Nicht-Beschäftigung gezogen hat, entspricht sowohl dem eindeutigen Willen des historischen Gesetzgebers als auch dem Normzweck, eine Bereicherung des Dienstnehmers zu verhindern (Aichberger-Beig, Reduktion des Entgelts in Zeiten der Nicht-Beschäftigung? – Zur Anrechnungsregel des § 1155 ABGB, DRdA 2018, 473 [476]; Rebhahn in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 1155 ABGB Rz 49). […]

[23] 3. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten hat die Klägerin der Beklagten im Verfahren nicht vorgeworfen (vgl RS0026205 [T3]). Selbst ein vorsätzliches Nichtzulassen zur Arbeit stellt nach der Rechtsprechung allein noch keinen Missbrauch dar, der eine Anrechnung ausschließt (9 ObA 115/03g mwN = RS0118917; 9 ObA 81/10t). Konkrete andere – unlautere – Motive hat die Beklagte weder behauptet noch nachgewiesen. […]“

Erläuterung

Der hier gegenständliche § 1155 Abs 1 erster Halbsatz ABGB regelt die Frage, wer das Entgeltrisiko trägt, sollten die im Arbeitsvertrag versprochenen Dienste nicht zustande kommen. Bei Vorliegen zweier Tatbestandsmerkmale behält ein AN seinen Anspruch auf das Entgelt: Er muss leistungsbereit sein und die Dienstverhinderung muss aus vom AG zu vertretenden Gründen unterbleiben. Ein klassisches Beispiel ist die von einem AG veranlasste Umgestaltung eines Restaurants, weswegen ein Kellner seiner Tätigkeit nicht mehr nachkommen kann. Er muss trotzdem weiterhin seinen Lohn erhalten, wenn er arbeitsbereit ist.

In der Vereinbarung zur einvernehmlichen Lösung des Arbeitsverhältnisses wurde im vorliegenden Fall ua festgehalten, dass die AN ihre Gehälter während der unwiderruflichen Dienstfreistellung bis zum Ende des Dienstverhältnisses bekommen solle. Es war im Revisionsverfahren auch nicht mehr strittig, dass die Kl für die gesamte Zeit der Dienstfreistellung Anspruch auf ihr Entgelt hat. Strittig war jedoch, ob sie sich gem § 1155 Abs 1 letzter Halbsatz ABGB ihren tatsächlich erzielten Verdienst bei der neuen AG auf diesen Entgeltanspruch anrechnen lassen muss. Nach dieser Be11stimmung muss sich ein AN nämlich ua anrechnen lassen, was er durch anderweitige Verwendung im Zeitraum der Dienstverhinderung erworben hat.

§ 1155 ABGB ist dispositiv, dh er kann durch privatautonome Vereinbarung innerhalb der Grenzen der guten Sitten abbedungen werden. Eine solche Vereinbarung – etwa dahingehend, dass während der Dienstfreistellung ein Verdienst bei einem anderen AG nicht anrechenbar sein soll – ist aber im Verfahren nicht zweifelsfrei hervorgekommen.

Entscheidungswesentlich war hier aber auch die Frage, ob § 1155 ABGB auf die vorliegende Fallkonstellation überhaupt anzuwenden ist. Das Berufungsgericht hatte dies noch verneint, da die Kl aufgrund der Auflösungsvereinbarung keine Dienstleistung mehr geschuldet habe, und daher der Berufung der Bekl nicht Folge gegeben.

Im Gegensatz zum Berufungsgericht sieht der OGH im vorliegenden Fall den Anwendungsbereich des § 1155 ABGB auch im Fall einer „vereinbarten“ (unwiderruflichen) Dienstfreistellung als eröffnet. Er setzt dabei das Wort „unwiderruflich“ im Entscheidungstext in Klammer, sodass unklar bleibt, ob seines Erachtens § 1155 ABGB auf sämtliche vereinbarten, also auch auf vereinbarte „widerrufliche“ Dienstfreistellungen anwendbar sein soll.

Im Ergebnis hatte sich die Kl daher ihren Verdienst bei der neuen AG auf ihren klageweise geltend gemachten Entgeltanspruch anrechnen zu lassen.