5Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 1155 ABGB bei Betriebsschließung im „Corona-Lockdown“ auch außerhalb des zeitlichen Anwendungsbereichs des § 1155 Abs 3 ABGB
Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 1155 ABGB bei Betriebsschließung im „Corona-Lockdown“ auch außerhalb des zeitlichen Anwendungsbereichs des § 1155 Abs 3 ABGB
Ausgehend davon, dass es sich bei der COVID-19-Pandemie um einen Fall „höherer Gewalt“ handelt, hat dieses Ereignis noch nicht die Allgemeinheit betroffen bzw kann noch nicht von einer „allgemeinen Kalamität“ gesprochen werden. Die verbleibenden unternehmerischen Entscheidungsspielräume sprechen trotz der umfangreichen COVID-Maßnahmen und der Betriebsschließungen zusammen mit den vom Verordnungsgeber geschaffenen Rahmenbedingungen, die weiterhin ein Zustandekommen von Dienstleistungen ermöglichten, gegen eine „allgemeine Betroffenheit“. Vielmehr war die Betroffenheit während der behördlichen Maßnahmen unterschiedlich gelagert. Individuell-konkrete behördliche Verbote sind regelmäßig der DG-Sphäre zuzurechnen, sodass der Entgeltfortzahlungsanspruch des AN gem § 1155 Abs 1 ABGB beim Sonderfall der COVID-19-Pandemie (auch außerhalb des zeitlichen Anwendungsbereichs des § 1155 Abs 3 ABGB) zu bejahen ist.
Die Kl begann das Arbeitsverhältnis als Aushilfskellnerin bei der Bekl am 18.5.2020, das Arbeitsverhältnis endete durch AN-Kündigung am 20.7.2021. Ab 3.11.2020 war das in Wien befindliche Caféhaus, in welchem die Kl tätig war, aufgrund des „Corona-Lockdowns“ für die Gastronomie bis 18.5.2021 geschlossen, wobei die Parteien für den Zeitraum des Lockdowns Kurzarbeit vereinbarten. Nachdem die Kl ab April 2021 aufgrund der ausgelaufenen Beschäftigungsbewilligung – deren Verlängerung die Bekl übersehen hatte – nicht mehr in die Kurzarbeit einbezogen werden konnte, meldete die Bekl die Kl rückwirkend für die Monate April und Mai 2021 von der SV ab. Das Arbeitsverhältnis wurde jedoch nicht beendet. Von 1.4. bis 18.5.2021 erhielt die Kl kein Entgelt ausbezahlt. Ab 19.5.2021 war die Kl wieder als Kellnerin beschäftigt, und ab Anfang Juni 2021 lag auch wieder eine Beschäftigungsbewilligung für sie vor.
Mit der gegen die Bekl eingebrachten Klage begehrte die Kl die Zahlung der Löhne von April 2021 bis 19.5.2021, die anteiligen Sonderzahlungen, Entgelt für Mehrstunden sowie Urlaubsersatzleistung.
Das Erstgericht gab dem Klagebegehren dem Grunde nach statt und führte aus, dass der in der von der Bekl erstellten Lohnabrechnung ausgewiesene Betrag als von ihr anerkannt gelte. Für den Zeitraum 1.5. bis 18.5.2021 gebühre das Entgelt maximal in Höhe der Kurzarbeitsbeihilfe, weil es sonst zu einer Besserstellung der Kl durch den Umstand käme, dass keine aufrechte Beschäftigungsbewilligung vorgelegen habe. Das Arbeitsverhältnis sei in diesem Zeitraum aufrecht gewesen und die Bekl habe den Anspruch inhaltlich nicht bestritten.
Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl gegen den klagsstattgebenden Teil des Klagebegehrens nicht Folge. Der Entgeltfortzahlungsanspruch des AN nach § 1155 Abs 1 ABGB sei generell als nicht durch eine neutrale Sphäre eingeschränkt zu beurteilen. Trotz Außerkrafttretens der Sonderregel nach § 1155 Abs 3 und 4 ABGB mit 31.12.2020 seien der Kl daher im Ergebnis diese Ansprüche zu Recht zuerkannt worden. 12
Die ordentliche Revision wurde vom Berufungsgericht zugelassen, weil zur Problematik des § 1155 ABGB keine höchstgerichtliche Rsp vorliege. Der OGH gab der Revision der Bekl jedoch nicht Folge.
„[26] 2. § 1155 ABGB regelt Leistungsstörungen und betrifft sowohl den Annahmeverzug des Arbeitgebers als auch die von ihm zu vertretende Unmöglichkeit der Dienstleistung, also die Frage, wer das Entgeltrisiko trägt, sollten die versprochenen Dienste des Arbeitnehmers nicht zustande kommen (Schrammel, ZAS 1983, 63 [Pkt 1.]). Nach der Rechtsprechung ist für einen Entgeltanspruch nach § 1155 Abs 1 ABGB neben dem aufrechten Bestehen eines Arbeitsvertrags allein entscheidend, ob der Arbeitnehmer zur Leistung bereit war und durch Umstände, die auf Seiten des Arbeitgebers lagen, daran verhindert worden ist (RS0021428).
[27] 3. Die Judikatur rechnet dem Arbeitgeber insbesondere all jene die Dienstverhinderung auslösenden Ereignisse zu, welche die Person des Arbeitgebers, sein Unternehmen, die Organisation und den Ablauf des Betriebs, die Zufuhr von Rohstoffen, Energien und sonstigen Betriebsmitteln, die erforderlichen Arbeitskräfte, die Auftragslage und Absatzlage sowie die rechtliche Zulässigkeit der betrieblichen und unternehmerischen Tätigkeit betreffen (RS0021631 […]).
[28] 4.1. Grundsätzlich können auch Umstände auf Seiten des Arbeitgebers, die diesen zur Entgeltfortzahlung verpflichten, dem Arbeitgeber zuzurechnende Zufälle sein, die die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers verhindern […].
[29] 4.2. Strittig ist in der Lehre in diesem Zusammenhang insbesondere, ob ein Umstand, der den Arbeitnehmer an der Arbeitsleistung hindert und eine Entgeltpflicht des Arbeitgebers auslöst, (nur) dann dem Arbeitgeber zuzurechnen ist, wenn er von ihm steuer- bzw beherrschbar ist (vgl Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 § 1155 ABGB Rz 23). Diskutiert wird, ob es neben Umständen, die entweder auf Seiten des Arbeitnehmers oder des Arbeitgebers liegen, eine sogenannte „neutrale Sphäre“ gibt, die dazu führen soll, dass der Arbeitnehmer für den Zeitraum der Arbeitsverhinderung keinen Entgeltanspruch hat (Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 § 1155 ABGB Rz 24 mwN).
[…]
[31] 4.3. In der Entscheidung 9 ObA 202/87 wurden auch Fälle „höherer Gewalt“, sofern davon das Unternehmen, aber nicht die Allgemeinheit berührt ist, zur Sphäre des Arbeitgebers gezählt. Erst wenn ein Ereignis oder ein Umstand zwar auch auf Seite des Arbeitnehmers eintrete, jedoch in seiner Auswirkung über die Arbeitgebersphäre hinaus in vergleichbarer Weise die Allgemeinheit treffe, sei es nach dieser Entscheidung gerechtfertigt, von einer Entgeltzahlungspflicht des Arbeitgebers abzusehen. Das sei zB bei umfassenden Elementarereignissen, aber auch bei Seuchen, Krieg, Revolution und Terror, der sich nicht nur gegen das Unternehmen richte, der Fall. Ein Teil der Lehre spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „allgemeinen Kalamität“ und erklärt diese Einschränkung mit der Geschäftsgrundlage oder dem Gedanken, dass Störungen, welche auch die Allgemeinheit betreffen, nicht mehr Gegenstand einer Norm sind, welche Risiken der beiden Vertragspartner verteilt (Rebhahn in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 1155 ABGB Rz 33 mwN; Rebhahn/Ettmayer in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.04 § 1155 Rz 23 mwN in FN 95). Es läge dann kein Umstand mehr vor, der auf Seiten des Arbeitgebers liege. Auch dem Arbeitnehmer sei es in diesem Fall nicht mehr möglich, sich leistungsbereit zu erklären (Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 § 1155 Rz 42).
[35] 6. Im Schrifttum wurde diese Frage der Anwendbarkeit des § 1155 Abs 1 ABGB beim Sonderfall der COVID-19-Pandemie umfangreich aufgearbeitet:
[…]
[40] 7. Der erkennende Senat schließt sich jenem Teil der Lehre an, die einen Entgeltfortzahlungsanspruch des Arbeitnehmers gemäß § 1155 Abs 1 ABGB beim Sonderfall der COVID-19-Pandemie auch außerhalb des zeitlichen Anwendungsbereichs des § 1155 Abs 3 ABGB bejaht.
7.1. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist eine Auslegung des § 1155 Abs 1 ABGB. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung löst grundsätzlich jeder Umstand, der auf Seiten des Dienstgebers „liegt“, eine Entgeltpflicht aus. Wie ua Felten (in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 § 1155 ABGB Rz 27 ff) zutreffend aufzeigt, stellt die Verwendung des neutralen Begriffs „liegen“ klar, dass es für die Anwendbarkeit des § 1155 ABGB gerade nicht auf die subjektive Vorwerfbarkeit des Ereigniseintritts oder auch bloß auf dessen Zurechnung zum Dienstgeber ankommt. Der Gesetzgeber spricht bewusst nicht von Umständen, die dem Dienstgeber „zuzurechnen“ oder vom Dienstgeber „verursacht“ worden sind. Das ist deshalb konsequent, weil mit der III. TN (AB 78 BlgHH 21. Sess 1912, 342) die bisherige Konzeption eines Schadenersatzanspruchs aufgegeben und an dessen Stelle dem Dienstnehmer ein Erfüllungsanspruch eingeräumt wurde. Auf subjektive Elemente sollte es gerade nicht mehr ankommen. Nunmehr sollte jeder Zufall, der in der Sphäre des Dienstgebers vorkommt, einen Entgeltanspruch auslösen […]. Der Gesetzgeber wollte damit die für die Zurechnung ganz entscheidende Frage der Beeinflussbarkeit und Beherrschbarkeit des Risikos aus der Betrachtung ausgeklammert haben.
[41] 7.2. Mit diesem Auslegungsergebnis des § 1155 Abs 1 ABGB grundsätzlich übereinstimmend hat die Rechtsprechung […] auch Fälle „höherer Gewalt“ als zur Sphäre des Dienstgebers gehörig angesehen. Eine Einschränkung der Entgeltfortzahlungspflicht des Dienstgebers in diesen Fällen höherer Gewalt wurde von der (älteren) Rechtsprechung nur insofern gemacht, als die Pflicht zur Entgeltfortzahlung nach § 1155 Abs 1 ABGB dann (in Ausnahmesituationen) 13 entfallen soll, wenn vom Elementarereignis („höhere Gewalt“) nicht nur das Unternehmen des Dienstgebers, sondern auch die Allgemeinheit berührt ist. Nur wenn somit ein Ereignis oder ein Umstand zwar auch auf Seite des Dienstnehmers eintritt, jedoch in seiner Auswirkung über die Dienstgebersphäre hinaus in vergleichbarer Weise die Allgemeinheit trifft (sog. „allgemeine Kalamität“), bestehe keine Entgeltzahlungspflicht des Dienstgebers.
[42] 7.3. Ausgehend davon, dass es sich bei der COVID-19-Pandemie um einen Fall „höherer Gewalt“ handelt (vgl RS0133812), ist zu prüfen, ob dieses Ereignis nicht nur auf beiden Seiten der Arbeitsvertragsparteien eingetreten ist, sondern darüber hinaus in vergleichbarer Weise die Allgemeinheit betroffen hat. Dies ist nach Ansicht des erkennenden Senats in Bezug auf das zwischen den Parteien bestandene Arbeitsverhältnis aber nicht der Fall gewesen. Wie von einem Teil der Lehre überzeugend aufgezeigt wird […], sprechen die verbleibenden unternehmerischen Entscheidungsspielräume trotz der umfangreichen COVID-Maßnahmen und der Betriebsschließungen zusammen mit den vom Verordnungsgeber geschaffenen Rahmenbedingungen, die weiterhin ein Zustandekommen von Dienstleistungen ermöglichten, gegen eine „allgemeine Betroffenheit“. Nicht die Krankheit selbst, sondern die behördlichen Maßnahmen haben dazu geführt, dass die vereinbarten Dienste nicht erbracht werden konnten. Insofern zutreffend weist etwa Haider (§ 1155 ABGB in der COVID-19-Krise, DRdA-infas 2020, 199 [200 f]) darauf hin, dass eine vergleichbare Betroffenheit der Allgemeinheit – insbesondere durch die Maßnahmen des Gesetzgebers (bzw der Verordnungsgeber) – nicht vorlag. Vielmehr war diese Betroffenheit sehr unterschiedlich. Während einige Betriebe ihre Tätigkeit in den Betriebsräumlichkeiten oder örtlich disloziert im Home-Office nahezu unverändert aufrecht erhalten konnten, zB Lebensmittelunternehmen davon sogar profitieren, war das Betreten anderer Betriebe behördlich verboten. Individuell-konkrete behördliche Verbote sind regelmäßig der Dienstgebersphäre zuzurechnen. Dass die – unstrittig arbeitsbereite – Klägerin ihre versprochenen Arbeitsleistungen nicht erbringen konnte, lag nicht in ihrer Sphäre, sondern eben in jener der Gemeinschuldnerin, die ihre Arbeitsleistungen als Aushilfskellnerin nicht angenommen hat (annehmen konnte).
Der hier gegenständliche § 1155 Abs 1 erster Halbsatz ABGB regelt die Frage, wer das Entgeltrisiko trägt, wenn die im Arbeitsvertrag versprochenen Dienste nicht zustande kommen. Der AN behält seinen Entgeltanspruch, wenn er leistungsbereit ist und die Dienstverhinderung aus vom AG zu vertretenen Gründen unterblieben ist. Hierzu zählen beispielsweise Umbauarbeiten an der Betriebsstätte des AG, die zur Verhinderung der Arbeitstätigkeit des AN führen. Der AN behält demnach weiterhin seinen Entgeltanspruch, sofern er arbeitsbereit war.
In diesem Zusammenhang ist in der Lehre strittig, ob die aus einer sogenannten „neutralen Sphäre“ stammenden Umstände dazu führen sollen, dass der AN für den Zeitraum der Arbeitsverhinderung keinen Entgeltanspruch hat.
Nach der Rsp wurden Fälle „höherer Gewalt“, sofern davon das Unternehmen, nicht jedoch die Allgemeinheit berührt ist, zur Sphäre des AG gezählt. Erst wenn ein Ereignis oder ein Umstand auch auf Seiten des AN eintrete, in seiner Auswirkung jedoch die Allgemeinheit treffe (wie zB bei Elementarereignissen, Seuchen, Krieg), ist von der Entgeltzahlungspflicht des AG abzusehen. Ein Teil der Lehre spricht hierbei von einer „allgemeinen Kalamität“.
Bei der COVID-19-Pandemie handelt es sich nach der Rsp um eine schicksalhafte Entwicklung iS eines Elementarereignisses und um eine Seuche. Fraglich war bis dato, ob ein Entgeltfortzahlungsanspruch des AN gem § 1155 ABGB auch außerhalb des zeitlichen Anwendungsbereiches des § 1155 Abs 3 ABGB besteht, wenn es zu Betriebsschließungen kommt. Diese zwischen 15.3. bis 31.12.2020 geltende Bestimmung sah ausdrücklich vor, dass Maßnahmen aufgrund des COVID-19-Maßnahmengesetzes, die zum Verbot oder zu Einschränkungen des Betretens von Betrieben führten, als (dem AG zurechenbare) Umstände iSd § 1155 Abs 1 ABGB galten, wobei AN, deren Dienstleistungen aufgrund solcher Maßnahmen nicht zustande kamen, im Gegenzug zum Verbrauch von Urlaubs- und Zeitguthaben in dieser Zeit auf Verlangen des AG verpflichtet wurden.
Im gegenständlichen Fall war entscheidungswesentlich, ob bei der COVID-19-Pandemie schon von einer „allgemeinen Kalamität“ bzw „allgemeinen Betroffenen“ gesprochen werden kann. Ein Teil der Lehre vertritt die Rechtsansicht, dass bei der COVID-19-Pandemie noch nicht von einer „allgemeinen Kalamität“ gesprochen werden könne und befürwortet einen Entgeltfortzahlungsanspruch des AN. Individuell-konkrete behördliche Verbote seien somit der AG-Sphäre zu verorten. Die befristete Einführung des § 1155 Abs 3 ABGB habe nur klarstellende Funktion gehabt (Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger [Hrsg], ABGB4 § 1155 Rz 45, 47; Felten/Pfeil, Arbeitsrechtliche Auswirkungen der COVID-19-Gesetze – ausgewählte Probleme, DRdA 2020, 295 [302]; dies, COVID-19 und Entgeltfortzahlung, CuRe 2020/19 [Pkt 5]; Pfeil in Schwimann/Kodek [Hrsg], ABGB Praxiskommentar Bd 75 § 1155 ABGB Rz 14c; Reissner, COVID-19-Pandemie und Dienstverhinderungsrecht, in Anzenberger/Radner/Rausch-Kalod [Hrsg], COVID-19 in der Arbeitswelt [2022] 13 [20]; Gruber-Risak, Die Seuche, das Risiko und der Arbeitsvertrag – Reflexionen zu § 1155 ABGB aus Anlass der COVID-19-Pandemie, ÖJZ 2021, 165 [171]; Haider, § 1155 ABGB in der COVID-19-Krise, 9DRdA-infas 2020, 19 [200 f]).14
In der Lehre wird aber auch die Rechtsansicht vertreten, dass die pandemiebedingte Ausnahmesituation der neutralen Sphäre zuzurechnen sei und daher keine Entgeltfortzahlungspflicht des AG bestehe; so zB Friedrich, Entgeltfortzahlung nach § 1155 ABGB und COVID-19 – Muss die Sphärentheorie angesichts der Neuregelung des § 1155 Abs 3 ABGB im Zusammenhang mit der Corona-Krise neu überdacht werden? ZAS 2020, 26 [161 f]; Marhold/Brameshuber/Friedrich, Arbeitsrecht4 [2021] 248; Rauch, Die Dienstverhinderung durch eine Pandemie – Zur bis Ende 2020 befristeten Neuregelung des § 1155 Abs 3 und 4 ABGB, ASoK 2020, 301 [303]; Vogt in Gruber-Risak/Mazal [Hrsg], Das Arbeitsrecht – System und Praxiskommentar. Corona-Sonderrecht betreffend das Unterbleiben der Arbeitsleistung, Kap 7 Rz 210; Unterrieder, Entgeltfortzahlung während Betriebsschließung in der Pandemie, RdW 2020, 261 [262]; Kietaibl/Wolf in Resch [Hrsg], Corona-HB1.04 Kap 3 Rz 2; Windisch-Graetz, Arbeitsrecht II12 [2023] 212).
Der OGH schloss sich in seiner E jenem Teil der Lehre an, die einen Entgeltfortzahlungsanspruch des AN gem § 1155 Abs 1 ABGB beim Sonderfall der COVID-19-Pandemie auch außerhalb des zeitlichen Anwendungsbereichs des § 1155 Abs 3 ABGB bejaht. Er begründete dies ua damit, dass eine Einschränkung der Entgeltfortzahlungspflicht des AG in Fällen höherer Gewalt von der bisherigen Rsp nur insofern gemacht wurde, als die Pflicht zur Entgeltfortzahlung nach § 1155 Abs 1 ABGB dann (in Ausnahmesituationen) entfallen soll, wenn vom Elementarereignis („höhere Gewalt“) nicht nur das Unternehmen des AG, sondern auch die Allgemeinheit berührt. Anders ausgedrückt: Nur wenn ein Ereignis oder ein Umstand zwar auch auf Seite des AN eintritt, jedoch in seiner Auswirkung über die Sphäre des AG hinaus in vergleichbarer Weise die Allgemeinheit trifft (sogenannte „allgemeine Kalamität“), besteht keine Entgeltzahlungspflicht des AG.
Ergänzend vertrat der OGH gegenständlich die Rechtsansicht, dass es sich bei der COVID-19-Pandemie um einen Fall „höherer Gewalt“ handelt, wobei dieses Ereignis nicht die Allgemeinheit betroffen hat, zumal die verbleibenden unternehmerischen Entscheidungsspielräume – trotz der umfangreichen COVID-Maßnahmen und der Betriebsschließungen zusammen mit den vom Verordnungsgeber geschaffenen Rahmenbedingungen – weiterhin ein Zustandekommen von Dienstleistungen ermöglichten. Nicht der Virus selbst, sondern die sich daraus ergebenden behördlichen Maßnahmen führten dazu, dass die vereinbarten Dienste bzw Dienstleistungen nicht erbracht werden konnten. Im gegenständlichen Fall war – aufgrund der Maßnahmen des Gesetzgebers bzw Verordnungsgebers – die Betroffenheit des Einzelnen sehr unterschiedlich ausgeprägt. Während das Betreten einiger Betriebe behördlich verboten war, konnten andere ihre Tätigkeit in den Betriebsräumlichkeiten oder örtlich im Home-Office nahezu unverändert aufrechterhalten; vor allem die Lebensmittelunternehmen, Onlinehandel oder Essenszusteller haben aufgrund der behördlichen Maßnahmen sogar profitiert.
Im Ergebnis bestand daher der Entgeltanspruch der Kl von 1.4. bis 18.5.2021 gem § 1151 ABGB mangels allgemeiner Betroffenheit infolge der COVID-19-Pandemie zu Recht.