Die ILO und die europäischen Gewerkschaften in der Zwischenkriegszeit*

 REINERTOSSTORFF (MAINZ)
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Der Weg zu einer internationalen Sozialpolitik

Die entstehenden Gewerkschaften im 19. Jahrhundert hatten zwar ihren Ausgangspunkt in lokalen wie beruflichen Partikularitäten, doch sehr schnell strebten sie auch eine darüber hinausgreifende Zusammenarbeit an, wie es die entstehenden nationalen wie internationalen Märkte von ihnen erforderten, wenn sie nicht durch die ihnen innewohnende Konkurrenz an den Rand gedrängt werden wollten. Somit war ihnen eine internationale Dimension von Anfang an nicht fremd. Doch stießen solche Aktivitäten zunächst auf große Schwierigkeiten.

Am einfachsten hatten es die Handwerksgesellen, die zur Erlangung ihrer beruflichen Qualifikation seit dem ausgehenden Mittelalter in Europa Wanderjahre zu absolvieren hatten. Dies war dann im 19. Jahrhundert einer der Ausgangspunkte für die entstehenden Gewerkschaften, die Gegenseitigkeitsverträge abschlossen. Mit der entstehenden Fabrikarbeit bemühten sich die Berufsverbände um ähnliche Verträge, weniger um Hilfeleistungen für die nun abnehmende Bedeutung der Wanderschaft zu garantieren, als um „Schmutzkonkurrenz“ zu verhindern. Informationen über die Löhne wurden ausgetauscht, um einen Unterbietungswettbewerb zu verhindern, oder Informationen über technologische Entwicklungen und ihre Folgen für die Arbeiterschaft weitergegeben, die bald auch weitere Produktionsstandorte erreichen würden. Nicht zuletzt ging es aber auch um die Verhinderung der Rekrutierung von Streikbrechern.

Mit der weitgehenden Abschaffung der feudalen Schranken und ihrer Ersetzung durch „freie Märkte“ verlief dies international weitgehend ungeregelt. Angesichts der katastrophalen Auswirkungen der Industrialisierungen und der Festigung der Nationalstaaten kam es zwar zu ersten Ansätzen einer „Fabrikgesetzgebung“ und damit zum Beginn dessen, wofür sich der Begriff „Sozialpolitik“ eingebürgert hat. Doch die internationale Ebene blieb von einer solchen „Einschränkung des freien Marktes“ weitgehend ausgenommen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu Ansätzen einer internationalen Sozialpolitik – aus dem Impuls einzelner Staaten aufgrund der verschiedensten Motive heraus, aber nicht zuletzt aufgrund des Wirkens einer Reihe sozialreformerischer Intellektueller in den verschiedensten Ländern, die sich 1900 in der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz zusammenschlossen.*

Mit Förderung vor allem durch die Schweizer Regierung gründete sie das Internationale Arbeitsamt mit Sitz in Basel, das in der Folgezeit als Informationsstelle für internationale Sozialpolitik wirkte und eine Reihe von Konferenzen anregte. Sie legten die Grundlagen für zwei im Jahre 1906 dann von Diplomatenkonferenzen angenomme-237ne Abkommen, die das Verbot der Nachtarbeit für Frauen und der Verwendung von Weißphosphor bei der Zündholzproduktion beinhalteten. Sie waren die ersten Verträge dieser Art auf internationaler Ebene. Weitere waren in Planung, als der Ausbruch des Weltkriegs alle Gespräche abbrach. Zwischenzeitlich waren allerdings auch schon mehr als ein Dutzend bilateraler Vereinbarungen erfolgt, in denen einzelne Staaten die insb aus der Migration resultierenden Probleme in den entstehenden Sozialversicherungen behandelten, so zB zwischen Italien und Frankreich.

Sie waren Ausdruck der Notwendigkeit, eine zunehmend globale Wirtschaft zu regulieren, um die gegenseitige Unterbietungskonkurrenz einzuhegen, gingen also vor allem auf ökonomische und sozialpolitische Motive zurück, auch wenn oft die allerersten Impulse aus humanitären Erwägungen gekommen waren. Allerdings bezogen sie sich allein auf die sich industriell entwickelnden Länder Europas und Nordamerikas. Die koloniale Welt blieb dabei weiterhin von ihren jeweiligen Metropolen abhängig.

Die internationale Gewerkschaftsbewegung war bei diesen Initiativen allenfalls am Rande beteiligt.* Zunächst waren internationale Vereinigungen auf Berufsebene gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, die sogenannten Internationalen Berufssekretariate. Im Jahre 1901 war es dann zur Gründung eines Internationalen Sekretariats der nationalen Gewerkschaftsbünde gekommen, aus dem 1913 der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) entstand. An der Ausarbeitung der erwähnten Abkommen war es nicht beteiligt gewesen. Einige Gewerkschaftsbünde unterhielten allerdings Kontakte zu den nationalen Sektionen der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeitsschutz (IVfgA) und verfolgten mit Interesse die durch das Baseler Internationale Arbeitsamt verbreiteten Informationen.

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Internationale Gewerkschaftsbewegung und die Gründung der ILO

Das alles änderte sich mit dem Weltkrieg. Die Gewerkschaftsbünde in den kriegführenden Mächten erklärten sich für die Unterstützung ihrer jeweiligen Regierung und wurden damit Teil der (wirtschaftlichen) Kriegsführung. Je nach den politischen Gegebenheiten des Landes erhielten sie nun im Gegenzug endlich die staatliche Anerkennung, was allerdings auch eine zweischneidige Angelegenheit war. Denn damit mussten sie auch die Kriegspolitik mittragen, womit sich auch die Konflikte in den Arbeiterparteien in ihren Reihen widerspiegeln sollten, ohne allerdings eine vergleichbare (Spaltungs-)Dynamik anzunehmen.*

Es waren zuerst die Gewerkschaftsbünde im alliierten Lager, die im Jahre 1916 auf einer Konferenz im britischen Leeds für die Zeit nach dem Krieg eine Art Kompensation für ihre Haltung in Gestalt einer internationalen sozialpolitischen Institution forderten, die aufgrund eigener Initiative für alle Staaten verbindliche internationale Abkommen verabschieden sollte. Trotz der Spaltung in zwei Kriegslager setzte sich diese Vorstellung auch auf der Gegenseite durch.

Doch die Initiative ging nach Kriegsende auf die Regierungen der Siegermächte über, die im Frühjahr 1919 bei den Pariser Friedensverhandlungen eine Kommission einsetzten. Sie erarbeitete die Grundlagen für die Internationale Arbeitsorganisation (bzw nach der englischen Abkürzung ILO), die an den ebenfalls als Ergebnis der Friedenskonferenz geschaffenen Völkerbund angebunden war. Ihre Grundsätze wurden in einer Charta niedergelegt, die in alle Friedensverträge mit den Einzelstaaten im gleichen Wortlaut – zumeist als Teil XIII – aufgenommen wurden. In ihr wurden die Organisationsstruktur wie die Vorgehensweise bei ihrer Arbeit geregelt und einige allgemeine programmatische Grundsätze festgelegt.

Die internationale Gewerkschaftsbewegung, die nur zu einem kleinen Teil in der Kommission vertreten war, in der Diplomaten und sozialpolitische Experten den Ton angaben, hatte sich über diesen Beratungsweg und dann das Ergebnis eher enttäuscht gezeigt. Bei allen Unterschieden zwischen den einzelnen nationalen Gewerkschaftsverbänden in Programmatik und Strategie hatte man mehr erhofft. Das betraf vor allem die mangelnde Verbindlichkeit ihrer Festlegungen. Was die Beratungen der ILO auf ihren jährlichen Treffen, der Internationalen Arbeitskonferenz (IAK), passiert hatte, war nicht schon automatisch für die Mitgliedsländer beschlossen. Es konnten Übereinkommen angenommen werden, die von den Mitgliedstaaten zu ratifizieren waren, um dann erst in Kraft treten zu können. Oder nur unverbindliche Empfehlungen.

Vor allem aber zeichnete sich die ILO durch ihre dreiteilige Struktur, den sogenannten Tripartismus, aus. Sie bestand aus drei Säulen: den Mitgliedsregierungen sowie den Unternehmerverbänden und den Gewerkschaften. Eine nationale Delegation war aus Delegierten dieser Sektoren zusammengesetzt. Am Sitz der ILO wurde eine ständige Verwaltung unter dem Namen Internationales Arbeitsamt (IAA) eingerichtet, das damit an die frühere Einrichtung in Basel anknüpfte, aber nun eine ganz andere Dimension hatte. Beim komplizierten Entscheidungsmechanismus verfügten die Regierungsvertreter über einen leichten Überhang. Dagegen hatten die Gewerkschaften bei ihren ersten Überlegungen während des Kriegs noch an so etwas wie238 ein internationales Parlament der Arbeit gedacht, das wesentlich von ihnen beschickt werden würde. Auch umfasste die Charta der ILO nur eine Reihe von allgemeinen Grundsätzen statt einer Reihe von unmittelbar zu verwirklichenden sozialpolitischen Regelungen, für die manche Gewerkschaftsbünde schon zahlreiche Punkte benannt hatten. Doch die ILO war eben ihrem ganzen Charakter nach eine zwischenstaatliche Organisation für das spezifische Feld der Sozialpolitik, und auch dafür wollten sich die Staaten nicht das Heft aus der Hand nehmen lassen.

Allerdings hatte die internationale Gewerkschaftsbewegung fast zur gleichen Zeit, wie die Beratungen in Paris durchgeführt wurden, auch noch ihr „eigenes Problem“ zu lösen. Sie musste noch das während des Kriegs erfolgte Auseinanderbrechen in zwei Lager überwinden, was sie nach Kriegsende auch in ihrer Interventionsfähigkeit gegenüber den Siegerstaaten eingeschränkt hatte. Die Rekonstruktion des Internationalen Gewerkschaftsbundes geschah nach einer ersten Beratung im Februar 1919 in Bern schließlich Ende Juli/Anfang August auf einem Kongress in Amsterdam. Dort wurde nun auch der Sitz des IGB angesiedelt (und was ihr den „Rufnamen“ Amsterdamer Internationale einbringen sollte).

Ohne hier auf den ganzen Verlauf eingehen zu können, etwa auf die Bewältigung der aus dem Krieg rührenden Beschuldigungen, auf die Lösung der organisatorischen Fragen und auf die Erörterung der allgemeinen Orientierung angesichts der Nachkriegssituation, die politisch so ganz anders war als wie im Krieg erwartet, sei hier vor allem auf die Diskussion um die Haltung zur ILO hingewiesen. Scharf wurden die Unzulänglichkeiten der ILO-Charta kritisiert und ihr das auf den Beratungen im Februar verabschiedete Programm umfassender Forderungen entgegengestellt. Doch das war nur eine prinzipielle Kritik. In der Praxis hatte man sich ja schon längst, wie die Kriegsjahre gezeigt hatten, zu einer reformorientierten Mitarbeit im Staat entschlossen. Entsprechend erklärte man sich zur Teilnahme an der ILO bereit, sicher in der Erwartung, diese dann iSd gesamten gewerkschaftlichen Vorstellungen beeinflussen zu können. Man machte dies aber von der Erfüllung zweier Forderungen abhängig. Zum einen sollte jedes Land vertreten sein, was auf die Mitgliedschaft der Verliererstaaten (mit Deutschland als dem bedeutendsten Industrieland auf dem europäischen Kontinent an der Spitze) abzielte, obwohl sie weiterhin nicht zum Völkerbund zugelassen waren. Zum anderen sollte der IGB quasi automatisch über das Monopol für die Vertretung der Arbeiterseite verfügen.

Das erstere gestanden die Alliierten schließlich zu, nachdem die IGB-Führung in Befolgung dieses Kongressauftrags intensiv sowohl beim Hohen Rat der Alliierten wie bei der Vorbereitungskommission der für November 1919 in Washington einberufenen ersten IAK interveniert hatte. Denn als Institution mit globalem Anspruch würde die ILO ohne die Einbindung dieser Staaten keinen Sinn machen.

Doch ein solches Entgegenkommen galt nicht für die zweite Forderung, so sehr der IGB auch als Garantie gegen allzu großen Radikalismus galt – schließlich lag der Schatten der russischen Revolution über der Nachkriegswelt. Denn die Vertretung der Arbeiterseite in der von jedem Land zu entsendenden Delegation war jeweils von deren Regierung zu bestimmen, wenn sie dafür auch entsprechend der ILO-Charta auf die jeweils repräsentativste Arbeiterorganisation im Lande zurückzugreifen hatten. Das sollte in der Praxis doch auf eine hegemoniale Rolle des IGB hinauslaufen, denn seine Mitgliedsverbände waren vor allem in den wichtigen Industrieländern tonangebend. Es war aber niemals automatisch garantiert, was in der Folgezeit dann auch zu Konflikten führen sollte, auf die im Weiteren noch einzugehen sein wird.

Mit der Durchsetzung der deutschen Teilnahme – die aus technischen Gründen dann doch nicht realisiert werden konnte – war aber für die Mitgliedsorganisationen des IGB das letzte Hindernis für die Beteiligung gefallen und so waren sie bei der Eröffnung der ersten Konferenz, die in Washington vom 29.10. bis 29.11.1919 zusammentrat, prominent – in den Reihen der wichtigsten nationalen Delegationen – vertreten. Diese Konferenz mit einer Reihe wichtiger Beschlüsse zur Gestaltung der Sozialpolitik der Mitgliedstaaten führte damit zur eigentlichen Gründung der ILO, für die ihre Charta nur die organisatorischen Grundlagen gelegt hatte. In dieser Zeitschrift ist bereits ausführlich dargestellt worden, wie sich dieser Prozess der programmatischen und organisatorischen Herausbildung der Grundlagen der ILO in einer Verflechtungsgeschichte der drei Achsen der Ungleichheit von Klasse – aus dem zumeist industriellen Lohnarbeitsverhältnis resultierend –, von Geschlecht – als der, wie es damals hieß, „Frauenfrage“ – und der globalen Differenz – der Situation der „kolonialen und halbkolonialen Länder“ gestaltete.* Das braucht hier nicht wieder aufgenommen zu werden. Im Weiteren soll anhand einiger exemplarischer Bereiche der Blick darauf gerichtet werden, wie der IGB in der Folgezeit seinen Einfluss in der ILO wahrnahm.

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Gestaltung der ILOStrukturen und Entwicklung enger Kontakte. Die Beziehungen zwischen ILO und IGB

Zwar war dem IGB seine geforderte, quasi automatische Monopolstellung für die Arbeiterseite nicht gewährt worden. Doch durch das Wirken der zu seinen Mitgliedsverbänden gehörenden Arbeiterdelegierten und die geschickte Einführung von so nicht in der Charta vorgesehenen Strukturen, die dann prägend für die zukünftige Arbeitsweise239 der ILO wurden, kam der IGB dem sehr nahe. Bereits vor der Konferenz hatte seine Führung beschlossen, vor ihrer Eröffnung alle dem IGB angehörenden Arbeiterdelegierten und die ihnen beigeordneten Sachverständigen ungeachtet der Zugehörigkeit zu einer nationalen Delegation zu einer Gesamtberatung zusammenzurufen. Dort bildete man eine länderübergreifende Arbeitergruppe mit einem Vorsitzenden und einem Sekretär. Man verabredete sich zu einem einheitlichen Auftritt zu jedem Tagesordnungspunkt. Daraufhin schlugen auch die Regierungs- und dann die Unternehmervertreter dieselbe Vorgehensweise ein. Damit war das System der drei Gruppen geschaffen worden, die, obwohl sie in der ILO-Charta nicht aufgeführt waren, von nun an die Tätigkeit der Arbeitskonferenz wie des dazwischen tagenden Verwaltungsrats bestimmen sollten, da sie ganz konkret ihren „tripartären“ Charakter abbildeten.

Die Arbeit der Gruppen im Rahmen dieser beiden Tagungen der ILO war aber nur die eine Seite, gleichsam die „legislative“. Die andere, „exekutive“, war ihre permanente Behörde, wenn man sie so bezeichnen will, also das Internationale Arbeitsamt. Dieses war von einem Direktor zu leiten, der zweifellos die Schlüsselposition bekleiden würde: Einerseits war er für die laufenden Geschäfte verantwortlich, dh er hatte für die Umsetzung der Beschlüsse der Arbeitskonferenz in den Mitgliedstaaten zu sorgen, andererseits konnte er solche auch – im Austausch mit den Mitgliedstaaten, mit den Gewerkschaften oder mit den Unternehmerverbänden – entsprechend seinen Vorstellungen anregen. Er war von der ersten Sitzung des auf der Arbeitskonferenz gewählten Verwaltungsrats im Anschluss an sie zu wählen.

Für den IGB war es also wichtig, dass dieser Posten, so sehr er auch „überparteilich“, dh gegenüber allen drei Säulen verpflichtet, ausgeübt werden müsse, von einer ihm aufgeschlossenen Person bekleidet würde, die über die doch sehr allgemeinen Bestimmungen in der ILO-Charta hinaus die genaue Funktionsweise des Amtes prägen würde. Nachdem schon der ebenfalls für die zukünftige Arbeit der ILO nicht ganz unwichtige Posten des Vorsitzenden des Verwaltungsrats durch einen Regierungsvertreter besetzt worden war,* ergriff der französische Arbeiterdelegierte Léon Jouhaux die Initiative mit einem eigenen Vorschlag: den langjährigen sozialistischen Politiker Albert Thomas, der sich schon lange mit sozialpolitischen Fragen beschäftigt hatte und als Abgeordneter und Minister im Krieg, wie auch durch Tätigkeit in der IVfgA, nicht nur über langjährige Erfahrung verfügte, sondern dabei immer wieder persönlichen Kontakt zu den Gewerkschaften gehabt hatte. Von ihm war zu erhoffen, dass er die Verbindung zum IGB suchen und viele Initiativen in ihrem Sinne ergreifen würde. Da Jouhaux für diesen Kandidaten neben dem Rückhalt durch die Arbeitergruppe auch die Zustimmung bei einer Reihe von Regierungsdelegierten und sogar auch die des französischen Unternehmerdelegierten hatte, setzte sich Thomas – gegen den zweiten Kandidaten, einen Beamten des britischen Arbeitsministeriums, zwar mit sozialpolitischer Expertise, aber ohne jegliche gewerkschaftliche Verbindung – durch.*

Diese Erwartung sollte sich in den folgenden Jahren, bis zum überraschenden Tod von Thomas im Jahre 1932, zwar nicht vollständig verwirklichen; es gab auch Momente von Spannungen und scharfen Differenzen, insb wenn Thomas meinte, sich in einzelnen Fällen „überparteilich“ verhalten zu müssen. Letztlich fühlte er sich dann mehr der Regierungsseite verpflichtet, weil ja schließlich die ILO, trotz ihrer dreiteiligen Gliederung, auf einem Zusammenschluss von Staaten beruhte. (Der schärfste Zusammenstoß war der über die Haltung zum faschistischen Italien.) Und wenn es gewerkschaftliche Kritik an der zögerlichen oder nicht erfolgenden Umsetzung der Beschlüsse der Arbeitskonferenz gab, so war dafür dann allerdings nicht Thomas verantwortlich, sondern das Verhalten einzelner Regierungen, während sich dieser redlich und intensiv um die Ratifizierung dieser Beschlüsse bemühte. Das beweist das umfangreiche Archiv der ILO.

Doch insgesamt war der Kontakt, den er zur IGB-Führung pflegte, sehr eng. Bereits wenige Wochen nach seiner Amtsübernahme, am 5.3.1920, traf er sich mit der IGB-Leitung, was bei einem Teil seiner Mitarbeiter, die aus verschiedenen staatlichen Institutionen gekommen waren, auf ein gewisses Unbehagen stieß. Eine solch enge Beziehung könnte womöglich bei einzelnen Regierungen auf Ablehnung stoßen, da dies seine Überparteilichkeit in Frage stellen würde, hieß es. Doch darüber setzte er sich hinweg. Allerdings galt bei der Absprache enger Kontakte zugleich die Zusicherung von Vertraulichkeit auf beiden Seiten. Immerhin sollte er die Tagesordnung der Leitungssitzungen des IGB erhalten, auch wenn er nicht an ihnen teilnehmen würde. Bei den öffentlichen Sitzungen, seien es die des (erweiterten) Vorstandes, seien es vor allem die Kongresse des IGB, war dies anders. Vor allem letztere besuchte er regelmäßig. Zugleich sorgte er für die Ernennung eines speziell für die Kontakte zu den Gewerkschaften zuständigen Verbindungsmanns im IAA. Für diese Position holte er sich im Laufe der Jahre verschiedene Personen aus IGB-Kreisen, wie er auch insgesamt für die verschiedensten Posten im Verwaltungsapparat der ILO zahlreiche Gewerkschafter heranzog. Vielfach klärte Thomas allerdings eventuell auftauchende Probleme direkt per Korrespondenz mit einzelnen IGB-Führern, wie das ILO-Archiv zeigt. Im weiteren Verlauf allerdings, mit der Entwicklung der ILO-Strukturen, insb den vierteljährlichen Treffen des Verwaltungsrats, und zum Teil im Ergebnis von Änderungen in der IGB-Führung, verlagerte sich der informelle Kontakt auf den direkten und damit mündlichen Austausch am Rande solcher Treffen.240

Weniger intensiv sollten sich dann die Beziehungen zwischen dem IGB und seinen Nachfolgern nach seinem Tod im Jahre 1932 gestalten. Dies war zuerst Harold Butler, der vom britischen Arbeitsministerium kommend im Jahre 1919 an den Vorbereitungen für die Gründung der ILO beteiligt und in Washington der Gegenkandidat von Albert Thomas gewesen war. Ab 1938 bis 1941 wurde der Amerikaner John G. Winant sein Nachfolger, ein Politiker und Sozialreformer des New Deal. Beide verfügten zwar über umfassende sozialpolitische Expertise; doch ihnen fehlte jeglicher Hintergrund in der Arbeiterbewegung und damit letztlich auch eine, über einzelne sozialpolitische Maßnahmen hinausgehende, umfassende gesellschaftliche Perspektive, wie sie Thomas durch seine Prägung im französischen Sozialismus besaß. Damit war das Verhältnis beider zum IGB eher „geschäftsmäßig“ und auch nicht anders als zu den übrigen Institutionen, zu denen die ILO aufgrund ihrer Aufgaben Kontakt hielt.

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Weiterentwicklung der Sozialstandards? Die Kluft zwischen Erwartungen und Ergebnissen

Aber natürlich lag der Schwerpunkt der IGB-Intervention in der ILO auf der Entwicklung internationaler Sozialstandards. Auf seine Initiative hin oder mit seiner Unterstützung verabschiedeten die Internationalen Arbeitskonferenzen bis 1939 insgesamt 67 Übereinkommen, die nach Ratifizierung in nationales Recht übergingen, und 66 nicht-bindende Empfehlungen.* Wegen seiner materiellen wie symbolischen Bedeutung für die gesamte Arbeiterbewegung, unter deren Zeichen sie seit der Gründung der Zweiten Internationale im Jahre 1889 gekämpft hatte, war das wichtigste Übereinkommen das zum Acht-Stunden-Tag (an sechs Wochentagen). Ein entsprechendes Übereinkommen wurde gleich auf der ersten Arbeitskonferenz in Washington angenommen. Damit sollte die schon in einigen Ländern geltende Arbeitszeitbegrenzung international durchgesetzt werden. Doch kaum war die Konferenz beendet, begannen in vielen Mitgliedstaaten die Probleme mit der Ratifizierung.* Dabei gab es in vielen Ländern Verzögerungen und Rückschläge, wobei sich auch Regierungen mit sozialdemokratischer Beteiligung keineswegs als Vorreiter zeigten, obwohl dies immer wieder auf Kongressen der internationalen Gewerkschaftsbewegung oder der Sozialdemokratie gefordert wurde. Zudem war Thomas unermüdlich unterwegs, um bei Gesprächen in den Hauptstädten oder bei Beratungen mit Regierungen für die Ratifizierung zu werben, was aber erfolglos blieb. Dies brachte die Gewerkschaftsbewegung dazu, neben den ständigen internationalen Appellen den Schwerpunkt auf die nationale Ebene zu legen. Denn in den wirtschaftlich starken Ländern konnte der Acht-Stunden-Tag insb in der Stabilisierungsphase der Weltwirtschaft ab 1923 per Tarifvertrag eingeführt werden.* Die Weltwirtschaftskrise ab 1929, die auch insgesamt eine deutliche Verlangsamung der Ratifizierung der Übereinkommen und damit sozialpolitische Rückschritte mit sich brachte, bewirkte dann einen deutlichen Rückschlag. Jetzt wurde zwar auf Seiten der Gewerkschaften noch intensiver eine Arbeitszeitverkürzung, nämlich den Acht-Stunden-Tag an fünf Wochentagen statt an sechs (also eine 40-Stunden-Woche anstelle einer 48-Stunden-Woche), nun auch als Mittel gegen die Massenarbeitslosigkeit, gefordert. Doch die Unternehmergruppe blockierte lange den Versuch, diese Frage auf die Tagesordnung einer Arbeitskonferenz zu setzen.

Die Diskussion über die Ratifizierung hatte allerdings auch ein Problem aufgezeigt, was sich als eine besondere Herausforderung für die Gewerkschaften erwies. Wenn in einigen Ländern die Gewerkschaften herausragende Erfolge auf einzelnen Feldern erreicht hatten, drohten Übereinkommen, die einen Mindeststandard, orientiert am Durchschnitt sozialpolitischer Forderungen, etablieren würden. Damit konnten sie eine Schlechterstellung in einzelnen Ländern bewirken, in denen die Arbeiterbewegung besonders erfolgreich gewesen war. Selbst wenn eine solche durch den Wortlaut des Übereinkommens ausgeschlossen war, drohte die Gefahr, dass die Unternehmer bei nächster Gelegenheit darauf zurückkommen würden. Das zügelte gelegentlich die gewerkschaftliche Bereitschaft, für die Ratifizierung einzutreten, wie etwa das Beispiel des Übereinkommens über das Nachtbackverbot, angenommen von der Arbeitskonferenz im Jahre 1925, zeigt.*

So sehr also die in den Beschlüssen der ILO niedergelegten Probleme für die internationale Gewerkschaftsbewegung von Bedeutung waren, so warf die Erfahrung doch bald die Frage auf, ob die Bedeutung der ILO letztlich nur in ihrer Ergänzung zu dem Gewicht lag, das die Gewerkschaften aufbringen konnten, um es bei ihren konkreten Kämpfen einzusetzen. Das war aber letztlich eine Frage der gewerkschaftspolitischen Orientierung und sollte immer wieder den Anstoß zu Diskussionen und auch Auseinandersetzungen im IGB führen, in denen Differenzen zu einzelnen Fragen sich mit Meinungsverschiedenheiten über die allgemeine Perspektive vermischten.241

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Die Gewerkschafter in der ILO im Kampf um die Demokratie

Was aber für die gewerkschaftliche Einflussnahme in der ILO in seinen Mitgliedsorganisationen unbestritten war, war die Einforderung von Demokratie. Das betraf zuallererst den Kampf um die Sicherung der „Koalitionsfreiheit“, der Garantie des Rechts auf gewerkschaftliche Organisierung. Das lag zwar schon der ILO-Charta zugrunde und schien in den ersten Jahren auch kaum angezweifelt zu sein. Doch mit der bald erfolgenden Etablierung verschiedener Diktaturen wurde es immer offenkundiger verletzt. Da die ILO aber über keinen Mechanismus verfügte, um in einem solchen Fall Sanktionen erlassen zu können, gab es noch die Möglichkeit eines ausdrücklichen Übereinkommens zur gewerkschaftlichen Organisationsfreiheit. So wurde mit Unterstützung des IGB der Prozess für ein solches Übereinkommen auf dem Verwaltungsrat Anfang 1927 in Gang gesetzt. Doch durch die Opposition einzelner Regierungen und durch die Unternehmerverbände, aber auch wegen des Aufkommens von Befürchtungen innerhalb der Arbeitergruppe, würde ein solches Übereinkommen womöglich nur Mindeststandards garantieren, die wiederum zur Schlechterstellung in Ländern mit großen gewerkschaftlichen Rechten führen würden. So war das einzige Ergebnis zunächst eine fünfbändige technische Studie über die legale Situation in den Mitgliedsländern. Ein neuer Anlauf im Jahre 1932 reichte nicht über den Verwaltungsrat hinaus. (Erst das 98. Abkommen über Kollektivverhandlungen im Jahre 1949 sollte auch die Koalitionsfreiheit mit einschließen.)

Noch deutlicher stellte sich die Frage nach der Demokratie mit der Errichtung der faschistischen Diktaturen, denn solange sie noch Mitglied der ILO waren, entsandten sie weiterhin „Arbeiterdelegierte“, aber natürlich nicht von den – verbotenen – Gewerkschaften, sondern als Repräsentanten der neuen staatlich eingerichteten Zwangsinstitutionen. Das begann auf der Arbeitskonferenz im Jahre 1923 mit dem ersten faschistischen „Arbeiterdelegierten“. Dessen Mandat stellte die vom IGB dominierte Arbeitergruppe auf der Konferenz in Frage, da die eigentliche Gewerkschaftszentrale staatlich ausgeschaltet sei. Doch ein Bündnis von Regierungs- und Unternehmerdelegierten wies den Einspruch mit Mehrheit zurück. Dies sollte sich in den folgenden Jahren regelmäßig wiederholen.

Nach der Errichtung der NS-Diktatur tauchte dieses Problem auf der Arbeitskonferenz des Jahres 1933 für den deutschen „Arbeiterdelegierten“ auf, der Robert Ley, der Chef der neuen deutschen Zwangsorganisation nach dem Verbot der Gewerkschaften, war. Noch entschiedener protestierte nun die Arbeitergruppe, allen voran der französische Arbeiterdelegierte Léon Jouhaux, Generalsekretär der CGT und Vizepräsident des IGB. Es kam zu einem heftigen Zusammenstoß, der zudem durch rassistische Kommentare von Ley am Rande der Konferenz verschärft wurde. Da in dieser Situation eine Abstimmung über sein Mandat in einer Niederlage des NS-Staates zu münden drohte, wurde die deutsche Delegation abgezogen. Bald darauf verließ Deutschland den Völkerbund und damit auch die ILO.*

Diese beiden Fälle hatten für die ILO Modellcharakter. Sie sollten zu Standardbeispielen für die Frage der Anerkennung der Mandate werden – mit Folgewirkung bis in die heutigen Tage. Dies zeigt die ausführliche Behandlung in der Fachliteratur über die Strukturen und die Verfassung der ILO.*

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Die Herausforderung der ILO durch die Weltwirtschaftskrise

Der Vormarsch der Diktaturen in den 1930er-Jahren war nur die eine Seite der Herausforderung für die internationale Gewerkschaftsbewegung. Er war eine unmittelbare Auswirkung der Weltwirtschaftskrise mit ihrer millionenfachen Arbeitslosigkeit und stellte die Gewerkschaften damit auch vor die Aufgabe, innerhalb der ILO für Maßnahmen dagegen einzutreten. Doch sollte es große Erwartungen gegeben haben, so zerschlugen sich diese bald. Es gelang zwar die Verabschiedung von Arbeitsaufträgen für ein Übereinkommen zur Senkung der Arbeitswoche auf 40 Stunden. Doch ein solches scheiterte dann auf der Arbeitskonferenz im Jahre 1933. Darüber hinaus erwies sich der überraschende Tod von Albert Thomas im Mai 1932 als großer Rückschlag für all diese Überlegungen. Er hatte nämlich die Idee eines umfassenden Plans öffentlicher Arbeiten in ganz Europa aufgeworfen, was auch mit Planungen im IGB korrelierte. Doch mit seinem Tod fehlte die Persönlichkeit, die eine solche Überlegung in die öffentliche Diskussion hineintragen und dies auch gegenüber den Regierungen anmahnen konnte. Die Ereignisse ab 1933, der Vormarsch der radikalen Rechten in allen Ländern, sollte dann das übrige dazu beitragen, dass die ILO, trotz des Beitritts der USA im Jahre 1934, in ihrer Wirkungsmöglichkeit, so bescheiden sie auch zuvor schon gewesen war, an den Rand gedrängt wurde. Sie wurde zunehmend zu einer Plattform von sozialpolitischen Experten, die Ideen entwarfen, die erst in einer ganz anderen politischen Konstellation, in den Wohlfahrtsstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg, Bedeutung annehmen konnten (aber auch in der Ausweitung der Mitgliedstaaten auf die unabhängig gewordenen Kolonien, was ein242 ganz anderes Kapitel wäre, das hier nicht angeschnitten werden konnte, zumal auch der IGB trotz einzelner Initiativen in der Zwischenkriegszeit sich nicht wirklich darum gekümmert hatte).*

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Schlussbemerkungen

Der Ausbruch des Weltkriegs aber setzte eine Zäsur, der hier nicht mehr nachgegangen werden kann. Der IGB mit seinem Sitz in Paris wurde von den deutschen Panzern überrollt. Eine kleine Gruppe aus seinem Führungskreis konnte sich nach London flüchten und von dort aus den Wiederaufbau der Gewerkschaftsinternationale, zunächst in der durchaus geänderten Gestalt des Weltgewerkschaftsbundes, in Angriff nehmen, während viele Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter im besetzten Europa einen wichtigen Beitrag zum Widerstand leisteten. Auch für die ILO stellte der Krieg einen Einschnitt dar, auf den sich dessen Führung jedoch rechtzeitig durch eine vorübergehende Emigration nach Nordamerika eingestellt hatte. Auf einer Konferenz in Philadelphia im Jahre 1944 wurde durch die dort verabschiedete Erklärung der sozialpolitische Anspruch der ILO erneuert.

Insgesamt bleibt die Bilanz der gewerkschaftlichen Einflussnahme auf die Gestaltung der internationalen Sozialpolitik mittels der ILO in der Zwischenkriegszeit durchwachsen. Die hohen Erwartungen beim Ende des Ersten Weltkriegs, die zT auch durch die Auffassung motiviert waren, damit eine Alternative zur bolschewistischen Revolution darstellen zu können, erfüllten sich so nicht. Letztlich konnte sich die ILO nicht gegen die großen Ströme der Entwicklung stellen, die im Wesentlichen aus der Hinterlassenschaft des Kriegs resultierten. Doch sie hatte ein gewichtiges sozialpolitisches Erbe geschaffen, das eine wichtige Voraussetzung für die Wiederaufnahme nach dem Zweiten Weltkrieg wurde und an dessen Ausgestaltung die internationale Gewerkschaftsbewegung einen gewichtigen Anteil gehabt hatte.