GiesenStreikrecht – Inhalt. Grenzen. Rechtsschutz

C.H. Beck Verlag, München 2022 XXII, 156 Seiten, kartoniert, € 55,–

MARTINGRUBER-RISAK (WIEN)

In Österreich ist das Streikrecht noch immer so etwas wie ein weißer Fleck auf der juristischen Landkarte: Es gibt keine umfassende gesetzliche Regelung, die wissenschaftliche Lehre und stärker noch die Rsp üben sich in Zurückhaltung. Lange Zeit und bis in die jüngste Vergangenheit gehörte es zu den Standardsätzen, dass nach österreichischem Verfassungsrecht kein (Grund-)Recht auf Streik gewährleistet sei und dass die Streikteilnahme ein Bruch des Arbeitsvertrages sei (sogenannte Trennungsthese). Dies ist jedoch heute nicht mehr aufrecht zu erhalten und wird auch von der überwiegenden Lehre so vertreten (so insb Krejci, Recht auf Streik [2015]; Marhold, DRdA 2015, 413; Kohlbacher, ecolex 2015, 690; davor schon Risak, juridikum 2012, 23). Grundlage dafür ist die jüngere EGMR-Rsp, der ein Recht auf Streik aus der Koalitionsfreiheit gem Art 11 EMRK ableitet und klarstellt, dass es sich beim Streikrecht um eine untrennbare Folge der Koalitionsfreiheit handelt (so insb EGMR 21.4.2009, Rs Enerji Yapi-Yol Sen/TUR; zum Sympathiestreik EGMR 8.4.2014, Rs RMT/VK). Da die EMRK in Österreich im Verfassungsrang steht, können sich Einzelpersonen unmittelbar auf diese und damit auf ihr Recht auf Streik berufen. Dem Grundrecht auf kollektive Maßnahmen kommt damit (zumindest mittelbare) Drittwirkung zu, dh es wirkt auch zwischen Privaten bei der Auslegung des Rechts und insb von Generalklauseln. In Details ist das Streikrecht in der österreichischen Literatur freilich umstritten, einschlägige Rsp besteht nicht. Das ist auch auf die geringe Streikfrequenz zurückzuführen, Österreich liegt im jährlichen Durchschnitt 2012-2021 bei einem streikbedingten Ausfalltag pro 1.000 Beschäftigten – Deutschland liegt mit 18 Ausfallstagen im europäischen Mittelfeld; an der Spitze stehen Belgien (96 Tage) und Frankreich (92 Tage) (WSI, Arbeitskampfbedingte Ausfallstage, https://www. wsi.de/de/arbeitskampfbedingte-ausfalltage-36570.htmhttps://www. wsi.de/de/arbeitskampfbedingte-ausfalltage-36570.htm).

Aber nicht nur hinsichtlich der Streikhäufigkeit unterscheidet sich Deutschland signifikant von Österreich – eigentlich ist alles anders, wenngleich es auch dort an einer spezialgesetzlichen Regelung fehlt, es aber umfangreiche höchstgerichtliche Rsp gibt. Das vorliegende kompakte und überaus gut lesbare Werk von Richard Giesen arbeitet die einschlägige BAG-Rsp in ihrer Entwicklung auf und nimmt auch eine Analyse vor, die zu dem Schluss kommt, dass der Status quo des Richterrechts (zu) stark konfliktfördernd sei. Das Streikrisiko sei in einer technisierten Arbeitswelt für die AG viel höher als für die Beschäftigten und damit greife die „arbeitskampfrechtliche Selbstregulierung“ nicht mehr so wie früher. Auch würden Gewerkschaften Arbeitskämpfe zur Mitgliedergewinnung einsetzen („Organisieren im Konflikt“), was aus Sicht des Autors ein Rechtsverstoß ist (§ 4 Rz 1 ff). Dazu ist anzumerken, dass Giesen als beurlaubter Professor an der LMU München Direktor des Zentrums für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht (ZAAR) ist, das von der Stiftung für Arbeitsbeziehungen und Arbeitsrecht (StAR) finanziert wird und deren Stammkapital von mehreren AG-Verbänden eingezahlt wurde. Die vorliegende Publikation zum Streikrecht selbst wurde vom Gesamtverband der AG-Verbände der Metall- und Elektroindustrie e.V. mit einem „großzügigen Zuschuss“ (so das Vorwort, S III) gefördert und knüpft teilweise an unveröffentlichten Gutachten an, die auf Anfragen aus der Praxis beruhen. Das dies alles transparent offengelegt wird, ist überaus positiv, zeigt aber, dass das Arbeitsrecht und insb das Arbeitskampfrecht nicht nur praktisch oft eine „Konfliktzone“ ist, sondern dass sich diese auch in seine wissenschaftliche Behandlung hineinzieht. Daher ist es gut, wenn der Standort klargestellt wird, von dem aus die Überlegungen angestellt werden.

Für österreichische Leser:innen ist die Entwicklung der Rsp von besonderem Interesse. Schon 1955 entschied das BAG, dass ein (rechtmäßiger) Streik zur sofortigen Suspendierung der Hauptleistungspflichten führt – eine Lösung, die sich in Österreich, wo die hA bis zu den erwähnten EGMR-Entscheidungen mehrheitlich der Trennungsthese anhing, erst nach 2010 durchsetzte. In der Folge wurde dann die Rechtmäßigkeit näher ausdefiniert und 1971 die Verhältnismäßigkeit der Arbeitskampfmaß-244nahmen als neuer Maßstab eingeführt, der dann weiter verfeinert wurde. Präzise werden in der Folge weitere Prinzipien (und deren in der Folge stattfindender Bedeutungsverlust) dargestellt (Paritätsprinzip, Vernichtungsverbot, Fairnessgebot) und damit das vom Autor beabsichtigte Bild des dauerhaften Wandels und der mangelnden Vorhersehbarkeit der richterlichen Entscheidungen zum Streikrecht gezeichnet und dabei auch betont, dass es sich um eine „personengeprägte“ Judikatur (§ 2 Rz 90) handle. Ein Bruch in der Rsp wird 2007 verortet, in concreto in den Entscheidungen zum Flashmob (22.7.2009, 1 AZR 972/08) und zum Unterstützungsstreik (19.6.2007, 1 AZR 396/06), die stark kritisiert werden, da es damit zu einer „faktisch kontrollfreien Verhältnismäßigkeitsprüfung“ gekommen sei (§ 3 Rz 1 ff). Damit habe das BAG der Gewerkschaftsseite, soweit der Arbeitskampf als solcher eröffnet ist, „eine universelle Erlaubnis zur Ergreifung von Arbeitskampfmaßnahmen“ erteilt (§ 3 Rz 28); auch das Bundesverfassungsgericht habe die Koalitionsfreiheit nach Art 9 Abs 3 GG praktisch zur „freien einseitigen Parteinahme zugunsten der Gewerkschaft freigegeben“ (§ 3 Rz 29). In der Folge wird dann von Giesen beklagt, dass diese neue Entwicklung zur Folge hätte, dass die Mechanismen, die in der Vergangenheit zur Begrenzung von Arbeitskämpfen geführt haben, an Wirksamkeit verloren hätten (§ 4 Rz 1 ff – dazu auch schon oben). Der Autor unternimmt dann eine Rekonstruktion der Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen, die er – wie in Deutschland ja nicht unüblich – aus dem Verfassungsrecht, in concreto aus den Vorgaben des Grundgesetzes ableitet und hier vor allem auf die Verfassungspflicht zum Ausgleich kollidierender Grundrechtsausübung rekurriert. Dabei kommt Deinert zum Ergebnis, dass eine Neubestimmung der Vorgaben über die Zulässigkeit von Arbeitskampfmaßnahmen notwendig sei, wobei auf die Regeln über die – auch drittschützenden – Schutzpflichten bei Vertragsverhandlungen (§§ 311 Abs 2, 241 Abs 2 BGB) zurückgegriffen werden sollte. Hier zeigt sich die Konzentration des deutschen Streikrechts auf Kollektivvertragsverhandlungen, ein Zugang, der nicht unbedingt den Vorgaben von Art 11 EMRK entspricht (Krejci, Recht auf Streik 236) und der für Österreich nicht zur Anwendung gebracht werden kann.

In den folgenden Kapiteln werden dann detailliert und kompakt die wesentlichen sich im Zusammenhang mit dem Arbeitskampf stellenden Fragen in kritischer Auseinandersetzung mit der BAG-Rsp im Lichte der von Giesen rekonstruierten Zulässigkeitsvoraussetzungen gelöst. Die Auseinandersetzung mit den supranationalen und internationalen Regelungen des Arbeitskampfrechtes fällt dann sehr knapp aus, Art 11 EMRK ist nur ein knapp halbseitiger Absatz gewidmet (§ 10 Rz 6).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Giesen mit seiner Publikation ein sehr pointiertes und gut lesbares Handbuch zum Streikrecht vorgelegt hat, das eine klare Ausrichtung aufweist, nämlich die vom BAG den Gewerkschaften aus Sicht des Autors zu weitgehend eingeräumten Spielräume wieder zu beschränken. In diesem Sinne stellt es in erster Linie eine kritische Auseinandersetzung mit dem durch die BAG-Rsp geprägten deutschen Streikrecht und einen Vorschlag zu einer Neuorientierung auf Basis von vorvertraglichen Pflichten der Kollektivvertragsparteien dar.