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Zur merkwürdigen Figur des Aufsehers im Betrieb

THOMASPFALZ (KLAGENFURT)
  1. Wer eine Weisung des DG zur Beförderung von anderen DN befolgt, hat in einem, wenn auch beschränkten Teilbereich von Vorgängen hinsichtlich der beförderten Betriebsangehörigen eine Aufgabe im Rahmen der betrieblichen Organisation zu erfüllen und ist damit „Aufseher im Betrieb“.

  2. Kein Aufseher, sondern „gewöhnlicher“ Kfz- Lenker ist hingegen derjenige, der einen im selben Betrieb tätigen Kollegen im eigenen Kfz in den Betrieb oder zu einer anderen Arbeitsstätte mitnimmt, ohne dass ihm diese Beförderung vom AG aufgetragen worden wäre.

[1] Am 16.12.2019 ereignete sich in einem Skigebiet unterhalb der L*alm abseits der Piste ein Unfall, an welchem der Bekl als Lenker des von seinem Vater gehaltenen Schneemobils (auch: „Skidoo“) und die Kl, welche auf dem Sozius des Skidoos saß, beteiligt waren und bei dem die Kl verletzt wurde.

[2] Im Zeitpunkt des Unfalls waren sowohl die Kl als auch der Bekl DN des Vaters des Bekl, der Inhaber und Betreiber des Gasthofs „A*“ ist. Neben der Kl und dem Bekl beschäftigte der Vater des Bekl zum Unfallszeitpunkt im Betrieb noch eine Küchenchefin und die Mutter des Bekl.

[3] Der Bekl war im Gasthof als Kellner angestellt. Im Selbstbedienungsrestaurant war er für den korrekten Ablauf der Vorgänge – Zubereitung und Service der Speisen, Kassaführung – verantwortlich. Er war auch für Liefer-, Transport- und Hausmeistertätigkeiten zuständig. Wenn der Vater und die Mutter des Bekl nicht vor Ort waren, konnten sich die Mitarbeiter des Gasthofs, wenn sie Fragen hatten, an den Bekl wenden, was auch die Kl immer wieder tat. Der Bekl erklärte der Kl auch den Ablauf ihrer Tätigkeit. Die Kl war als Schankgehilfin für den Selbstbedienungsbereich des Restaurants zuständig. Ihr Tätigkeitsbereich umfasste die Essens- und Getränkeausgabe sowie die Bedienung der Kassa.

[4] In das Skigebiet der L*alm gelangt man entweder mit der D*-Seilbahn und der L*alm-Sesselbahn oder über die S*-Seilbahn, wobei sie nicht direkt mit dem Lift erreichbar ist, sondern die Skifahrer, die die genannten Lifte benützen, auf dem Weg zum Tal an ihr vorbeifahren. Um zu ihrer Arbeitsstätte zu gelangen, fuhr die Kl für gewöhnlich mit der D*-Seilbahn bis zur Mittelstation, wo sie vom Vater des Bekl mit dem Skidoo abgeholt und zur Alm gebracht wurde. Nach Dienstende wurde sie – nachdem die Lifte schon geschlossen waren – vom Vater des Bekl oder manchmal auch vom Bekl mit dem Skidoo wieder zur Talstation der D*-Seilbahn hinuntergeführt.

[5] Am Unfallstag war die D*-Seilbahn nicht in Betrieb. Der Vater des Bekl beauftragte den Bekl damit, die Kl mit dem Skidoo von der Talstation der D*-Seilbahn abzuholen und zur Alm zu bringen. Um ca 9:00-9:10 Uhr holte der Bekl die Kl an der Talstation ab. Die Kl nahm auf dem Sozius des Skidoos Platz. Der Bekl vergewisserte sich vor der Abfahrt, ob sie richtig sitzt und fuhr los. Die Warnleuchte des Skidoos hatte er eingeschaltet. Der Bekl wählte die Route entlang der Piste bis zur L*alm. Auf Höhe der Mittelstation der D*-Seilbahn kontrollierte der Bekl während der Fahrt mit einem kurzen Blick nach hinten, ob die Kl richtig sitzt. Anweisungen, wie sie am Skidoo zu sitzen habe, gab der Bekl der Kl nicht. Er hatte nichts zu beanstanden und die Kl war mit dem Skidoo schon vertraut. Der Bekl wollte in der Folge zur Rückseite der Alm zufahren. Dazu verließ er unterhalb der Alm die Piste und fuhr im freien Gelände nach oben. In der Folge ereignete sich der Unfall, bei dem die Kl verletzt wurde.

[6] Der 2002 geborene Bekl fährt seit seinem 12. Lebensjahr zunächst gemeinsam mit seinem Vater und ab seinem 16. Lebensjahr alleine mit dem Skidoo. Seither erledigt er Personen- und Liefertransporte.

[7] Die Kl begehrt – nach Einschränkung um ursprünglich auch geltend gemachte und vom Bekl anerkannte Sachschäden – noch die Zahlung von 4.939,92 € sA an Schmerzengeld, Kosten der Haushaltsführung, des Pflegeaufwands, der Therapie und an unfallkausalen Spesen. Der Bekl habe den Unfall durch eine unzutreffende Wahl der Fahrtlinie verschuldet.

[8] Der Bekl wandte dagegen, soweit für das Revisionsverfahren noch von Bedeutung, ein, dass er im Unfallszeitpunkt als Aufseher im Betrieb anzusehen sei und in den Genuss des Haftungsprivilegs des § 333 Abs 4 ASVG gelange.

[9] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Unfall sei als Arbeitsunfall anzusehen, weil er sich auf dem Arbeitsweg der Kl ereignet habe (§ 175 Abs 2 Z 1 ASVG). Ein Skidoo sei iSd § 2 Abs 1 Z 23 KFG als Sonder-Kfz einzustufen, für welches keine erhöhte gesetzliche Haftpflicht bestehe. Zudem habe sich der Unfall abseits der Piste ereignet, sodass § 333 Abs 3 ASVG nicht zur Anwendung gelange. Ein vorsätzliches Handeln des Bekl sei von der Kl nicht behauptet worden. Der Bekl sei im Unfallszeitpunkt als Aufseher im Betrieb iSd § 333 Abs 4 ASVG anzusehen, weil er im Auftrag des DG selbständig und in Eigenverantwortung die Kl mit dem Skidoo zur Arbeitsstätte gebracht habe. Er habe nach der Schneelage Fahrtroute und Geschwindigkeit zu bestimmen gehabt, habe zu Beginn und während der Fahrt kontrolliert, ob die Kl korrekt saß und hätte diesbezüglich erforderlichenfalls ihr gegenüber Anweisungen erteilen können. Er habe damit ein Aufsichts-, Weisungsund Kontrollrecht gegenüber der Kl ausgeübt und sei im Rahmen der Fahrt verantwortlich für das Zusammenspiel persönlicher und technischer Kräfte gewesen.

[10] Das Berufungsgericht gab über Berufung der Kl dem Klagebegehren mit dem angefochtenen Zwischenurteil dem Grunde nach statt. Die allein im Berufungsverfahren noch zu beurteilende Rechtsfrage, ob dem Bekl im Unfallszeitpunkt die Stellung eines Aufsehers im Betrieb iSd § 333 Abs 4 ASVG zugekommen sei, verneinte es. [...]193

[11] Gegen dieses Urteil richtet sich die außerordentliche Revision des Bekl, mit der er die Abweisung des Klagebegehrens anstrebt.

[12] In der ihr vom OGH freigestellten Revisionsbeantwortung beantragt die Kl die Zurück-, hilfsweise die Abweisung der Revision.

[13] Die Revision ist zulässig und berechtigt.

[14] 1. Voranzustellen ist, dass im Revisionsverfahren nur mehr strittig ist, ob der Bekl im Unfallszeitpunkt als Aufseher im Betrieb iSd § 333 Abs 4 ASVG ist. Nicht mehr strittig ist, dass der Anwendungsbereich des § 333 Abs 3 ASVG im vorliegenden Fall nicht eröffnet ist.

[15] 2. Nach stRsp ist für die Qualifikation des Aufsehers im Allgemeinen eine mit einem gewissen Pflichtenkreis und Selbständigkeit verbundene Stellung zur Zeit des Unfalls erforderlich. Er muss die Verantwortung für das Zusammenspiel persönlicher und technischer Kräfte tragen. Nicht entscheidend ist, ob die Aufsicht ganz unbeschränkt oder mit Unterordnung unter einem Vorgesetzten ausgeübt wird. Eine Dauerfunktion im Betrieb ist nicht erforderlich (RS0085519; RS0088337). Aufseher ist derjenige, der andere Betriebsangehörige oder wenigstens einen (auch kleinen) Teil des Betriebs oder einen Betriebsvorgang in eigener Verantwortung zu überwachen hat (RS0085510). Der Geschädigte muss also dem Aufseher im Betrieb wie einem Dienstvorgesetzten, dem Weisungsrechte zustehen, untergeordnet sein (RS0085661).

[16] 3.1 Ein Kraftwagenlenker ist nur dann Betriebsaufseher, wenn ihm eine Weisungsbefugnis zukommt, die über die Verantwortlichkeit hinausgeht, die jeder Kraftfahrer gegenüber seinem Mitfahrer hat (RS0085576). Er muss also jemand sein, der über die Durchführung von Betriebsvorgängen bestimmen kann; dass er mitfahrenden Personen in seiner Funktion als Kfz-Lenker Anweisungen über das Verhalten in Kraftfahrzeugen geben kann, ist dafür nicht schon ausreichend (RS0085418). Es kommt darauf an, ob dem betreffenden Lenker ein gewisser Pflichtenkreis und eine mit Selbständigkeit verbundene Stellung zukommt, ob er für das Zusammenspiel persönlicher und technischer Kräfte verantwortlich ist, oder ob er lediglich den Wagen zu bedienen und zu pflegen und die Beladung zu verantworten hat. Bei der Beförderung von Personen ist zu unterscheiden, ob der Lenker für deren Sicherheit nur nach den Vorschriften über den Straßenverkehr verantwortlich ist (§ 106 KFG, § 4 StVO) oder ob noch darüber hinausgehende Pflichten und Befugnisse bestehen (RS0085491).

[17] 3.2 Für die Aufseherqualifikation bei Beförderung anderer Betriebsangehöriger ist, worauf der Revisionswerber zutreffend hinweist, maßgeblich, dass die Beförderung des Arbeitskollegen nicht aus persönlicher Gefälligkeit, sondern im Interesse des Betriebs und im Rahmen der Abwicklung übertragener Aufgaben erfolgte (RS0085542 [T3]; RS0085583 [T2]). Ein solcher AN hat nämlich nicht nur für die persönliche Sicherheit der Mitfahrer zu sorgen, sondern darüber hinaus deren Transport nach den Interessen des Betriebs sachgemäß durchzuführen (RS0085542 [T4]; RS0085583 [T4]). Begründet wird die Bejahung der Aufsehereigenschaft in diesen Fällen überdies in der Regel damit, dass derjenige, der über einen entsprechenden Auftrag seines AG Betriebsangehörige an einen bestimmten Arbeitsplatz befördert, einen, wenn auch beschränkten Teilbereich von Vorgängen, die der Erreichung des Betriebszwecks dienen, also hinsichtlich der beförderten Betriebsangehörigen eine Aufgabe im Rahmen der betrieblichen Organisation zu erfüllen hat (4 Ob 51/84; 8 Ob 17/86; 2 Ob 7/90; RS0085583). Auf die Anzahl der beförderten Personen kommt es nicht an, weil ein Aufseher im Betrieb auch nur einen AN zu beaufsichtigen haben kann (4 Ob 86/62 = Arb 7592).

[18] 3.3 Kein Aufseher, sondern „gewöhnlicher“ Kfz-Lenker ist hingegen derjenige, der einen im selben Betrieb tätigen Kollegen im eigenen Kfz in den Betrieb oder zu einer anderen Arbeitsstelle mitnimmt, ohne dass ihm diese Beförderung vom AG aufgetragen worden wäre (RS0085280). So wurde etwa der Lenker eines Sanitätseinsatzwagens des Rettungs- und Krankentransportdienstes des Österreichischen Roten Kreuzes nicht als Aufseher im Betrieb qualifiziert, weil dessen Eigenverantwortlichkeit nur die Aufrechterhaltung der erforderlichen kraftfahrzeug- und sanitätstechnischen Ausrüstungen, der hygienischen Beschaffenheit des Einsatzfahrzeuges sowie die Lenkung des Fahrzeugs entsprechend den verkehrsrechtlichen Bestimmungen umfasste. Bei der Mithilfe beim Krankentransport unterlag der Lenker selbst den Weisungen des Transportführers, insb auch über die zu wählende Fahrtroute, das Ziel, die Geschwindigkeit und Art der Fahrt. Gegenüber dem mitfahrenden Sanitätspersonal hatte der Lenker des Fahrzeugs überhaupt kein Weisungsrecht (2 Ob 65/90).

[19] 4.1 Der Bekl beförderte die Kl, seine im gleichen Betrieb tätige Arbeitskollegin, im Unfallszeitpunkt über ausdrücklichen Auftrag des AG mit dem Skidoo zur Arbeitsstätte. Dies entsprach nach den Feststellungen auch dem üblichen vom AG organisierten Fahrtendienst für die Kl, die regelmäßig mit dem Skidoo zur Arbeitsstätte – in der Regel vom AG selbst – geführt wurde. Eine Abweichung davon bestand im Unfallszeitpunkt nur dahingehend, dass die Fahrt nicht von der Mittel-, sondern von der Talstation der D*-Seilbahn begann, weil die Seilbahn an diesem Tag nicht fuhr. Die Beförderung der Kl erfolgte nicht aus bloßer Gefälligkeit des Bekl, sondern lag im Interesse des Betriebs und erfolgte im Rahmen der Abwicklung einer dem Bekl übertragenen Aufgabe, sodass seine Aufsehereigenschaft im konkreten Fall zu bejahen ist. [20] 4.2 Die vom Berufungsgericht zitierte E 2 Ob 60/84 beruht auf einer älteren Rechtsprechungslinie, wonach der Umstand, dass die Fahrt auf einem Dienstauftrag beruht, für sich allein für die Aufsehereigenschaft des Lenkers nicht ausreicht (2 Ob 115/78; RS0085542 [T1]). Seit der E 4 Ob 51/84 stellt die oben dargestellte Rsp jedoch für die Beurteilung der Eigenschaft als Aufseher im Betrieb maßgeblich auf das Kriterium eines Dienstauftrags zur Beförderung – im Gegensatz zur Beförderung aus bloßer persönlicher Gefälligkeit – ab. Wer einen solchen Auftrag seines AG befolgt, hat – über die ihm bloß als Lenker zukommenden Aufgaben194 hinaus – in einem, wenn auch beschränkten, Teilbereich von Vorgängen, die der Erreichung des Betriebszwecks dienen, hinsichtlich der beförderten Betriebsangehörigen eine Aufgabe im Rahmen der betrieblichen Organisation zu erfüllen und ist damit „Aufseher im Betrieb“ (4 Ob 51/84; 14 ObA 43/87; 8 Ob 80/87 ua).

[21] 4.3 Daher wurde etwa die Aufsehereigenschaft des Lenkers eines Pistengeräts, der Arbeitskollegen über Anordnung des AG im Rahmen der betrieblichen Organisation zur Erreichung des Betriebszwecks beförderte, bejaht (4 Ob 167/85). Ein solcher Lenker hat nicht nur für die persönliche Sicherheit der Mitfahrenden zu sorgen, sondern darüber hinaus deren Transport nach den Interessen des Betriebs sachgemäß durchzuführen und gewissermaßen die Fürsorgepflicht des AG, die im Einzelfall über die Vorschriften betreffend den Straßenverkehr hinausreichen kann, gegenüber seinen Arbeitskollegen zu gewährleisten. Diese erweiterte Verantwortung hat ein entsprechendes, zeitlich und umfänglich naturgemäß sehr eingeschränktes Weisungsrecht des Lenkers während der Fahrt zur Folge (4 Ob 167/85 mwH).

[22] 4.4 Auch im vorliegenden Fall wurde die Kl regelmäßig im Rahmen eines vom AG organisierten Fahrdienstes mit dem Skidoo zur Arbeitsstätte gebracht, sodass sich der vorliegende Sachverhalt in diesem Punkt entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts nicht von den von ihm zitierten Entscheidungen 4 Ob 51/84 und 14 ObA 43/87 unterscheidet.

[23] Der Revision war daher Folge zu geben und das klageabweisende Urteil des Erstgerichts – hier auch einschließlich der Kostenentscheidung – wiederherzustellen (RS0040971).

ANMERKUNG

Die E betrifft die Eigenschaft als Aufseher im Betrieb iSv § 333 Abs 4 ASVG. Die E entspricht der stRsp des OGH, die den Begriff des Aufsehers sehr weit auslegt (vgl die umfassenden Darstellungen bei Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 333 ASVG Rz 49 ff; Neumayr/Huber in Schwimann/Kodek [Hrsg], ABGB5 § 333 ASVG Rz 69 ff, insb Rz 89 f). Lob oder Kritik zu üben, ist insofern schwierig, als der Zweck der Haftungsprivilegierung für Aufseher weitgehend im Dunkeln liegt. Im Folgenden sollen daher zunächst einige grundsätzliche Überlegungen zur Norm des § 333 Abs 4 ASVG und deren Entstehungsgeschichte angestellt werden. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse führen eher zu rechtspolitischer Kritik am Regelungskonzept des ASVG als zu rechtsdogmatischer Kritik an der Judikatur des OGH.

1.
Das Haftungsprivileg für Aufseher im Betrieb und sein Ursprung

Das DG-Haftungsprivileg gilt nach § 333 Abs 4 ASVG auch für „Aufseher im Betrieb“. Der Zweck dieser Haftungsbefreiung ist unklar (vgl Neumayr/Huber in Schwimann/Kodek [Hrsg], ABGB5 § 333 ASVG Rz 69). Generell wird das DG-Haftungsprivileg damit gerechtfertigt, dass der DG die Beiträge zur UV zahlt (vgl § 51 Abs 3 ASVG) und dafür von seiner schadenersatzrechtlichen Haftung befreit wird (Prinzip der Haftpflichtablöse oder „Finanzierungsargument“; vgl bereits ErläutRV 75 BlgAH 10. Sess 66; Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 333 ASVG Rz 2 mwN). Diese Begründung trägt allerdings für den Aufseher im Betrieb nicht. Dementsprechend sahen die österreichischen Unfallversicherungsgesetze ursprünglich auch nur eine haftungsrechtliche Privilegierung des DG – und im Fall seiner Geschäftsunfähigkeit seines gesetzlichen Vertreters – vor (§§ 46 f Arbeiterunfallversicherungsgesetz 1888; § 95 Arbeiterversicherungsgesetz 1927).

Die Figur des Aufsehers im Betrieb stammt aus dem deutschen Recht und hielt mit der Reichsversicherungsordnung (§ 899) Einzug in die österreichische Rechtsordnung (vgl OGH 8.11.1950, 2 Ob 197/50; vgl auch Windisch-Graetz, Dienstgeberhaftungsprivileg und Risikohaftung, in Windisch-Graetz [Hrsg], Haftungsrechtliche Probleme im Sozialrecht [2012] 63 [64 ff]). Das dt Haftpflichtgesetz 1871 sah vor, dass der DG für „zur Beaufsichtigung des Betriebes angenommene Personen“ und deren Verschulden in Ausführung des Dienstes haftet. Das Haftpflichtgesetz erweiterte also die zivilrechtliche Haftung des DG und sorgte für Arbeitsunfälle noch nicht im Wege einer Versicherung vor. Die Materialien zum Haftpflichtgesetz hielten ausdrücklich fest, dass der Begriff der zur Beaufsichtigung angenommenen Personen „im weitesten Sinne“ aufzufassen sei (Stenogr Berichte über die Verhandlungen des dt Reichstages, I. Session 1871, Bd 3, 72; vgl bereits dt Reichsgericht 10.12.1879, Eisenbahnrechtliche Entscheidungen deutscher Gerichte, Bd I, 44: „Jeden, welcher eine Aufsichtsfunction irgend welcher Art vorübergehend oder dauernd ausübt“). Diese Weichenstellung beeinflusst auch die österreichische Judikatur bis heute. Durch die angeordnete Haftung des DG wurden die Aufsichtspersonen weitgehend vor Schadenersatzansprüchen geschädigter DN bewahrt und waren jedenfalls faktisch auch kaum Regressansprüchen der DG ausgesetzt (dt Reichsgericht 4.6.1891, VI 73/91, RGZ Bd 27, 136). Im Entwurf für das dt Unfallversicherungsgesetz 1881 war in §§ 46 f zunächst nur ein Haftungsprivileg für den Betriebsunternehmer vorgesehen. Um die tatsächliche Lage der Betriebsaufseher durch das neue Gesetz nicht zu verschlechtern, wurde das Haftungsprivileg auch auf diese erstreckt (dt Reichsgericht 4.6.1891, VI 73/91, RGZ Bd 27, 136). Die Regelung wurde in der Folge weitgehend unverändert in § 135 dt Gewerbe-Unfallversicherungsgesetz 1900 übernommen. Das Haftungsprivileg für Aufseher lässt sich also zunächst aus der Entstehungsgeschichte der deutschen Unfallversicherungsgesetze erklären.

Hinzu kommt, dass in der deutschen Rechtsordnung – anders als in Österreich – das Haftungsprivileg von Beginn an nicht nur auf das Prinzip195 der Haftpflichtablöse wegen der Zahlung der Versicherungsbeiträge durch den DG gestützt wurde. Als weiterer Normzweck wurde ausdrücklich die Verhinderung von Streitigkeiten über Entschädigungen aus Arbeitsunfällen genannt (Stenogr Berichte über die Verhandlungen des dt Reichstags, 4. Sess 1881, Bd 3, 243). Bei dem „reichlichen Ersatz“, den die Arbeiter aus der gesetzlichen UV selbst bei von ihnen (mit)verschuldeten Unfällen erhielten, sei es gerechtfertigt, die nach bürgerlichem Recht bestehenden Schadenersatzansprüche weitgehend aufzuheben. Diesem Normzweck würde es entsprechen, das Haftungsprivileg auch auf gleichrangige Arbeitskollegen zu erstrecken. Eine entsprechende Erweiterung wurde aber nicht für notwendig gehalten, weil Zivilprozesse der Arbeiter untereinander „schon wegen der in den meisten Fällen schweren Realisierbarkeit der Entschädigungsansprüche“ nicht in großem Umfang erwartet wurden (Klien, Die Haftung der Betriebsunternehmer und Betriebsbeamten [1907] 29). Es bedarf wohl keiner näheren Erläuterung, dass die typischerweise schlechtere finanzielle Situation der DN kein sachlicher Grund für deren strengere Haftung sein kann. Das zeigt auch die weitere Rechtsentwicklung in Deutschland: Nach § 105 SGB VII sind auch gleichrangige Kollegen, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Arbeitsunfall von Versicherten desselben Betriebs verursachen, vom Haftungsprivileg erfasst.

Die Regelung zum Haftungsprivileg für Aufseher im Betrieb nach § 333 Abs 4 ASVG ist daher jedenfalls aus rechtspolitischer Sicht kritisch zu hinterfragen. Geht man – den Ursprüngen der österreichischen Sozialversicherungsgesetze entsprechend – davon aus, dass das Haftungsprivileg im Gegenzug für die Zahlung der Unfallversicherungsbeiträge gewährt wird, gibt es keinen Grund, auch Aufseher von ihrer zivilrechtlichen Haftung zu befreien. Geht man hingegen davon aus, dass das Haftungsprivileg (auch) der Vermeidung von Streitigkeiten und der Wahrung des Betriebsfriedens dient, sollte es auch für gleichrangige Arbeitskollegen gelten.

2.
Die Judikatur des OGH

Nach der Rsp des OGH ist Aufseher, wer im Unfallszeitpunkt eine Stellung mit einem gewissen Pflichtenkreis und gewisser Selbständigkeit innehat. Der Aufseher muss für ein Zusammenspiel persönlicher und technischer Kräfte verantwortlich sein und einen Teil des Betriebsablaufs oder auch nur einen einzelnen Betriebsvorgang überwachen. Der Geschädigte muss in der konkreten zum Unfall führenden Situation dem Aufseher gegenüber untergeordnet sein. Es ist allerdings nicht erforderlich, dass der Aufseher von seinem Weisungsrecht auch tatsächlich Gebrauch gemacht hat. Aufseher und Geschädigter müssen weiters in denselben Betrieb eingegliedert sein. Nicht erforderlich ist für die Qualifikation als Aufseher, dass die übergeordnete Stellung dauerhaften Charakter hat oder in der formellen Betriebshierarchie Niederschlag findet. Der Aufseher muss maW nicht Vorgesetzter des Geschädigten sein. Auch ein formell Vorgesetzter ist vielmehr nicht als Aufseher zu qualifizieren, wenn er im Unfallzeitpunkt nicht in seiner übergeordneten Funktion tätig war (vgl zu alldem die in Rz 15 der E zitierte Judikatur sowie die Nachweise bei Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 333 ASVG Rz 49 ff und Neumayr/Huber in Schwimann/Kodek [Hrsg], ABGB5 § 333 ASVG Rz 89 f). Da der OGH eine übergeordnete Stellung in Bezug auf einzelne Vorgänge im Unfallzeitpunkt ausreichen lässt, ist der Begriff des Aufsehers sehr weit. Im Detail ist die Rsp aber kasuistisch (vgl auch Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 333 ASVG Rz 53: „kaum abschätzbar“).

Dies gilt etwa für die Frage, ob der Lenker eines Fahrzeuges gegenüber den anderen Insassen Aufseher iSd § 333 ASVG ist. In der jüngeren Rsp hält der OGH fest, dass die Verantwortung, die jedem Lenker beim Betrieb eines Fahrzeuges gegenüber den mitfahrenden Personen zukommt, für die Aufsehereigenschaft nicht ausreicht (zB OGH 30.10.1984, 2 Ob 60/84; OGH 27.11.1984, 4 Ob 51/84; OGH 26.2.2004, 8 ObA 115/03z; RS0085491). Vor diesem Hintergrund hätte der OGH die Aufsehereigenschaft im vorliegenden Fall verneinen müssen. Eine über die „normale“ Verantwortung eines Fahrzeuglenkers hinausgehende Weisungsbefugnis kam dem Bekl im Unfallzeitpunkt nicht zu.

Der OGH stellt jedoch entscheidend darauf ab, dass der Bekl bei der Beförderung der Kl im Auftrag des DG tätig war (Rz 19 f der vorliegenden E). Diese Begründung scheint wenig überzeugend, weil sich das Argument nicht verallgemeinern lässt. Wenn Handeln auf Weisung des DG für die Aufsehereigenschaft ausreichen würde, wären auch zwei völlig gleichrangige Kollegen, die gemeinsam eine Arbeit ausführen, wechselseitig als Aufseher zu qualifizieren. Eine analoge Anwendung des Haftungsprivilegs auf gleichrangige Arbeitskollegen hat der OGH jedoch ausdrücklich abgelehnt (OGH 6.6.1978, 4 Ob 16/78 = DRdA 1979, 214 [krit Grillberger]; OGH 22.12.2004, 8 ObA 78/04k).

Die (sehr) großzügige Interpretation des Aufseherbegriffs durch den OGH entspricht dem oben erläuterten Normverständnis, das von der Vermeidung von Streitigkeiten und der Wahrung des Betriebsfriedens als Normzweck ausgeht. Die Rsp gerät damit aber unter starken gleichheitsrechtlichen Rechtfertigungsdruck, weil bei diesem Normverständnis kein sachlicher Grund für die Differenzierung zwischen Aufsehern und bloßen Kollegen ersichtlich ist (ähnlich Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 333 ASVG Rz 53). Bleibt der OGH bei seiner großzügigen Interpretation des Aufseherbegriffs, dann sollte er seine ablehnende Haltung zur analogen Anwendung des Haftungsprivilegs überdenken. So eindeutig, wie der OGH die Lage in 4 Ob 16/78 dargestellt hat, sind die gesetzlichen Wertungen jedenfalls nicht. Allerdings sprechen in Anbetracht der ausdrücklichen Regelung der Arbeitskollegenhaftung in § 332 Abs 5 ASVG auch gute Gründe196 dafür, eine analoge Anwendung von § 333 Abs 4 ASVG mangels planwidriger Lücke zu verneinen. Dann sollte der Aufseherbegriff als systemwidriges Relikt des deutschen Rechts aber entgegen der stRsp eng ausgelegt werden. Die derzeitige Judikatur – großzügige Auslegung des Aufseherbegriffs, aber keine Anwendung auf sonstige Arbeitskollegen – führt zu Wertungswidersprüchen.

Zu wünschen wäre freilich überhaupt eine gesetzliche Neuregelung der Haftungsfragen im Arbeitsverhältnis, die eine kohärente Regelung der Arbeitskollegenhaftung und der damit verbundenen Frage der Risikohaftung des AG umfasst.

3.
Ergebnis

Die vorliegende E entspricht der stRsp, die den Begriff des Aufsehers im Betrieb tendenziell großzügig auslegt. Die Begründung des OGH – Handeln im Auftrag des DG – scheint jedoch nicht völlig überzeugend. Aus rechtspolitischer Sicht ist die Differenzierung zwischen Aufsehern (§ 333 Abs 4 ASVG) und „normalen“ Arbeitskollegen (§ 332 Abs 5 ASVG) zu kritisieren. Solange keine gesetzliche Neuregelung erfolgt, sollte der Aufseherbegriff deshalb eher eng interpretiert werden.