Goldmann„Rote Banditen“ – Geschichte einer sozialdemokratischen Familie

Promedia Verlag, Wien 2023, 240 Seiten, broschiert, € 25,-
Mit einem Nachwort von Ferdinand Lacina

ERNSTBEZEMEK (WIEN)

Der in den 1970iger-Jahren vollzogene „Einbruch“ der Sozialwissenschaften in die traditionelle weitgehend auf Staatsaktionen reduzierte österreichische Geschichtsforschung ermöglichte die Konzeption einer „Gesellschaftsgeschichte“, die über Theorie- und Methodenprobleme besonders der Faschismus- und Arbeitergeschichtsforschung den „Alltag“ und die „Region“ als neue „Paradigmen“ entdeckte. Dieser Paradigmenwechsel äußerte sich speziell im expandierenden Forschungsbereich der „Geschichte der Arbeiterbewegung“.

Mit den Erinnerungen der langjährigen Mitarbeiterin der Arbeiterkammer, Spitzenmanagerin bei ÖIAG, Postbus, ÖBB (Personenverkehr AG), Universitätsrätin und Kuratoriumsvorsitzenden der Salzburger Festspiele Wilhelmine Goldmann, geboren 1948 im traditionell sozialdemokratischen Traisen, legt der Promedia-Verlag eine über das Private weit hinausgehende Geschichte über die Lebenswelt einer Familie vor dem Hintergrund des Aufstiegs und des Falls von fünf politischen Systemen (Monarchie, Erste Republik, Austrofaschismus/Kanzlerdiktatur, Nationalsozialismus und Zweite Republik) vor. Wilhelmine Goldmanns Vater Franz Lettner, Traisener Bürgermeister in der Zweiten Republik, in der Ersten Republik Obmann der der sozialdemokratischen Lokalorganisation sowie Mitbegründer der Ortsgruppe des Republikanischen Schutzbundes und Februarkämpfers 1934, war bereits 1911 der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) beigetreten, ein in Traisen – als Sechsjähriger war er mit seinen Eltern in den Industrieort im Traisental gekommen – für einen Angehörigen der Arbeiterklasse logischer Schritt, der letztlich die Abkehr von der Kirche seiner katholisch sozialisierten Vorfahren bedeutete. Kaum ein Bild kann das Verhältnis zwischen Kirche/Pfarre und Sozialdemokratie, den „Oberen“ (Besitzenden) und den „Unteren“ (Besitzlosen) besser veranschaulichen als die Notiz über die Predigt des Baumgartenberger Pfarrers, in der dieser 1920 den Kirchenaustritt des 21-jährigen Franz Lettners von der Kanzel herab anprangerte. Ein Kirchenaustritt, der damals in der Heimatpfarre zu erfolgen hatte, und noch dazu die Mitgliedschaft in der Sozialdemokratie, bedeuteten für die katholisch-christlichsozialen Milieus, in denen Pfarrer, Lehrer und Bürgermeister dominierten, einen Skandal, der mit Ausgrenzung verbunden war. Für Wilhelmine Goldmanns Mutter Minna, Prokuristin der Firma Neumann im benachbarten Marktl, Protestantin und ebenfalls überzeugte Sozialdemokratin, bedeuteten demgegenüber Religion und Politik keinen Widerspruch. Vater Franz Lettner, ein Agnostiker, zeigte religiöse Toleranz, als er gegen eine protestantische Erziehung seiner Töchter keine Einwände erhob.

Die sich verschlechternde wirtschaftlichen Lage korrespondierte auch mit der politischen. „Gewalt in der Politik“ wurde zum Alltag. In den späten 1920iger- Jahren begann der Mythos von der höheren Effektivität des autoritären Staates gegenüber der rechtsstaatlichen Demokratie auch in Niederösterreich Fuß zu fassen. Die Folgen dieser Entwicklung, die zur Ausschaltung des Parlaments und schließlich zur Kanzlerdiktatur führten, waren die im Traisental und im St. Pöltner Raum mit einer starken selbstbewussten Sozialdemokratie folgenden besonders spürbaren schweren Tumulte zwischen Schutzbund und Heimwehr. Im Wirkungsbereich Lettners kam es im Februar 1934 zu Einsätzen der Traisener Schutzbündler, deren Aufgabe es war, den aus Süden erwarteten Heimwehrverbänden den Weg nach St. Pölten abzusperren. Die bürgerkriegsartigen Kämpfe zwischen Regierungskräften und dem Republikanischen Schutzbund führten in Traisen zu keinem Blutvergießen. „Mißverständnisse in der obersten Führung“, also Versagen auch in der lokalen Führungsebene, waren für Franz Lettner verantwortlich, dass die Schutzbundeinheiten nicht nach St. Pölten vorrückten und ein Straßenkampf unterblieben war (S 95). Da Franz Lettner als „oberster Schutzbundführer“ in Traisen galt, wurde er verhaftet und auch verurteilt. Die Hinrichtung des steirischen Arbeiterführers Koloman Wallisch, der für die Sozialdemokratie „Symbol des 12. Februar“ war, bedeutete für die Familie Lettner ein traumatisches Ereignis, das eine erhebliche Langzeitwirkung entfaltete. Für Wilhelmine Goldmanns Mutter lösten Verhaftung und Verurteilung einen Schock aus, der in der Landesklinik Mauer-Öhling, einer später berüchtigten Euthanasieanstalt des NS-Regimes, erfolgreich therapiert und durch die spätere medizinische Versorgung durch eine sozialdemokratische Familie in St. Valentin geheilt werden konnte.

Kaum wieder in Freiheit, begann Franz Lettner 1935 im Untergrund für die „Revolutionären Sozialisten“ 326 zu arbeiten, mit dem Ziel, das austrofaschistische Regime zu destabilisieren, während viele ehemalige Genossen sich den Kommunisten, unter ihnen Lettners Freund, der „Spanienkämpfer“ Franz Bruckner, oder auch den illegalen Nationalsozialisten anschlossen, in der irrigen Annahme, „dass nur der braune den schwarzen Faschismus schlagen konnte“ (S 121).

Minna Lettner erlebte den „Umbruch“ in England, wohin sie zur völligen Wiederstellung ihrer Gesundheit in den ersten Märztagen 1938 gekommen war, und kehrte erst im Juli 1938 nach Österreich zurück, wohl nach der Zusicherung ihres Mannes, sich einer politischen Tätigkeit zu enthalten. Der Alltag im „totalen Staat“, die Angst um Familie und Arbeitsplatz und der Druck des NSDAP-Ortsgruppenleiters bewogen Franz Lettner zum Antrag zur Aufnahme in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP), vorerst als „Parteianwärter“. „Nun, ich habe mich durchgeschlagen. Unter Druck wurde ich Anwärter der NSDAP. Die Wiener Genossen waren der Meinung, ich hätte das nicht tun dürfen. Rosa Jochmann sagte, ich hätte es in Kauf nehmen sollen, auch in ein Konzentrationslager eingeliefert zu werden“, schreibt er in seinen Lebenserinnerungen (hier: S 133).

Nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes unter der aufgeheizten Stimmung des Besatzungsalltags in Traisen, wo mit Rückendeckung der Besatzungsmacht vorerst die Kommunisten dominierten, musste sich Franz Lettner dem bürokratischen Prozess der Entnazifizierung unterziehen. Bald nach der Rekonstruktion demokratischer Verhältnisse nahm er wieder die politische Arbeit auf. Die Sozialdemokratie war in Traisen wieder zur stärksten politischen Kraft geworden. 1961 wurde Franz Lettner Bürgermeister, eine Funktion, die er bis zu seinem 70. Geburtstag innehatte. Nach seinem Rückzug aus der Politik verfasste er seine Lebenserinnerungen, auf denen das ungewöhnlich substantielle Werk fußt, das mit einer konzisen Schilderung des erfolgreichen beruflichen Weges der Autorin schließt und doch insgesamt als eine eindringliche Mahnung vor dem Wiederaufbau faschistischer Machtstrukturen zu lesen ist.