HoheArbeitnehmerbegriffe im Recht der Europäischen Union – Ein Plädoyer für eine funktionale Begriffsbildung

Nomos Verlag, Baden-Baden 2022, 277 Seiten, broschiert, € 79,-

THOMASDULLINGER (WIEN)

Im Zentrum der vorliegenden Dissertation steht der methodische Umgang des EuGH mit dem ANBegriff. Das mag zwar nicht die relevanteste Facette der Problematik sein, der EuGH wird in diesem Bereich aber regelmäßig nicht nur für die erzielten Ergebnisse, sondern explizit für (behauptete) methodische Mängel kritisiert (S 23 ff). Eine wissenschaftliche Aufarbeitung erscheint daher vielversprechend.

Teil I der Untersuchung widmet sich zentralen Vorfragen. Thomas Hohe liefert eine umfassende Begründung für die Notwendigkeit eines funktionalen Begriffsverständnisses (S 30 ff) und legt dar, welchen Anforderungen die Begründung von Urteilen des EuGH genügen muss (S 48 ff). Es finden sich aber auch Ausführungen zur Auslegungsmethodik (S 55 ff).

Teil II der Monografie widmet sich der Frage, ob das nationale Recht oder das Unionsrecht dazu befugt ist, den AN-Begriff zu definieren. Anhand ausgewählter Beispiele wird anschaulich aufgezeigt, wie eine funktionale Begriffsbildung bei der einen Rechtsquelle zu einem unionsrechtlich autonomen Begriffsverständnis führt, bei einer anderen hingegen zur Delegation der Definitionsbefugnis an das mitgliedstaatliche Recht (S 94 ff). Dabei zeigt sich eine Parallelität zwischen dem Zweck der Harmonisierung und der autonomen Begriffsbildung (S 110).

Eine eigene Fallgruppe stellen jene Entscheidungen dar, in welchen der EuGH aufgrund eines Verweises auf nationales Recht zwar keinen autonomen AN-Begriff annimmt, gestützt auf funktionale Erwägungen den Gestaltungsspielraum des nationalen Gesetzgebers bei der Definition des AN-Begriffs aber dennoch beschränkt (S 111 ff). Hohe fasst diese Entscheidungen treffend zusammen: Qualifiziere das nationale Recht eines von zwei tatsächlich nicht wesentlich verschiedenen Rechtsverhältnissen als Arbeitsverhältnis, so sei auch das andere als Arbeitsverhältnis iSd RL zu qualifizieren (S 126). Besonderes Augenmerk legt der Autor dabei auf die Rs Ruhrlandklinik (17.11.2016, C-216/15), in welcher der EuGH zwar grundsätzlich funktional argumentiere, vor dem Hintergrund eines „eigentümlichen“ Sachverhalts aber zu einem falschen Ergebnis gelange (S 116 ff). Die von Hohe vorgeschlagene Alternative (S 125 ff) würde in vielen Fällen zwar zum selben Ergebnis gelangen, würde sich dabei jedoch besser in die bisherige Rsp des EuGH einfügen und wohl auch Wortlaut und Systematik der RL besser entsprechen.

Abschließend demonstriert der Autor anhand zweier Entscheidungen, deren Begründungstiefe er als unzureichend qualifiziert, dass eine konsequent funktionale Argumentation durchaus in der Lage gewesen wäre, das gefundene Ergebnis methodisch befriedigend zu begründen.

Teil III und IV widmen sich sodann dem unionsrechtlich autonomen AN-Begriff. Zunächst widmet sich der Autor den Rs Levin (23.3.1982, 53/81) und Lawrie-Blum (3.7.1986, 66/85), in welchen der EuGH im Kontext der AN-Freizügigkeit die Grundsteine eines unionsrechtlich autonomen AN-Begriffs gelegt hat.

Aufbauend auf der Rs Levin judiziert der EuGH vor allem in den Rs Bettray (31.5.1989, 344/87) und Fenoll (26.3.2015, C-316/13), dass eine völlig untergeordnete und unwesentliche Tätigkeit kein Arbeitsverhältnis begründen könne. Hohe legt überzeugend dar, dass dieses Ergebnis für die AN-Freizügigkeit passen mag, auf andere Kontexte aber nicht übertragbar ist. Er wendet sich folgerichtig gegen die Tendenz des EuGH, rechtsaktübergreifend einen einheitlichen AN-Begriff anzunehmen (S 167 f).

Die Rs Lawrie-Blum hingegen ist dafür bekannt, dass die Weisungsbindung des Beschäftigten als zentrales Merkmal des Arbeitsvertrags identifiziert wird. Hohe kritisiert den EuGH zunächst dafür, sich lediglich einer beobachtenden Begriffsbildung bedient zu haben, die eine angemessene Beurteilung von Grenzfällen 327 nicht zulasse (S 173 ff). Wenngleich man diese Ausführungen nicht in jedem Aspekt teilen muss, so ist Hohe jedenfalls zuzugestehen, dass die Rs Lawrie-Blum recht wenig darüber aussagt, was der EuGH unter der Weisungsbindung versteht.

An diesem Punkt setzt sodann Teil IV der Arbeit an, in welchem zentrale Entscheidungen des EuGH zur AN-Eigenschaft von Geschäftsführern behandelt werden. Der Autor zeichnet anschaulich nach, wie der EuGH die Voraussetzung der Weisungsbindung weiter präzisiert bzw weiterentwickelt hat. Methodisch seien die Entscheidungen an zahlreichen Punkten angreifbar und auch die Begründungstiefe sei regelmäßig nicht ausreichend. Der Hauptkritikpunkt scheint jedoch zu sein, dass der EuGH auch in diesem Punkt letztlich einen einheitlichen AN-Begriff verfolgt. Zutreffend ist, dass der EuGH selbst in mehreren Entscheidungen betont hat, dass es keinen einheitlichen unionsrechtlichen AN-Begriff gebe (S 185). Diese Erkenntnis geht jedoch auf die Rs Martinez Sala (12.5.1998, C-85/96) zurück und betrifft die Gegenüberstellung des AN-Begriffs der AN-Freizügigkeit mit jenem der sozialen Sicherheit. Für das Arbeitsrecht geht der EuGH hingegen von einem einheitlichen AN-Begriff aus – in der Rs May wird das sogar ausdrücklich festgehalten (Dullinger, ZAS 2018, 4 [5 f]).

Tatsächlich ist es problematisch, wenn der EuGH den zur AN-Freizügigkeit entwickelten AN-Begriff auf die diversen Richtlinien überträgt, die einen unionsrechtlich autonomen AN-Begriff enthalten. Vor allem die Voraussetzung der Entgeltlichkeit und der Ausschluss völlig untergeordneter und unwesentlicher Tätigkeit ist nicht geeignet, eine unselbständige von einer selbständigen Tätigkeit abzugrenzen. Bei der AN-Freizügigkeit haben diese Kriterien dennoch ihre Berechtigung: Sie grenzen wirtschaftliche Tätigkeiten, für welche die Grundfreiheiten gelten, von jenen Tätigkeiten ab, die nicht als Teil des Wirtschaftslebens qualifiziert werden können (Risak/Dullinger, DRdA 2018, 206 [211] mwN). Die dahingehende Kritik Hohes ist demnach durchaus berechtigt.

Problematisch ist hingegen die Forderung des Autors, auch das Kriterium der Weisungsbindung nicht zu verallgemeinern, sondern für jede RL durch funktionale Betrachtung einen eigenen AN-Begriff zu etablieren (zB 191 ff). Es gibt zwar durchaus Argumente, die das Abstellen auf die Weisungsbindung für die Zuerkennung des Schutzes des Arbeitsrechts in Frage stellen. Eine Vielzahl unterschiedlicher AN-Begriffe mit weitgehend unbekanntem Inhalt (vgl nur die – teils zirkulären – Ausführungen auf S 194 ff, 208 f, 219 f) wäre jedoch mindestens ebenso problematisch. Zweckmäßiger erscheint hier eine am Schutzzweck des Arbeitsrechts orientierte Weiterentwicklung des Kriteriums der Weisungsbindung, der sich der EuGH ohnehin nicht zu verschließen scheint. Grundsätzlich zuzustimmen ist Hohe jedoch, wenn er in zentralen Entscheidungen zum AN-Begriff methodische Mängel und fehlende Begründungstiefe ortet.

Die Struktur der vorliegenden Dissertation erschließt sich zwar erst auf den zweiten Blick, vermag dann aber zu überzeugen. Sprachlich und inhaltlich ist das Werk durchaus herausfordernd – im besten Sinne. Als Einstieg in die Thematik ist es eher nicht geeignet, für eine tiefgreifende Auseinandersetzung mit der Rsp zum AN-Begriff ist es unumgänglich.