Brameshuber/Brockmann/Marhold/Miranda Boto (Hrsg)Kollektive Arbeitsbeziehungen in der Gig Economy
Manz Verlag, Wien 2023, XX, 306 Seiten, broschiert, € 64,–
Brameshuber/Brockmann/Marhold/Miranda Boto (Hrsg)Kollektive Arbeitsbeziehungen in der Gig Economy
Das Europäische Parlament und der Rat verhandeln derzeit die bereits im Jahr 2021 vorgeschlagene Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen in der Plattformarbeit (COM[2021] 762 final). Kernstück des Richtlinienvorschlags, der innerhalb von zwei Jahren ab Inkrafttreten umgesetzt werden muss, ist die Einführung einer widerleglichen, gesetzlichen Vermutung. Gem Art 4 ist das Vertragsverhältnis zwischen einer digitalen Arbeitsplattform und einer Person, die Plattformarbeit für diese Plattform erbringt, als Arbeitsverhältnis zu qualifizieren, wenn die Plattform gegenüber dieser Person Kontrolle in einer bestimmten Art und Weise sowie Intensität ausübt. Art 4 Abs 2 sieht in diesem Zusammenhang vier Kontrollmerkmale vor, von denen zwei erfüllt sein müssen, damit die gesetzliche Vermutung, die in weiterer Folge in allen einschlägigen Verwaltungs- und Gerichtsverfahren gilt, greift. Der Unionsgesetzgeber geht damit einen neuen, bisher noch nie beschrittenen Weg. Das Ziel dieser gesetzlichen Vermutung ist, Rechtssicherheit über den Status von Plattformarbeiter:innen zu schaffen (siehe die Begründung des Richtlinienvorschlags, COM[2021] 762 final).
Dass dies ein berechtigtes, wenn nicht sogar notwendiges Anliegen ist, zeigt der vorliegende Sammelband „Kollektive Arbeitsbeziehungen in der Gig Economy“, der das Ergebnis eines Forschungsprojektes unter österreichischer Beteiligung in Person der Co-Herausgeberin Elisabeth Brameshuber ist, eindrucksvoll. Denn nahezu alle darin enthaltenen Beiträge kreisen um das Problem der Statusfrage von Plattformarbeiter:innen; dh um die Frage, ob es sich dabei um AN oder Selbständige oder gar um eine Zwischenkategorie handelt. Davon hängt nämlich nach den Rechtsordnungen der meisten Mitgliedstaaten auch die Antwort auf die Frage ab, ob der KollV ein rechtlich zulässiges Instrument ist, um die Arbeitsbedingungen von Plattformarbeiter:innen zu regeln. Damit ist auch das eigentliche Thema des Sammelbandes und letztlich die Forschungsfrage des Projekts namens COGENS identifiziert.
Die Prämisse, die letztlich allen Beiträgen zu Grunde liegt, ist, dass der KollV nicht nur ein sehr geeignetes, sondern sogar das bestgeeignete Rechtsinstrument wäre, um die Arbeitsbedingungen von Plattformarbeiter:innen zu regulieren. Gyulavari/Katyas führen dafür in ihrem Beitrag (Tarifverhandlungen als Muss für Plattformarbeiter und der Weg dorthin) ein Bündel an Argumenten an (S 120 ff). Eines davon ist, dass Kollektivverträge seit jeher die Funktion haben, erste Antworten für neue Phänomene zu finden. Dh, ihnen kommt traditionell eine gewisse Vorreiterrolle zu, „sie sind uU Vorbild für spätere Gesetzesinitiativen“. Für Österreich stimmt das, wenn man sich die Genese des AZG und UrlG vor Augen führt, allemal (vgl dazu Felten/Mosler, DRdA 2020, 99). Deshalb ist es auch sehr zu begrüßen, dass der OGH seine restriktive Haltung zum Regelungspouvoir der Kollektivvertragsparteien aufgegeben hat und nunmehr die Ansicht vertritt, dass Inhalt eines KollV 328 gem § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG auch atypische Regelungen sein können (OGH9 ObA 153/16iDRdA 2018, 152 [Felten] = wbl 2017, 205 [Grillberger] = ZAS 2018, 191 [Kietaibl]). Andernfalls nimmt man nämlich den Sozialpartnern ihre Innovationskraft, was nicht nur sozialpolitisch, sondern vor allem auch in Anbetracht der Grundrechtsgarantien des Art 11 EMRK und des Art 28 GRC rechtlich problematisch wäre. Ein zweites zentrales Argument ist, dass mit Hilfe des KollV flexibel auf neue (technische) Entwicklungen reagiert werden kann; ein Vorteil, der gerade im dynamischen Feld der Plattformarbeit tatsächlich nicht unterschätzt werden darf.
Diese Innovationskraft kann der KollV freilich nur dann ausspielen, wenn er seinen Geltungsbereich auch auf Plattformarbeiter:innen beziehen darf. Einige Sozialpartner haben dieses Recht bereits für sich in Anspruch genommen, wie die Beiträge von Miranda Boto (Kollektive Arbeitsbeziehungen in der Gig Economy: Bestandsaufnahme und mögliche Regelungsszenarien) und Brameshuber ([Ein Grundrecht auf] Tarifverhandlungen für wirtschaftlich abhängige Arbeitnehmerähnliche) verdeutlichen. Dabei scheint es innerhalb Europas unterschiedliche Problemzugänge zu geben. Neben der Praxis, lediglich den Geltungsbereich bestehender – ursprünglich für traditionelle Branchen konzipierter – Kollektivverträge auch auf Plattformarbeiter:innen zu erweitern, gibt es ebenso den Fall, dass spezifische Kollektivverträge nur für die Gruppe der Plattformarbeiter:innen ausverhandelt werden. Letzterer Gruppe gehört zB der österreichische KollV für Fahrradboten an. Bei beiden Varianten wird dann noch zwischen Kollektivverträgen differenziert, die nur für Plattformarbeiter:innen gelten, die AN-Status aufweisen, und solchen, die dezidiert auch auf selbständige Plattformarbeiter:innen Anwendung finden. Diese Unterscheidung gibt es deshalb, weil Plattformarbeiter:innen von vielen Plattformen als Selbständige eingestuft werden und das Recht vieler Mitgliedstaaten Selbständige wiederum vom Anwendungsbereich des Arbeitsrechts und damit auch des Kollektivvertragsrechts ausnimmt.
Das ist auch der Grund, weshalb in mehreren Mitgliedstaaten der Union bereits Verfahren zur Klärung des Status von Plattformarbeiter:innen geführt wurden. Der Beitrag von Adams-Prassl/Laulom/Maneiro Vasquez (Die Bedeutung nationaler Gerichte für den Schutz von Plattformarbeitern) setzt sich mit einzelnen Fallbeispielen vor dem Hintergrund der jeweiligen Rechtsordnung (Frankreich/Spanien/UK) auseinander und zeigt auf, dass die Gerichte trotz aller Unterschiede dennoch zum einen dazu tendieren, den AN-Status im Zweifel zu bejahen und zum anderen zu diesem Zweck durchaus innovative Begründungen wählen, die auf die Besonderheiten der Plattformarbeit Bezug nehmen und (neue) Elemente der persönlichen Abhängigkeit daraus ableiten.
Das setzt freilich die Bereitschaft von Plattformarbeiter:innen voraus, ihren Status rechtlich überprüfen zu lassen. In der Praxis ist das bisher eher die Ausnahme. Die Gründe dafür sind vielfältig. Gewerkschaften haben daher in der Vergangenheit einen alternativen Ansatz gewählt, um die Arbeitsbedingungen von Plattformarbeiter:innen zu verbessern. Sie versuchen, Plattformen – unabhängig vom rechtlichen Status ihrer Plattformarbeiter:innen – dazu zu bringen, sich selbst zu verpflichten, bestimmte Mindeststandards zu garantieren. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte „Frankfurter Erklärung“, an deren Entwicklung und Abschluss auch österreichische Akteure beteiligt waren (S 143). Mit dem Inhalt und der Wirkung dieses bloßen „soft law“ hat sich Brockmann auseinandergesetzt (Freiwillige Selbstverpflichtung als alternative Instrumente zur Standardsetzung? Das Beispiel des deutschen „Code of Conduct – Grundsätze für bezahltes Crowdsourcing“).
Der Beitrag von Brameshuber macht allerdings deutlich, dass Kollektivverträge (auch) für selbständige Plattformarbeiter:innen keine bloße Zukunftsmusik sind. Sie existieren bereits jetzt. Es gibt eine gar nicht so kleine Anzahl an Arbeitsrechtsordnungen, die explizit Kollektivvertragsverhandlungen auch mit Selbständigen oder zumindest bestimmten Kategorien von Selbständigen zulässt. Auch Österreich zählt mit dem Gesamtvertrag für Journalist:innen und dem Heimarbeitsvertrag zu dieser Gruppe (S 287). Dort, wo es solche Kollektivverträge gibt, stellt sich jedoch die Frage, ob das unionsrechtlich überhaupt zulässig ist. Denn Kollektivverträge, die Mindestentgelte vorschreiben, sind im Ergebnis nichts anderes als die Bildung eines Preiskartells. Dem steht auf Unionsebene Art 101 AEUV entgegen. Brameshuber setzt sich daher in ihrem Beitrag mit der wichtigen Frage auseinander, ob auch Kollektivverträge mit selbständigen Plattformarbeiter:innen vom Kartellverbot des Art 101 AEUV ausgenommen werden können. Die Europäische Kommission hat das im Übrigen explizit empfohlen (ABl C 2022/374, 2).
Selbst, wenn aus rechtlicher Sicht nichts gegen Kollektivverträge für Selbständige sprechen mag, so scheitert ihr Zustandekommen in der Praxis oftmals an faktischen Hürden. Denn der Abschluss eines KollV setzt voraus, dass sich Plattformarbeiter:innen zusammenschließen und ihre Interessen bündeln. Genau das erweist sich als schwierig. Plattformarbeiter:innen sind – insb dann, wenn sie ausschließlich online tätig sind – zumeist Einzelkämpfer:innen, die kaum oder gar keinen Kontakt mit anderen Plattformarbeiter:innen haben. Für Gewerkschaften stellt sich daher die Frage, wie man diese Gruppe erreicht und dazu bringt, sich zu solidarisieren. Rosioru beschäftigt sich daher in ihrem Beitrag mit neuen gewerkschaftlichen Strategien, die vor allem darin bestehen, digitale Tools zu nutzen und damit quasi die Plattformen mit ihren eigenen Mitteln zu schlagen (Die „intelligente“ Gewerkschaft: neue Strategien für einen digitalen Arbeitsmarkt). Ob das allerdings ein adäquater Ersatz für klassische Gewerkschaftsarbeit darstellt, wird sich erst weisen müssen.
Der vorliegende Sammelband stellt eine umfangreiche Aufarbeitung sowohl des Phänomens als auch der rechtlichen Grundlage kollektiver Arbeitsbeziehungen in der Plattformarbeit dar. Dabei wird sowohl das Unionsrecht als auch das nationale Recht in den Blick genommen. Besonders positiv hervorzuheben ist, dass sich die Auseinandersetzung mit dem jeweiligen nationalen Recht nicht auf bloße, primär deskriptive Länderberichte beschränkt. Vielmehr sind alle Autor:innen bestrebt, Strukturmerkmale herauszuarbeiten, die wesentlich für die rechtliche Erfassung von 329 Plattformarbeit sind. Gleichzeitig zeigen die Beiträge aber, dass es letztlich doch eine zentrale Kernfrage gibt, die es zu lösen gilt; nämlich, wie man damit umgeht, dass das Arbeitsrecht ein Sonderprivatrecht für abhängig Beschäftigte ist, die digitale Durchdringung der Arbeit aber zunehmend dazu führt, dass „klassische“ Abhängigkeitsverhältnisse aufgebrochen, in der Praxis aber zumeist durch andere ersetzt werden. Die Idee der neuen Richtlinie für Plattformarbeit, mit einer widerleglichen Vermutung der AN-Eigenschaft zu arbeiten, erscheint vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der Erkenntnisse, die der vorliegende Sammelband „Kollektive Arbeitsbeziehungen in der Gig Economy“ liefert, vielversprechend!