ScheskeDer Begünstigungsgedanke im kollektiven Arbeitsrecht – Die Begünstigung des Betriebsrats und seiner Mitglieder, von Gewerkschaften sowie deren Angestellten und Beauftragten

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2023, 354 Seiten, kartoniert, € 109,90

HANNESSCHNELLER (WIEN)

Aus Deutschland erreichen uns immer wieder aufregende Veröffentlichungen rund um längst vergangene „Lustreisen“ eines Gesamtbetriebsratsvorsitzenden. Aber auch zu angeblich bestochenen, gekauften oder „angefütterten“ Gewerkschaftern (im besprochenen Werk auf den S 24 ff und insb in den diesbezüglichen FN 25 und 35-39 expliziert). Selbst wenn, wie in den soeben erwähnten Fußnoten zugestanden wird, die vielbeachtete Verurteilung des ex-VW-Betriebsratsvorsitzenden (BGH-Strafurteil 2009) getilgt sein dürfte, nimmt es angesichts der (wenigen) frivolen Anlassfälle – zuletzt: Freispruch eines Polizeigewerkschafters (S 27 f) – nicht Wunder, dass sich diese teilweise bestätigten, teilweise angeblichen Affären seit etwa 20 Jahren in Publikationen zunehmender Zahl niederschlagen: Unter den rund 300 Quellenzitaten des vorliegenden Literaturverzeichnisses finden sich zumindest 50 % mit dem Titel- Schlagwort „Betriebsratsbegünstigung“ oder ähnlich, und stammen aus der Zeit seit der VW-Affäre (2005 ff). So auch hier in einer von der Universität Bonn approbierten Dissertation, die Anfang 2023 in Form des vorliegenden Werks erschien.

Das auf das Betriebsverfassungsrecht, Schadenersatzrecht sowie Straf- und Steuerrecht eingehende Fachbuch gliedert sich in zwei Teile:

1. Rechtswidrige Begünstigung von Betriebsratsmitgliedern,

2. unzulässige Vorteilsgewährungen an und Begünstigungen von Gewerkschaften, deren Angestellten und Beauftragten.

Während das Thema Betriebsrats(mitglieder)begünstigung und damit das in Deutschland (§ 37 BetrVG) wie in Österreich (§§ 116 f ArbVG) aus dem Ehrenamtsprinzip resultierende bloße Entgeltfortzahlungsgebot schon vielfach bearbeitet wurde (vgl etwa das umfangreiche Literaturverzeichnis des in DRdA 5/2021 rezensierten Buchs „Die Vergütung von Betriebsratsmitgliedern“ von Klagges/Schrader), ist das Thema Gewerkschaftsbegünstigung weit weniger aufgearbeitet. Es stellt sich, wie die Autorin auf den S 202 ff konzise nachweist, deutlich komplexer dar. Und es ist, wie die Autorin einräumt, so gut wie nie gerichtsaktenkundig; eine akademische Problemstellung also.

Zu beachten sei – wenn die Grenze zwischen Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit ausgelotet werden soll –, dass das tarifpolitische Verhandlungsfeld von Druck und Gegendruck reguliert werde, ohne dass im Verhältnis Gewerkschaft-Unternehmer(verband) ein mit dem BetrVG vergleichbares, formalistisches Konfliktlösungssystem bestehe. Es bestehen, wie auf den S 175 bis 200 mit zahlreichen Belegen des organisationssoziologischen Schrifttums strukturiert aufgezeigt wird, fundamentale strukturelle Unterschiede zwischen den Systemen BR-Gegenspieler und Gewerkschaft-Gegenspieler. Das freie Ausgleichssystem zwischen Gewerkschaften und AG-Verbänden setze zwangsläufig voraus, dass die widerstreitenden Interessen gegeneinander abgewogen und Kompromisse gefunden werden, weshalb von beiden Seiten an bestimmten Stellen ein Entgegenkommen vorausgesetzt werden müsse, um eine Konfliktlösung zu ermöglichen. Derartige Formen von „Entgegenkommen“ können per se noch nicht als Begünstigung aufgefasst werden: „... Konfliktlösung zwischen Tarifparteien ist nur möglich, wenn jede Seite gewisse Zugeständnisse der anderen Seite gegenüber macht. ‚Begünstigungen‘ in Form von Vorteilsgewährungen sind im tarifpolitischen System daher an der Tagesordnung, da das selbstregulatorische Ausgleichssystem nur auf dieser Basis funktionsfähig ist.

Annika Scheske lotet die Grenze zur „Illegitimität“ von „Begünstigungen“ vor allem anhand von drei sich aufdrängenden Straftatbeständen aus, nämlich Korruption/Bestechlichkeit, Amtsmissbrauch (was uU bei Gewerkschafte[r]n des öffentlichen Dienstes denkbar wäre) und Untreue. Daneben werden auch noch die Delikte Erpressung und Nötigung vor dem Hintergrund tarifpolitischer Aushandlungsmechanismen in Prüfung 331 gezogen. Nach dem üblichen Verlauf vor- und nachvertraglicher Kontakte zwischen Vertretern der Tarifparteien könne aber regelmäßig keine Strafbarkeit festgestellt werden, konstatiert die Autorin (S 209-260).

Der Blick über die Staats- und Systemgrenzen zeigt, dass in einem „liberalen“ und tarif-pluralistischen System wie dem deutschen die Gefahr der „Gewerkschaftsbegünstigung durch TV-Abschluss (mit einer von mehreren Gewerkschaften)“ oder „Verdrängungswettbewerb aufgrund des TarifeinheitsG“ (S 237–244) Themen sind, die in anderen sozialpartnerschaftlichen Systemen vermieden werden können: Wenn primär sozial wirkmächtige sowie breit repräsentative Verbände auf AN-Seite, und AG-Pflichtverbände auf der anderen Seite, für die Schaffung eines einzigen Branchen- Tarifvertrags zuständig sind, kann selbst der Verdacht einer „Begünstigung“ kaum aufkommen.

Der Abführungspflicht für einen Teil der Aufsichtsratsvergütungen von AN-Vertreter:innen ist ein weiteres Kapitel der BR- und/oder Gewerkschaftsbegünstigung gewidmet. Diese vor allem in den Satzungen des DGB, der IG-Metall und von ver.di verankerte Pflicht wurden zumindest in drei zweitinstanzlichen Entscheidungen sowie einer BAG-E aus 2015 für rechtmäßig erachtet. Wenn nun eine mitbestimmte GmbH oder Aktiengesellschaft im Wissen um die Zuführung von bspw 50 % der Tantiemen an die Hans-Böckler-Stiftung des DGB dennoch die volle Vergütung auszahle, sei das keine Gewerkschaftsbegünstigung, so die ständige Judikatur.

Die eingangs erwähnten, spektakulären Anlassfälle sorgten und sorgen wie gesagt für eine wahre Publikationsflut. Sie verstellen und verfälschen den Blick auf den „Normalfall“, auf die absolut überwiegende Mehrheit an rechtstreuen, hilfsbereiten und solidarisch handelnden Betriebsratsmitgliedern (und die sie unterstützenden Gewerkschaftsmitarbeitenden). Indem Scheske auf mehr als 300 Seiten die theoretischen Möglichkeiten mangelnder Gegnerunabhängigkeit sorgfältig einer „Begünstigungs“-Prüfung unterzieht und ihr Urteil meist negativ ausfällt, bestätigt sie diese Tatsache. 332