21Keine Urlaubsverjährung bei Verletzung der Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten des Arbeitgebers
Keine Urlaubsverjährung bei Verletzung der Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten des Arbeitgebers
Aufgrund der EuGH-Entscheidung C-120/21 (LB/TO) steht nunmehr fest, dass der unionsrechtlich gesicherte (vierwöchige) Urlaubsanspruch nicht verjähren kann, wenn der AG seiner Aufforderungsund Hinweispflicht gegenüber dem AN (dh den AN dazu aufzufordern, seinen offenen Urlaub zu verbrauchen und ihn auf die drohende Verjährung hinzuweisen, um so dafür zu sorgen, dass der AN seinen Jahresurlaub tatsächlich in Anspruch nimmt) nicht nachgekommen ist. Es handelt sich um eine eigene, von den konkreten Möglichkeiten einer effizienten Rechtsdurchsetzung unabhängige Verhaltenspflicht des AG.
[1] Der Kl war seit 2003 bei der Erstbekl als Wildhüter und später auch als Gutsverwalter angestellt und an sieben Tagen in der Woche für die Erstbekl tätig. Im Fall seiner Abwesenheit wurden Aushilfskräfte eingesetzt, denen aber das Wissen und die Erfahrung fehlten, um die Aufgaben des Kl vollständig zu übernehmen. [...] Aufgrund des Kündigungsschreibens der Bekl vom 10.8.2020 endete das Dienstverhältnis zum 31.12.2020.
[2] Während seines Dienstverhältnisses verbrauchte der Kl 121 Urlaubstage [...]. Der Kl wurde von den Bekl nicht dazu aufgefordert, seinen Urlaub zu verbrauchen, und auch nicht auf die drohende Verjährung hingewiesen. Wenn der Kl Urlaub beanspruchte, wurde ihm dieser Urlaub auch gewährt. Die Arbeiten des Kl im Rahmen der umfangreichen Zucht (Fasane), Haltung und Jagd von Niederwild erfolgte unter ständigem starken Druck als einziger Angestellter, der über die notwendige Ausbildung und Erfahrung verfügte. Die Erstbekl leistete dem Kl eine Urlaubsersatzleistung von 9.131,53 €, die ihm allerdings erst am 22.9.2021 zur Gänze ausbezahlt wurde.
[3] Der Kl begehrt von den Bekl Verzugszinsen aus der bereits erhaltenen Urlaubsersatzleistung, eine darüber hinausgehende Urlaubsersatzleistung von 34.369,57 € netto sA [...]. Bei Beendigung des Dienstverhältnisses habe der Kl einen offenen Urlaubsanspruch von 322,75 Tagen gehabt. [...]
[5] Das Erstgericht gab [...] dem gegen die Erstbekl gerichteten Zinsbegehren aus der bereits erhaltenen Urlaubsersatzleistung statt und wies das darüber hinausgehende Zahlungsbegehren ab. [...]
[6] Das Berufungsgericht änderte diese Entscheidung dahin ab, dass es die Erstbekl auch zur Zahlung einer ergänzenden Urlaubsentschädigung von 24.260,89 € netto sA verpflichtete, das darüber hinausgehende Zahlungsbegehren aber abwies. [...]
Da Art 7 Abs 2 der RL 2003/88/EG lediglich einen Jahresurlaub von vier Wochen vorsehe, sei der darüber hinausgehende Urlaubsanspruch des Kl verjährt. Der Kl habe deshalb aus seiner Tätigkeit von 1.4.2003 bis 31.3.2018 Anspruch auf Entschädigung für 180 nicht verbrauchte Urlaubstage. [...]
[7] Dagegen richtet sich die Revision der Bekl, mit der sie beantragen, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass die Klage zur Gänze abgewiesen werde; in eventu wird ein Aufhebungsantrag gestellt. [...]
[9] Die Revision der Erstbekl ist [...] zulässig; sie ist aber nicht berechtigt. [...]
[10] 1. Nach Art 31 Abs 2 GRC hat jeder AN das Recht auf bezahlten Jahresurlaub. Nach Art 7 Abs 1 der RL 2003/88/EG gebührt dem AN ein bezahlter Mindestjahresurlaub von vier Wochen. Das österreichische Arbeitsrecht geht über die unionsrechtlichen Vorgaben hinaus, indem es nach § 2 Abs 1 UrlG einen jährlichen Urlaubsanspruch von zumindest 30 Werktagen vorsieht. Nach § 4 Abs 5 UrlG verjährt dieser Urlaubsanspruch nach Ablauf von zwei Jahren ab dem Ende des Urlaubsjahres, in dem er entstanden ist. Die Übertragung von nicht konsumierten Urlaubsansprüchen auf die folgenden Urlaubsjahre ist nur so lange möglich, wie sie nicht verjährt sind (RIS-Justiz RS0077520 [T2]). Für den tatsächlichen Verbrauch des Naturalurlaubs 291 stehen damit insgesamt drei Jahre zur Verfügung (RS0077515). Bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses gebührt dem AN nach § 10 Abs 3 UrlG für den nicht verbrauchten Urlaub aus vorangegangenen Urlaubsjahren eine Ersatzleistung in der Höhe des noch ausständigen Urlaubsentgelts, soweit der Urlaubsanspruch noch nicht verjährt ist.
[11] 2. Im Jahr 2018 sprach der EuGH zu C-684/16, Max-Planck-Gesellschaft, und C-619/16, Kreuziger, aus, dass Art 31 Abs 2 GRC und Art 7 der RL 2003/88/ EG einer Verjährung des Urlaubsanspruchs entgegenstehen, wenn diese ohne Prüfung erfolgt, ob der AN zB durch angemessene Aufklärung tatsächlich die Möglichkeit hatte, den Urlaub in Anspruch zu nehmen. Der EuGH hat dies damit begründet, dass der AN als die schwächere Partei des Arbeitsvertrags anzusehen ist. Es müsse verhindert werden, dass der AN seine Rechte nicht einfordert, weil sich dies nachteilig auf das Arbeitsverhältnis auswirken könnte. Die Aufgabe, für die tatsächliche Wahrnehmung des Jahresurlaubs zu sorgen, darf deshalb nicht vollständig auf den AN verlagert werden. Vielmehr hat der AG dafür zu sorgen, dass der AN tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, indem er ihn – erforderlichenfalls förmlich – auffordert, dies zu tun, und ihm klar und rechtzeitig mitteilt, dass der Urlaub, wenn er ihn nicht in Anspruch nimmt, am Ende des zulässigen Übertragungszeitraums verfallen wird.
[12] 3. Diese Entscheidungen des EuGH betrafen deutsche Rechtsvorschriften, nach welchen der Urlaub innerhalb eines Jahres konsumiert werden musste bzw eine Urlaubsersatzleistung ausgeschlossen war. Der OGH ging deshalb vorerst noch von der Unionsrechtskonformität der dreijährigen Verjährung nach § 4 Abs 5 UrlG aus, weil dem AN bis dahin eine angemessene Frist zur Durchsetzung seines Urlaubsanspruchs zur Verfügung stehe (8 ObA 62/18b; 8 ObS 1/20k; 8 ObS 2/20g; ebenso Rauch, Aufklärungspflichten des Arbeitgebers, ASoK 2019, 105 [108 f]). In der Lehre wurde demgegenüber die Auffassung vertreten, dass – auch wenn die Entscheidungen des EuGH aus dogmatischen Gründen zu kritisieren und die Mitteilungsund Aufforderungspflichten dem österreichischen Recht fremd seien – eine Verjährung nach § 4 Abs 5 UrlG nur möglich sei, wenn der AG den AN zur Inanspruchnahme des Urlaubs aufgefordert und ihn auf die drohende Verjährung hingewiesen hat (Drs, Urlaubsverjährung bei Scheinselbständigkeit, JAS 2020, 225 [240 f]; Auer-Mayer, Ausgewählte Rechtsprobleme rund um Urlaub und Feiertage, ZAS 2020/22, 131 f; Friedrich, Verjährung und Verfall des Urlaubsanspruchs im europäischen Kontext, ASoK 2021, 137 [144 f]; Niksova, Das Urlaubsrecht im europäischen Wandel, wbl 2022, 481 [486]; Kietaibl, Anm zu 9 ObA 88/20m, JAS 2022, 42 [47 ff]). In einer späteren E anerkannte auch der OGH eine „Urlaubssorgepflicht“ des AG (9 ObA 88/20m).
[13] 4. Nunmehr hat der EuGH zu C-120/21, LB gegen TO, in einem vom deutschen Bundesarbeitsgericht eingeleiteten Vorabentscheidungsverfahren ausgesprochen, dass Art 7 Abs 1 der RL 2003/88/ EG auch einer nationalen Regelung entgegensteht, nach welcher der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nach Ablauf einer Frist von drei Jahren verjährt, deren Lauf mit dem Schluss des Jahres beginnt, in dem dieser Anspruch entstanden ist, wenn der AG den AN nicht tatsächlich in die Lage versetzt hat, diesen Anspruch wahrzunehmen. Der AG könnte sich sonst seinen Aufforderungs- und Hinweisobliegenheiten gegenüber dem AN entziehen und wäre durch den Urlaubsverfall auch bereichert. Aufgrund dieser E des EuGH steht nunmehr fest, dass der unionsrechtlich gesicherte Urlaubsanspruch nicht verjähren kann, wenn der AG seiner Aufforderungs- und Hinweispflicht gegenüber dem AN nicht nachgekommen ist. Die früheren EuGH-Entscheidungen in den Rs King, Kreuziger und Max Planck konnten noch iSd Aufgabenteilung bei der Umsetzung von Richtlinienansprüchen und der allgemeinen Vorgaben des EuGH zum Verjährungsrecht verstanden werden. Danach dürfen die Verjährungsfristen für unionsrechtlich begründete Ansprüche nicht kürzer sein als für sonstige nationale Rechtsansprüche und dürfen die Verjährungsfristen auch nicht einer effektiven Geltendmachung entgegenstehen (EuGHC-246/09, Bulicke; C-773/18 ua, TK ua; C-501/12 bis 506/12, 540/12 und 541/12, Specht ua; C-429/12, Pohl uva). Mit der neuesten E ist aber klargestellt, dass der EuGH eine eigene von den konkreten Möglichkeiten einer effizienten Rechtsdurchsetzung unabhängige Verhaltenspflicht des AG rückwirkend festlegt (vgl allerdings zu den hier nicht relevierten unionsrechtlichen Vorgaben unter dem Aspekt des Vertrauensschutzes zuletzt etwa EuGHC-484/20, Vodafone, Rz 29 ff).
[14] 5. Soweit sich die Erstbekl darauf beruft, dass der Kl tatsächlich die Möglichkeit gehabt habe, seinen Urlaub zu konsumieren, ist ihr entgegenzuhalten, dass nach der Rsp des EuGH schon ein Verhalten des AG, das den AN davon abhalten kann, den Jahresurlaub zu konsumieren, gegen das mit dem Recht auf Jahresurlaub verfolgte Ziel verstößt (C-214/16, King). Dass dem Kl Urlaub gewährt worden wäre, wenn er ihn gegenüber der Erstbekl beansprucht hätte, führt deshalb noch nicht zur Verjährung des nicht verbrauchten Urlaubsanspruchs.
[15] 6. Die Erstbekl hat den Kl weder dazu aufgefordert, seinen Urlaub zu verbrauchen, noch ihn auf die drohende Verjährung hingewiesen und damit gegen ihre vom EuGH nunmehr festgelegte Verpflichtung verstoßen, dafür zu sorgen, dass der Kl seinen Jahresurlaub tatsächlich in Anspruch nimmt, was einer Verjährung des Urlaubsanspruchs nach Art 7 Abs 1 der RL 2003/88/EG entgegensteht. Inwieweit die Verletzung der vom EuGH festgelegten Aufforderungs- und Hinweis“obliegenheit“ im Rahmen der österreichischen Rechtsdurchsetzung nicht unter dem Aspekt des Schadenersatzrechts geprüft werden könnte, bedarf mangels dahingehenden Einwänden keiner weiteren Erörterung. [...]
Es ist erfreulich, dass der OGH die Rs LB/TO (EuGH 22.9.2022, C-120/21) nun endlich zum 292 Anlass genommen hat, der EuGH-Rsp zu folgen und dass damit zumindest in diesem Bereich des Urlaubsrechts der Konflikt mit dem Unionsrecht beseitigt wurde.
Im Anlassfall ging es um einen Wildhüter und Gutsverwalter, dessen Arbeitsverhältnis (Beginn: 1.4.2003) durch AG-Kündigung (zum 31.12.2020) endete. Während seines Arbeitsverhältnisses (17,75 Jahre x 25 Arbeitstage = 443,75 Arbeits-/Urlaubstage) verbrauchte der AN 121 Urlaubstage (443,75 – 121 = 322,75 Urlaubstage = offener Urlaubsanspruch bei Vertragsbeendigung). Ausbezahlt hat der AG nur die Urlaubsersatzleistung gem § 10 UrlG iVm der Verjährungsbestimmung des § 4 Abs 5 UrlG (dh aliquoter Urlaub des letzten Urlaubsjahres = 18,75 Urlaubstage und zwei Alturlaube = 50 Urlaubstage, abzüglich eines bereits verbrauchten Urlaubstages = 67,75 Urlaubstage), allerdings nicht bei Fälligkeit zu Vertragsende (31.12.2020), sondern erst am 22.9.2021. Vom Erstgericht erhielt der AN die Verzugszinsen für die verspätete Auszahlung der Urlaubsersatzleistung zugesprochen, vom Berufungsgericht dann auch noch 180 weitere Urlaubstage für die ersten 15 Urlaubsjahre. Die Differenz ergibt sich dadurch, dass das Berufungsgericht den Anspruch nicht – wie vom AN gefordert – auf Basis von fünf, sondern von vier Urlaubswochen pro Jahr berechnet hat (dh 15 Jahre x 20 Arbeitstage = 300 Urlaubstage – 120 verbrauchte Urlaubstage = 180 Urlaubstage).
Die EuGH-Rsp zum Urlaubsrecht hat seit der Rs King (29.11.2017, C-214/16) viel Aufsehen erregt. Damals hat der EuGH die Zulässigkeit des Verlustes von Urlaubsansprüchen eines scheinselbständigen AN verneint, nachdem er seinen Urlaub im Zeitraum 1999 bis 2012 wegen der Weigerung des AG, diese Urlaubszeiten zu vergüten, nicht ausgeübt hat; diese Ansprüche müssen nach Ansicht des EuGH bis zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses übertragen werden.
Damals war noch keine Rede von bestimmten Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten des AG. Dazu kam es erst rund ein Jahr später in zwei weiteren EuGH-Entscheidungen (6.11.2018, C-619/16, Kreuziger/Land Berlin und C-684/16, Max-Planck/Shimizu). Seit diesen Entscheidungen hätte eigentlich klar sein müssen, dass es mangels „angemessener Aufklärung“ des AN seitens des AG über den Urlaubsanspruch und der Rechtsfolgen bei Nichtverbrauch (Verjährung bzw Verfall) und einer Aufforderung zum Urlaubsverbrauch, sodass der AN tatsächlich in die Lage versetzt wird, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, zu keinem „Verlust“ des Urlaubsanspruchs kommen kann. Der AN kann den Urlaubsanspruch nach Ansicht des EuGH nur dann verlieren, wenn er ihn aus freien Stücken und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Konsequenzen nicht genommen hat, nachdem er vom AG in die Lage versetzt worden ist, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen. Dessen ungeachtet hat der OGH zunächst an seiner Ansicht festgehalten, dass die EuGH-Rsp nicht auf Österreich anwendbar sei (siehe zB OGH8 ObA 62/18bDRdA 2020/36, 378 [Auer-Mayer]; krit Drs, JAS 2020, 225 ff). Es bedurfte einer weiteren EuGH-E (22.9.2022, C-120/21, LB/TO), in der es um eine dreijährige Verjährungsfrist ging, damit der OGH seinen Widerstand aufgab. Der EuGH hat darin auch klargestellt, dass die Rsp zu den Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten des AG nicht nur für den Verfall, sondern auch für die Verjährung gilt (diese Frage wurde von Niksova, wbl 2022, 484 f, aufgeworfen).
Der EuGH stützt seine Rsp ua auf den Umstand, dass der AN aufgrund seiner schwächeren Position davon abgeschreckt werden kann, seine Rechte gegenüber dem AG geltend zu machen. Ferner führt der EuGH aus, dass der AG aus seinem eigenen Versäumnis (den AN in die Lage zu versetzen, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich auszuüben, indem er seiner Hinweis- und Aufforderungsobliegenheit nachkommt) keinen Vorteil ziehen darf. Ließe man die Berufung auf die Verjährung zu, würde man im Ergebnis ein Verhalten billigen, das zu einer unrechtmäßigen Bereicherung des AG führt, das darüber hinaus noch dem von der GRC verfolgten Zweck, die Gesundheit der AN zu schützen, zuwiderläuft.
Die EuGH-Rsp gibt den AN allerdings nicht das Recht, Urlaub unbeschränkt anzusammeln. Sie verpflichtet vielmehr die AG dazu, ihren AN in völliger Transparenz der Rechtslage den Urlaubsverbrauch zu ermöglichen. Sobald der AG seine AN ausreichend informiert und zum Urlaubsverbrauch aufgefordert hat, greift die nationale Verjährungsregelung des § 4 Abs 5 UrlG.
Der EuGH führt zu den Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten aus, dass der AG seine AN „angemessen“ aufzuklären und zum Urlaubsverbrauch aufzufordern hat. Es stellt sich nun die Frage, wie eine korrekte Information und Aufforderung konkret auszusehen hat. Der EuGH selbst hat keine genaueren Aussagen zum notwendigen Inhalt, zur notwendigen Form („erforderlichenfalls förmlich“) und zum Zeitpunkt („rechtzeitig“) getroffen. Diese Fragen sind aber für jeden AG von enormer Bedeutung, da ihn die Beweislast trifft, dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um den AN tatsächlich in die Lage zu versetzen, den ihm zustehenden Urlaub zu nehmen.
Wie bereits dargelegt, hat der AG seine AN über den Urlaubsanspruch angemessen aufzuklären und zum Urlaubsverbrauch aufzufordern. Ein Verlust des Urlaubsanspruchs ist nur möglich, wenn der AN aus freien Stücken und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Konsequenzen auf den Urlaub(sverbrauch) verzichtet hat, nachdem er vom AG in die Lage versetzt worden war, seinen Urlaubsanspruch tatsächlich wahrzunehmen. ME 293 muss der AG den AN daher über den ihm zustehenden Urlaubsanspruch, den Bezugs- bzw Übertragungszeitraum und die Rechtsfolgen des Nichtverbrauchs (Verjährung bzw Verfall) informieren und den AN konkret dazu auffordern, den noch offenen Urlaub rechtzeitig zu verbrauchen, da er nur so tatsächlich in die Lage versetzt wird, seinen gesamten Urlaub rechtzeitig zu verbrauchen.
Der Hinweis des EuGH „erforderlichenfalls förmlich“ heißt nicht, dass die Information schriftlich erfolgen muss. Aus Gründen der Rechtssicherheit sollte diese aber schriftlich erfolgen, wobei grundsätzlich auch ein E-Mail ausreichen sollte, wenn mit dem AN auch sonst per E-Mail kommuniziert wird.
In der Rs Max-Planck/Shimizu weisen allerdings GA und EuGH darauf hin, dass die Mitteilung „klar“ sein muss. Dh aus der Information muss für den AN eindeutig hervorgehen, dass er den fraglichen Urlaub, wenn er ihn nicht tatsächlich konsumiert, am Ende des Bezugs- bzw Übertragungszeitraums verliert.
Um der Bedeutung gerecht zu werden, wird es mE nicht ausreichen, wenn der AG die entsprechende Information und Aufforderung zum Urlaubsverbrauch nur im Arbeitsvertrag aufnimmt oder die AN über allgemeine Aushänge am „schwarzen Brett“, durch Infoseiten im Intranet oder eine von den AN abrufbare Urlaubsapplikation informiert. Immerhin soll der AG den AN aktiv zum Urlaubsverbrauch auffordern, nachdem der AG den AN über seinen Urlaubsanspruch, den Übertragungszeitraum und die Rechtsfolgen des Nichtverbrauchs informiert hat. ME ist dazu eine individuelle Information des AN erforderlich: zB Schreiben bzw E-Mail an jeden einzelnen AN, das mE auch automatisch aufgrund eines entsprechenden Computerprogrammes generiert werden kann. Zu überlegen ist allerdings, ob nicht ein Schreiben reicht, in dem der AG den AN nur zum Verbrauch des offenen und „demnächst“ verjährenden Urlaubs auffordert, wenn dieses Schreiben zB mit der vom AN jederzeit und leicht zu öffnenden Urlaubsapplikation verlinkt ist, in der der konkrete Urlaubsanspruch des AN, der verbrauchte bzw aktuell noch offene Urlaub und der Bezugszeitraum für den jeweiligen Urlaubsteil aufgelistet ist, da auf diese Weise mE sichergestellt wäre, dass der AN Kenntnis von den notwendigen Informationen hat bzw leicht erhalten kann.
Diese Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten treffen den AG nicht nur zu Beginn des Arbeitsverhältnisses; er hat vielmehr in regelmäßigen Abständen aktiv zu werden (vgl auch Kietaibl, JAS 2022, 48, der davon spricht, dass der AG den AN „aktiv und laufend“ zum Urlaubsverbrauch auffordern muss sowie vor einer „allenfalls drohenden Verjährung warnt“).
Der EuGH (22.9.2022, C-518/20, XP und C-727/20, AR) hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass zu prüfen sei, ob der AG „seinen Obliegenheiten rechtzeitig nachgekommen ist“. Der AN ist mE zu einem Zeitpunkt zu informieren und zum Urlaubsverbrauch aufzufordern, zu dem er den Urlaub noch in zumutbarer Weise verbrauchen kann. Dh AN, die Kinder haben, die noch in die Schule gehen, sind so rechtzeitig aufzuklären, dass sie gemeinsam mit diesen auf Urlaub gehen können, weshalb die Information rechtzeitig vor Beginn der Schulferien erfolgen sollte (Drs in Kietaibl/Resch [Hrsg], Arbeitsrechtlicher Schutz aus unionsrechtlichen Vorgaben [2021] 107).
Der GA erachtete zB in der Rs Max-Planck/Shimizu eine Aufforderung des AG vom 23.10. als verspätet, nachdem der AN gleichzeitig erfuhr, dass sein Arbeitsvertrag nicht verlängert wird und daher am 31.12. endet. ME ist eine Information zu Beginn des Urlaubsjahres zu überlegen.
ME hat der AG auch bei jeder Änderung des Urlaubsanspruchs aktiv zu werden, weshalb zumindest jedes Jahr eine neue Information des AN erfolgen sollte. Kommt es dann aber während des Urlaubsjahres zu Änderungen des Urlaubsanspruches (zB bei Wechsel zwischen Voll- und Teilzeit, bei Elternkarenz und sonstigen Karenzen, die zu einer Aliquotierung des Urlaubsanspruchs führen, soweit der Urlaubsanspruch noch nicht verbraucht wurde – vgl zB § 15f Abs 2 MSchG, § 11 Abs 2 AVRAG) ist mE eine neuerliche Information des AN erforderlich, da der AG auch über den Umfang des Urlaubsanspruchs aufzuklären hat.
Primär ist zu prüfen, ob die nationalen Regelungen (hier § 4 Abs 5 und § 10 Abs 3 UrlG) unionsrechtskonform ausgelegt werden können (siehe ua Drs, DRdA 2024, 184 ff mwN). Ist das der Fall, dann ist die Urlaubsersatzleistung auf Basis des fünfbzw sechswöchigen Urlaubsanspruchs des UrlG zu berechnen. Der Wortlaut des § 4 Abs 5 UrlG spricht allerdings dagegen und § 10 Abs 3 UrlG („soweit der Urlaubsanspruch noch nicht verjährt ist“) verweist wohl auf die Verjährungsregelung des § 4 Abs 5 UrlG. Auer-Mayer (ZAS 2020/22, 132) spricht sich aber dennoch für die Zulässigkeit einer unionsrechtskonformen Auslegung aus.
In diesem Zusammenhang ist zu bedenken, dass der OGH die Ansicht vertritt, dass Beginn und Fortsetzung der urlaubsrechtlichen Verjährungsfrist die objektive Möglichkeit der Geltendmachung des Urlaubsanspruchs voraussetzt; kann ein AN zB infolge krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit seinen Urlaub nicht verbrauchen, ist die Verjährung des Urlaubsanspruchs nach den allgemeinen Grundsätzen des ABGB (§§ 1494 ff) seit Beginn des Krankenstandes gehemmt (siehe OGH9 ObA 39/07mDRdA 2009/4, 33 [Reissner]).
ME wäre zu überlegen, ob diese OGH-Rsp nicht auf die Nichterfüllung der Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten seitens des AG übertragbar wäre. Immerhin wird der AN dadurch nach Ansicht 294 des EuGH nicht tatsächlich in die Lage versetzt, den ihm zustehenden Jahresurlaub zu nehmen. Risak/Grossinger ( JAS 2018, 151 f) haben sich allerdings in ihrer Entscheidungsbesprechung zur Rs King dagegen ausgesprochen (sie sprechen sich für die Sittenwidrigkeit des Verjährungseinwandes aus – ihnen folgend Dvořák, DRdA 2023, 266). Sie berufen sich ua darauf, dass der EuGH letztlich bereicherungsrechtlich argumentiert habe. Aber bereits damals hat der EuGH neben der unrechtmäßigen Bereicherung des AG auf den Zweck der Richtlinie, die Gesundheit des AN zu schützen, hingewiesen, weshalb eine Auslegung, die unter diesen Umständen ein Erlöschen der vom AN erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub zuließe, nicht in Frage käme. Der EuGH hat darüber hinaus in seinen neueren Entscheidungen noch darauf hingewiesen, dass der AN aufgrund seiner schwächeren Position davon abgeschreckt werden könnte, seine Rechte ausdrücklich geltend zu machen, da ihn die Einforderung dieser Rechte Maßnahmen des AG aussetzen könnte, die sich zu seinem Nachteil auf das Arbeitsverhältnis auswirken könnten; der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub könne daher nur unter der Voraussetzung verloren gehen, dass der betreffende AN tatsächlich die Möglichkeit hatte, diesen Anspruch rechtzeitig auszuüben (EuGH Rs LB/TO, Rz 44 f; EuGH Rs Max-Planck-Gesellschaft/Shimizu, Rz 41 ff). Der OGH hat allerdings diesen Lösungsweg (unionsrechtskonforme Auslegung durch Hemmung der nationalen Verjährungsfrist oder durch Verwerfung des Verjährungseinwandes wegen Sittenwidrigkeit) nicht eingeschlagen.
Kann eine nationale Regelung aber nicht im Einklang mit Art 7 der Arbeitszeit-RL und Art 31 Abs 2 der GRC ausgelegt werden, hat das befasste nationale Gericht diese nationale Regelung unangewendet zu lassen und dafür Sorge zu tragen, dass der AN weder den im Unionsrecht begründeten Urlaubsanspruch noch – im Falle der Beendigung des Arbeitsverhältnisses – die finanzielle Vergütung dieses Anspruchs verlieren kann, wenn der AG nicht nachweisen kann, dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um den AN in die Lage zu versetzen, den ihm nach dem Unionsrecht zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen (dh Notwendigkeit der Erfüllung der Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten seitens des AG).
Die unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts leitet der EuGH aus Art 7 der Arbeitszeit-RL und Art 31 Abs 2 der GRC ab, wenn es sich um einen staatlichen AG handelt; bei einem privaten AG stützt er sich nur auf Art 31 Abs 2 der GRC (EuGH Rs Max-Planck-Gesellschaft/Shimizu; EuGH 6.11.2018, C-569/16, Stadt Wuppertal/Bauer; EuGH 6.11.2018, C-570/16, Willmeroth/Broßonn).
Dies führt aber nach hM dazu, dass der AN seinen über die Verjährungsregelung des § 4 Abs 5 UrlG hinausgehenden Anspruch (auf Urlaub und in der Folge auf die Urlaubsersatzleistung) nur auf das Unionsrecht und damit nur auf den unionsrechtlichen vierwöchigen Urlaubsanspruch stützen kann (siehe ua Drs, DRdA 2024, 184 ff mwN), weshalb das Berufungsgericht nur weitere 180 Urlaubstage zuerkannt hat.
Es bleibt zu hoffen, dass der OGH auch bei den sonstigen Spannungsfeldern zwischen nationalem Recht und Unionsrecht (zB Urlaubsanspruch bei Wechsel von Vollzeit auf Teilzeit) einlenkt. Unabhängig davon wäre es aber an der Zeit, dass der Gesetzgeber tätig wird und iSd Rechtssicherheit dafür sorgt, dass das Urlaubsrecht (insb das UrlG) an das Unionsrecht angepasst wird, indem er nicht nur den § 4 Abs 5 UrlG (Hemmung der Urlaubsverjährung bei Verletzung der Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten des AG oder bei krankheitsbedingter Unmöglichkeit des Urlaubsverbrauchs) novelliert, sondern zB auch § 3 UrlG (Anrechnung ausländischer Vordienstzeiten) und §§ 2, 6 und 10 UrlG (bei Wechsel des AN von Voll- auf Teilzeit: Urlaubsanspruch, Urlaubsentgelt bzw Urlaubsersatzleistung auf Basis Vollzeit, wenn der AN seinen bis dahin erworbenen Urlaub nicht vor dem Wechsel verbrauchen konnte – auch hier treffen den AG entsprechende Hinweis- und Aufforderungsobliegenheiten – siehe Drs in Kietaibl/Resch [Hrsg], Arbeitsrechtlicher Schutz aus unionsrechtlichen Vorgaben 106 f), aber auch § 5 UrlG (Unterbrechung des Urlaubs nur durch längere Krankenstände, was allerdings nur dann zu einem Konflikt mit dem Unionsrecht führt, wenn der AN wiederholte kurze Erkrankungen aufweist, die insgesamt dazu führen, dass der unionsrechtliche Urlaubsanspruch von vier Wochen verkürzt würde).
Dabei stehen dem Gesetzgeber zwei Wege offen: Er kann die entsprechenden nationalen Regelungen nur im unbedingt notwendigen Ausmaß novellieren und die Erweiterung des Anspruchs nur für den unionsrechtlichen Urlaubsanspruch von vier Wochen vorsehen (wie er das zB beim Anspruch auf Urlaubsersatzleistung bei vorzeitigem Austritt gem § 10 Abs 2 UrlG gemacht hat) oder er kann die Rechtslage auf Basis des nationalen fünf- bzw sechswöchigen Urlaubsanspruchs novellieren. Bei der ersten Variante ist aber zu prüfen, inwieweit diese Anpassung nicht gegen das Verschlechterungsverbot des Art 23 der Arbeitszeit-RL verstößt. 295