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Corona als Betriebsrisiko

WALTER J.PFEIL (SALZBURG)
OGH 27.9.2023 9 ObA 133/22gOLG Wien 29.8.2022 9 Ra 51/22vASG Wien 16.2.2022 17 Cga 65/12h
  1. Grundsätzlich löst jeder Umstand, der auf Seiten des DG „liegt“, eine Entgeltpflicht nach § 1155 ABGB aus. Dazu gehören auch Fälle „höherer Gewalt“, außer das Ereignis ist nicht nur auf beiden Seiten der Arbeitsvertragsparteien eingetreten, sondern hat darüber hinaus in vergleichbarer Weise die Allgemeinheit betroffen.

  2. Die verbleibenden unternehmerischen Entscheidungsspielräume trotz der umfangreichen COVID-Maßnahmen und der Betriebsschließungen zusammen mit den vom Verordnungsgeber geschaffenen Rahmenbedingungen, die weiterhin ein Zustandekommen von Dienstleistungen ermöglichten, sprechen jedoch gegen eine „allgemeine Betroffenheit“.

  3. Ein Entgeltfortzahlungsanspruch des AN gem § 1155 Abs 1 ABGB besteht beim Sonderfall der COVID-19-Pandemie auch außerhalb des zeitlichen Anwendungsbereichs des (bis 31.12.2020 in Geltung gestandenen) § 1155 Abs 3.

Die aus Albanien stammende Kl begann ihr Beschäftigungsverhältnis bei der Bekl am 18.5.2020 mit einer Arbeitszeit von 20 Wochenstunden. Das Arbeitsverhältnis endete durch AN-Kündigung zum 20.7.2021.

Das Caféhaus, in welchem die Kl tätig war, war aufgrund des „Corona-Lockdowns“ für die Gastronomie von 3.11.2020 bis 18.5.2021 geschlossen. Für den Zeitraum des Lockdowns vereinbarten die Streitteile Kurzarbeit. Die Kl wurde daher von der Bekl mit einer Kurzarbeitsunterstützung abgerechnet. Nachdem die Kl ab April 2021 wegen der ausgelaufenen Beschäftigungsbewilligung nicht mehr in die Kurzarbeit einbezogen werden konnte, erstellte die Bekl im April 2021 eine Lohnabrechnung. Von 1.4.2021 bis 18.5.2021 erhielt die Kl kein Entgelt, das Arbeitsverhältnis war aber nicht beendet worden. Allerdings meldete die Bekl die Kl rückwirkend für die Monate April und Mai 2021 von der SV ab, weil sie die rechtzeitige Verlängerung der Beschäftigungsbewilligung übersehen hatte.

Ab 19.5.2021 war die Kl wieder als Kellnerin eingesetzt, weil wieder eine Beschäftigungsbewilligung für sie vorlag. Im Juni 2021 leistete sie 68,40 Mehrstunden, während des gesamten Arbeitsverhältnisses war sie lediglich zwei Tage auf Urlaub.

Die Kl begehrte von der Bekl Lohn für 1.4. bis 19.5.2021, anteilige Sonderzahlungen, Entgelt für Mehrstunden sowie Urlaubsersatzleistung. Der Lohn für April 2021 stünde ihr schon deshalb zu, weil er von der Bekl abgerechnet worden sei. Da sie von 1.4.2021 bis 18.5.2021 stets arbeitsbereit gewesen sei, habe sie auch nach § 1155 ABGB Anspruch auf den Lohn (jedenfalls aber auf das Kurzarbeitsentgelt) sowie die anteiligen Sonderzahlungen.

Die Bekl wendete ein, dass das Arbeitsverhältnis Ende März 2021 einvernehmlich aufgelöst worden sei. Sämtliche Löhne einschließlich des Entgelts für die im Juni 2021 geleisteten Mehrstunden seien – vereinbarungsgemäß durch Barentnahme aus der Kasse – bezahlt worden. Die COVID-19-Pandemie stelle zudem eine höhere Gewalt dar, weshalb der Arbeitsentfall der „neutralen Sphäre“ zuzuordnen sei.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren teilweise statt. Der Kl gebühre für April 2021 der Lohn in der abgerechneten Höhe. Für den Zeitraum 1. bis 18.5.2021 gebühre das Entgelt maximal in Höhe der Kurzarbeitsbeihilfe, weil es sonst zu einer Besserstellung der Kl durch den Umstand käme, dass keine aufrechte Beschäftigungsbewilligung vorgelegen habe. Das Arbeitsverhältnis sei in diesem Zeitraum aufrecht gewesen und die Bekl habe den Anspruch nicht bestritten. Für den Zeitraum 19.5.2021 bis 20.7.2021 stehe der Kl der Lohn zu, weiters (anteilige) Sonderzahlungen, Mehrstundenentgelt sowie eine Urlaubsersatzleistung.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl gegen den dem Klagebegehren stattgebenden Teil nicht Folge. Hinsichtlich des Lohnanspruchs für April 2021 und 1. bis 18.5.2021 und der auf diesen Zeitraum entfallenden aliquoten Sonderzahlungen ging das Berufungsgericht davon aus, dass der Entgeltfortzahlungsanspruch des AN nach § 1155 Abs 1 ABGB generell als nicht durch eine neutrale Sphäre eingeschränkt zu beurteilen bzw die Zugehörigkeit des für den Arbeitsausfall im gegebenen Zusammenhang verantwortlichen Hindernisses zur neutralen Sphäre zu verneinen sei. Trotz Außerkrafttretens der Sonderregel nach § 1155 Abs 3 und 4 ABGB mit 31.12.2020 seien der Kl daher im Ergebnis diese Ansprüche zu Recht zuerkannt worden.

Die ordentliche Revision wurde vom Berufungsgericht zugelassen, weil zur Problematik des § 1155 ABGB keine höchstgerichtliche Rsp vorliege.

Der OGH erachtete die am 6.10.2022 erhobene Revision auch für zulässig, gab ihr aber nicht Folge.

[...]

[23] IV.1.1. Nach § 1155 Abs 1 ABGB gebührt dem DN das Entgelt auch für Dienstleistungen, die nicht zustande gekommen sind, wenn er zur Leistung bereit war und durch Umstände, die auf Seite des DG liegen, daran verhindert worden ist [...].

[24] 1.2. In der Zeit vom 15.3. bis 31.12.2020 war [...] folgender – mit Art 10 des 2. COVID-19-Gesetzes, BGBl I 2020/16, geschaffener – Abs 3 in Kraft (§ 1503 Abs 14 [idgF: Abs 15] ABGB):

„Maßnahmen auf Grundlage des COVID-19-Maßnahmengesetzes, BGBl. Nr 12/2020, die zum Verbot oder zu Einschränkungen des Betretens von Betrieben führen, gelten als Umstände im Sinne des Abs. 1. Arbeitnehmer, deren Dienstleistungen aufgrund solcher Maßnahmen nicht zustande kommen, sind verpflichtet, auf Verlangen des Arbeitgebers in dieser Zeit Urlaubs- und Zeitguthaben zu verbrauchen.“

[...] 392

[26] 2. § 1155 ABGB regelt Leistungsstörungen und betrifft sowohl den Annahmeverzug des AG als auch die von ihm zu vertretende Unmöglichkeit der Dienstleistung, also die Frage, wer das Entgeltrisiko trägt, sollten die versprochenen Dienste des AN nicht zustande kommen (Schrammel, ZAS 1983, 63 [Pkt 1.]). Nach der Rsp ist für einen Entgeltanspruch nach § 1155 Abs 1 ABGB neben dem aufrechten Bestehen eines Arbeitsvertrags allein entscheidend, ob der AN zur Leistung bereit war und durch Umstände, die auf Seiten des AG lagen, daran verhindert worden ist (RS0021428).

[27] 3. Die Judikatur rechnet dem AG insb all jene die Dienstverhinderung auslösenden Ereignisse zu, welche die Person des AG, sein Unternehmen, die Organisation und den Ablauf des Betriebs, die Zufuhr von Rohstoffen, Energien und sonstigen Betriebsmitteln, die erforderlichen Arbeitskräfte, die Auftragslage und Absatzlage sowie die rechtliche Zulässigkeit der betrieblichen und unternehmerischen Tätigkeit betreffen (RS0021631; [...]).

[28] 4.1. Grundsätzlich können auch Umstände auf Seiten des AG, die diesen zur Entgeltfortzahlung verpflichten, dem AG zuzurechnende Zufälle sein, die die Arbeitsleistung des AN verhindern (Rebhahn/Ettmayer in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.04 § 1155 Rz 19; vgl 8 ObA 87/06m).

[29] 4.2. Strittig ist in der Lehre in diesem Zusammenhang insb, ob ein Umstand, der den AN an der Arbeitsleistung hindert und eine Entgeltpflicht des AG auslöst, (nur) dann dem AG zuzurechnen ist, wenn er von ihm steuer- bzw beherrschbar ist (vgl Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 § 1155 ABGB Rz 23). Diskutiert wird, ob es neben Umständen, die entweder auf Seiten des AN oder des AG liegen, eine sogenannte „neutrale Sphäre“ gibt, die dazu führen soll, dass der AN für den Zeitraum der Arbeitsverhinderung keinen Entgeltanspruch hat (Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 § 1155 ABGB Rz 24 mwN).

[30] In der Lehre werden verschiedene Thesen vertreten, um zu bestimmen, welche Zufälle dem AG zuzurechnen sind: Die Lokalisierungstheorie, die die Beherrschbarkeit durch den AG für unerheblich ansieht und nur danach fragt, ob die Ursache der Verhinderung sich im Bereich des AG (insb im Betrieb) geäußert hat, die Zurechnungstheorie, nach der § 1155 ABGB nur dann zur Anwendung gelangt, wenn es um Umstände geht, die der AG beherrschen kann und – vereinzelt, aber ähnlich – die Einflusstheorie, die nur solche Umstände für beachtlich hält, die vom AG beeinflussbar bzw von ihm vermeidbar sind (Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 § 1155 ABGB Rz 26 ff; Rebhahn in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 1155 ABGB Rz 31 f mit jeweiligen Literaturnachweisen). Die Judikatur vertritt keine dieser Thesen explizit.

[31] 4.3. In der E 9 ObA 202/87 wurden auch Fälle „höherer Gewalt“, sofern davon das Unternehmen, aber nicht die Allgemeinheit berührt ist, zur Sphäre des AG gezählt. Erst wenn ein Ereignis oder ein Umstand zwar auch auf Seite des AN eintrete, jedoch in seiner Auswirkung über die AG-Sphäre hinaus in vergleichbarer Weise die Allgemeinheit treffe, sei es nach dieser E gerechtfertigt, von einer Entgeltzahlungspflicht des AG abzusehen. Das sei zB bei umfassenden Elementarereignissen, aber auch bei Seuchen, Krieg, Revolution und Terror, der sich nicht nur gegen das Unternehmen richte, der Fall. Ein Teil der Lehre spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „allgemeinen Kalamität“ und erklärt diese Einschränkung mit der Geschäftsgrundlage oder dem Gedanken, dass Störungen, welche auch die Allgemeinheit betreffen, nicht mehr Gegenstand einer Norm sind, welche Risiken der beiden Vertragspartner verteilt (Rebhahn in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 1155 ABGB Rz 33 mwN; Rebhahn/Ettmayer in Kletečka/Schauer, ABGB-ON1.04 § 1155 Rz 23 mwN in FN 95). Es läge dann kein Umstand mehr vor, der auf Seiten des AG liege. Auch dem AN sei es in diesem Fall nicht mehr möglich, sich leistungsbereit zu erklären (Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 § 1155 Rz 42).

[32] 5.1. Dass es sich bei der COVID-19-Pandemie um eine schicksalhafte Entwicklung iS eines Elementarereignisses und um eine Seuche handelt, wurde in der mietrechtlichen Rsp zu § 1104 ABGB bereits bejaht (RS0133812).

[33] 5.2. Von einem arbeitsrechtlichen Fachsenat wurde bereits entschieden, dass Maßnahmen nach dem COVID-19-Maßnahmengesetz,BGBl I 12/2020 , die zum Verbot oder zu Einschränkungen des Betretens von Betrieben führen, auf Seiten des DG liegende Umstände iSd § 1155 Abs 1 ABGB waren (8 ObA 26/22i). Dieser E lagen Ansprüche zugrunde, die in den zeitlichen Anwendungsbereich des § 1155 Abs 3 ABGB idF BGBl I 16/2020fielen.

[35] 6. Im Schrifttum wurde diese Frage der Anwendbarkeit des § 1155 Abs 1 ABGB beim Sonderfall der COVID-19-Pandemie umfangreich aufgearbeitet:

[36] 6.1. Ein Teil der Lehre vertritt die Ansicht, dass bei der COVID-19-Pandemie noch nicht von einer „allgemeinen Kalamität“ gesprochen werden könne und befürwortet einen Entgeltfortzahlungsanspruch des AN. Die verbleibenden unternehmerischen Entscheidungsspielräume zusammen mit den vom Verordnungsgeber geschaffenen Rahmenbedingungen, die weiterhin ein Zustandekommen von Dienstleistungen ermöglichen sollten, sprächen gegen eine „allgemeine Betroffenheit“ (Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 § 1155 Rz 42; Felten/Pfeil, Arbeitsrechtliche Auswirkungen der COVID-19-Gesetze – ausgewählte Probleme, DRdA 2020, 295 [302]; Pfeil in Schwimann/Kodek5 § 1155 Rz 14c; Reissner, COVID-19-Pandemie und Dienstverhinderungsrecht, in Anzenberger/Radner/Rausch-Kalod, COVID-19 in der Arbeitswelt, 13 [31 f]). Nicht die Krankheit selbst, sondern die behördlichen Maßnahmen hätten dazu geführt, dass die vereinbarten Dienste nicht erbracht werden 393 konnten. Individuell-konkrete behördliche Verbote seien aber in der DG-Sphäre zu verorten (Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 § 1155 Rz 43; Holzer/Vinzenz in Auer-Mayer/Burgstaller/Preyer, AngG § 42 Rz 19/1; Reissner, COVID-19-Pandemie und Dienstverhinderungsrecht in Anzenberger/Radner/Rausch-Kalod, COVID-19 in der Arbeitswelt, 13 [20]; vgl Holzner, Entgeltrisiko insbesondere bei Elementarereignissen, DRdA 2022, 201 [207]). Es habe daher im Falle einer Betriebsschließung als Reaktion auf das allgemeine Betretungsverbot gem § 1155 Abs 1 ABGB ein Entgeltanspruch bestanden. Insofern habe die befristete Einführung des § 1155 Abs 3 ABGB nur klarstellende Funktion gehabt (Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 § 1155 Rz 45, 47; Felten/Pfeil, Arbeitsrechtliche Auswirkungen der COVID-19-Gesetze – ausgewählte Probleme, DRdA 2020, 295 [302]; dies, COVID-19 und Entgeltfortzahlung, CuRe 2020/19 [Pkt 5]; Pfeil in Schwimann/Kodek, ABGB Praxiskommentar Band 75 § 1155 ABGB Rz 14c; Reissner, COVID-19-Pandemie und Dienstverhinderungsrecht, in Anzenberger/Radner/Rausch-Kalod, COVID-19 in der Arbeitswelt, 13 [20]; Gruber-Risak, Die Seuche, das Risiko und der Arbeitsvertrag – Reflexionen zu § 1155 ABGB aus Anlass der COVID-19-Pandemie, ÖJZ 2021, 165 [171]; Haider, § 1155 ABGB in der COVID-19-Krise, DRdA-infas 2020, 199 [200 f]).

[37] 6.2. Andere Autorinnen und Autoren sehen hingegen in der COVID-19-Pandemie eine „allgemeine Kalamität“. Sie vertreten jedoch (teilweise die Existenz einer neutralen Sphäre überhaupt verneinend) die Ansicht, dass sich die Annahme einer „neutralen Sphäre“, auf die sich die herrschende Ansicht zur Begründung des Entfalls des Entgelt anspruchs in diesen Fällen stütze, rechtsdogmatisch nicht stringent begründen lasse, weil es aus allgemeinen Gründen des Vertragsrechts nicht plausibel sei, anzunehmen, dass von den Folgen einer „allgemeinen Kalamität“ eher AG entlastet werden sollten als AN. Entfalle das Arbeitsentgelt im Fall von Betriebsschließungen aufgrund der Pandemie, würde dies zudem auch erkrankte AN und AN mit persönlichen Dienstverhinderungsgründen betreffen. Solche AN verfügten zwar über einen Entgeltfortzahlungsanspruch, der jedoch bei Annahme einer „neutralen Sphäre“ ins Leere laufen würde. Weder im Text des § 1155 Abs 1 ABGB noch in den Gesetzesmaterialien zu dieser Bestimmung finde sich ein Hinweis auf eine Einschränkung des Anwendungsbereichs bei „allgemeinen Kalamitäten“. Da AN sich in Arbeitsverträgen lediglich dazu verpflichteten, dem AG ihre Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen, sei es das Risiko des AG, wenn er den AN nicht beschäftigen könne (Aichberger-Beig, Entfall des Entgelts bei Arbeitsausfällen mit Ursache in der sogenannten „neutralen Sphäre“? DRdA 2020, 411 [419]; dies, Coronavirus: Kein Arbeitsentgelt bei durch „allgemeine Kalamität“ verursachten Betriebsschließungen? ecolex 2020, 283 [284]; dies, Entgeltfortzahlung bei Betriebsschließungen in der COVID-19-Pandemie – Zur Rechtslage nach Außerkrafttreten der Sonderregelung in § 1155 Abs 3 und 4 ABGB, ecolex 2021/205 [295]; Gruber-Risak, Die Seuche, das Risiko und der Arbeitsvertrag – Reflexionen zu § 1155 ABGB aus Anlass der COVID-19-Pandemie, ÖJZ 2021, 22; vgl Mazal, Entgeltfortzahlung bei pandemiebedingter Einschränkung des sozialen Lebens, ecolex 2020, 280 [281]; vgl auch Gerhartl, Entgeltfortzahlung bei Coronavirus – Das Elend der neutralen Sphäre, ASoK 2020, 162 [168]).

[38] 6.3. Im Schrifttum wird aber auch die Ansicht vertreten, dass die pandemiebedingte Ausnahmesituation der neutralen Sphäre zuzurechnen sei und daher keine Entgeltfortzahlungspflicht des AG bestehe. Begründet wird dies ua damit, dass den AN mit der speziellen Regelung des § 1155 Abs 3 ABGB im Zusammenhang mit Abs 4 im speziellen Fall von COVID-19 das Entgelt gesichert werden sollte, das ihnen nach der bisherigen Rechtslage gerade nicht zugestanden sei, wofür den AN aber auch ein gewisser Beitrag abverlangt worden sei (Urlaubskonsum auch gegen ihren Willen). Mit der Neuregelung des § 1155 Abs 3 und 4 ABGB habe der Gesetzgeber vielmehr die hM bestätigt, dass bei allgemeinen Kalamitäten keine Entgeltfortzahlungspflichten bestünden (Friedrich, Entgeltfortzahlung nach § 1155 ABGB und COVID-19 – Muss die Sphärentheorie angesichts der Neuregelung des § 1155 Abs 3 ABGB im Zusammenhang mit der Corona-Krise neu überdacht werden? ZAS 2020, 26 [161 f]; Marhold/Brameshuber/Friedrich, Arbeitsrecht4 248; Rauch, Die Dienstverhinderung durch eine Pandemie – Zur bis Ende 2020 befristeten Neuregelung des § 1155 Abs 3 und 4 ABGB, ASoK 2020, 301 [303]; vgl Vogt in Gruber-Risak/Mazal, Das Arbeitsrecht – System und Praxiskommentar Corona-Sonderrecht betreffend das Unterbleiben der Arbeitsleistung, Kap 7 Rz 210; Unterrieder, Entgeltfortzahlung während Betriebsschließung in der Pandemie, RdW 2020, 261 [262]; Kietaibl/Wolf in Resch, Corona-HB1.04 Kap 3 Rz 2; Windisch-Graetz, Arbeitsrecht II, 212).

[39] 7. Der erkennende Senat schließt sich jenem Teil der Lehre an, die einen Entgeltfortzahlungsanspruch des AN gem § 1155 Abs 1 ABGB beim Sonderfall der COVID-19-Pandemie auch außerhalb des zeitlichen Anwendungsbereichs des § 1155 Abs 3 ABGB bejaht.

[40] 7.1. Ausgangspunkt aller Überlegungen ist eine Auslegung des § 1155 Abs 1 ABGB. Nach dem Wortlaut dieser Bestimmung löst grundsätzlich jeder Umstand, der auf Seiten des DG „liegt“, eine Entgeltpflicht aus. Wie ua Felten (in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 § 1155 ABGB Rz 27 ff) zutreffend aufzeigt, stellt die Verwendung des neutralen Begriffs „liegen“ klar, dass es für die Anwendbarkeit des § 1155 ABGB gerade nicht auf die subjektive Vorwerfbarkeit des Ereigniseintritts oder auch bloß auf dessen Zurechnung zum DG ankommt. Der Gesetzgeber spricht bewusst nicht von Umständen, die dem DG „zuzurechnen“ oder vom DG „verursacht“ worden sind. Das ist deshalb konsequent, weil mit der III. TN (AB 78 BlgHH 21. Sess 1912, 342) die bisherige Konzeption eines Schadenersatzanspruchs aufgegeben und an dessen Stelle dem DN ein Erfüllungsanspruch eingeräumt wurde. Auf subjektive Elemente sollte 394 es gerade nicht mehr ankommen. Nunmehr sollte jeder Zufall, der in der Sphäre des DG vorkommt, einen Entgeltanspruch auslösen (vgl auch Binder, Die Beendigung arbeitsvertraglicher Bedingungen bei Eintritt dauernder Leistungsunmöglichkeit, in FS Strasser, 271 [285 f] Rebhahn in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 1155 ABGB Rz 30). Der Gesetzgeber wollte damit die für die Zurechnung ganz entscheidende Frage der Beeinflussbarkeit und Beherrschbarkeit des Risikos aus der Betrachtung ausgeklammert haben.

[41] 7.2. Mit diesem Auslegungsergebnis des § 1155 Abs 1 ABGB grundsätzlich übereinstimmend hat die Rsp (siehe Pkt 4.3. f) auch Fälle „höherer Gewalt“ als zur Sphäre des DG gehörig angesehen. Eine Einschränkung der Entgeltfortzahlungspflicht des DG in diesen Fällen höherer Gewalt wurde von der (älteren) Rsp nur insofern gemacht, als die Pflicht zur Entgeltfortzahlung nach § 1155 Abs 1 ABGB dann (in Ausnahmesituationen) entfallen soll, wenn vom Elementarereignis („höhere Gewalt“) nicht nur das Unternehmen des DG, sondern auch die Allgemeinheit berührt ist. Nur wenn somit ein Ereignis oder ein Umstand zwar auch auf Seite des DN eintritt, jedoch in seiner Auswirkung über die DG-Sphäre hinaus in vergleichbarer Weise die Allgemeinheit trifft (sog. „allgemeine Kalamität“), bestehe keine Entgeltzahlungspflicht des DG.

[42] 7.3. Ausgehend davon, dass es sich bei der COVID-19-Pandemie um einen Fall „höherer Gewalt“ handelt (vgl RS0133812), ist zu prüfen, ob dieses Ereignis nicht nur auf beiden Seiten der Arbeitsvertragsparteien eingetreten ist, sondern darüber hinaus in vergleichbarer Weise die Allgemeinheit betroffen hat. Dies ist nach Ansicht des erkennenden Senats in Bezug auf das zwischen den Parteien bestandene Arbeitsverhältnis aber nicht der Fall gewesen. Wie von einem Teil der Lehre überzeugend aufgezeigt wird (siehe Pkt 6.1.), sprechen die verbleibenden unternehmerischen Entscheidungsspielräume trotz der umfangreichen COVID-Maßnahmen und der Betriebsschließungen zusammen mit den vom Verordnungsgeber geschaffenen Rahmenbedingungen, die weiterhin ein Zustandekommen von Dienstleistungen ermöglichten, gegen eine „allgemeine Betroffenheit“. Nicht die Krankheit selbst, sondern die behördlichen Maßnahmen haben dazu geführt, dass die vereinbarten Dienste nicht erbracht werden konnten. Insofern zutreffend weist etwa Haider (§ 1155 ABGB in der COVID-19-Krise, DRdA-infas 2020, 199 [200 f]) darauf hin, dass eine vergleichbare Betroffenheit der Allgemeinheit – insb durch die Maßnahmen des Gesetzgebers (bzw der Verordnungsgeber) – nicht vorlag. Vielmehr war diese Betroffenheit sehr unterschiedlich. Während einige Betriebe ihre Tätigkeit in den Betriebsräumlichkeiten oder örtlich disloziert im Home-Office nahezu unverändert aufrecht erhalten konnten, zB Lebensmittelunternehmen davon sogar profitieren, war das Betreten anderer Betriebe behördlich verboten. Individuell-konkrete behördliche Verbote sind regelmäßig der DG-Sphäre zuzurechnen. Dass die – unstrittig arbeitsbereite – Kl ihre versprochenen Arbeitsleistungen nicht erbringen konnte, lag nicht in ihrer Sphäre, sondern eben in jener der [DG], die ihre Arbeitsleistungen als Aushilfskellnerin nicht angenommen hat (annehmen konnte).

[43] 7.4. In der E 9 ObA 77/22x (EvBl 2023/117, 423 [Greiner]) vertrat der Senat zwar die Rechtsauffassung, dass es sich bei der Pandemie – jedenfalls im dort zu beurteilenden Zeitraum (26.3.2020 bis 19.5.2020) – um ein Elementarereignis größten Ausmaßes gehandelt hat, doch wurde damit nur der von den dortigen Vertragsparteien im Gastbühnenvertrag verwendete Begriff „höhere Gewalt“ iSd § 914 ABGB ausgelegt und keine Aussage im Zusammenhang mit § 1155 ABGB getroffen. Die dortige Kl stützte ihren Anspruch [...] ausdrücklich auf Schadenersatz (Kündigungsentschädigung) und nicht auf Entgeltfortzahlung nach § 1155 ABGB (Rz 17). Der – für die hier zu beurteilende Frage aber wesentliche – Umstand, dass nicht die Pandemie (Krankheit) selbst, sondern erst das gesetzlich verordnete Betretungsverbot dazu geführt hat, dass die versprochenen Dienste nicht zustande gekommen sind, war für die E 9 ObA 77/22x nicht relevant (Rz 27).

[44] 7.5. Für den vorliegenden Fall folgt daraus, dass der auf den Zeitraum bis zum 18.5.2021 entfallende Entgeltanspruch der Kl trotz Außerkrafttretens der Sonderregel des § 1155 Abs 3 ABGB mit 31.12.2020 im Ergebnis zu Recht durch die Vorinstanzen gem § 1155 Abs 1 ABGB zuerkannt wurde. Dass die ausländische Kl im maßgeblichen Zeitraum keine Beschäftigungsbewilligung hatte, schadet nicht (§ 29 Abs 1 AuslBG). [...]

ANMERKUNG
1.

Nach und nach werden auch die durch die Corona- Pandemie aufgeworfenen Rechtsprobleme aufgearbeitet. In arbeitsrechtlicher Hinsicht war wohl eines der größten Fragezeichen, inwieweit das Entgeltrisiko für wegen pandemiebedingter Betriebsschließungen bzw Betretungsverbote unterbliebene Arbeitsleistungen von den AN oder doch – die grundsätzlich Leistungsbereitschaft ersterer vorausgesetzt – von den AG zu tragen ist. Die vorliegende E bringt dazu einige deutliche – und zutreffende – Antworten und klärt damit zumindest einige strittige Fragen zu § 1155 ABGB.

Die erste betrifft den grundsätzlichen Anwendungsbereich dieser Bestimmung im Hinblick darauf, was „Umstände, die auf Seite des Dienstgebers liegen“ sind. Der dazu seit langem bestehende Theorienstreit dürfte nun endgültig entschieden sein. In der Tat sprechen die wesentlich besseren Gründe für den „lokalisierenden“ Ansatz und damit gegen die daneben vertretene, diesen aber einschränkende „Zurechnungs-“ bzw „Einflusstheorie“: Wie der OGH (in Rz 40) überzeugend betont, kann angesichts des Wortlauts („liegen“) und der vom historischen Gesetzgeber bewusst gewählten Ausgestaltung als Erfüllungs- und nicht Schadenersatzanspruch die Frage der Beeinflussbarkeit bzw Beherrschbarkeit des Risikos durch den/die AG keine Rolle spielen. Dies gilt umso mehr, als anders als bei der AN-Seite insb in § 1154b Abs 5 395 ABGB oder § 8 Abs 3 AngG nicht auf ein Verschulden an der Dienstverhinderung abgestellt wird. Die subjektive Vorwerfbarkeit bzw die Zurechenbarkeit zum/zu der AG wird vielmehr nur insofern beachtlich sein, als bei deren Vorliegen jedenfalls ein Umstand auf AG-Seite anzunehmen ist.

2.

Abgesehen davon, dass dieses Verständnis für die Beurteilung der Entgeltansprüche von nicht streikenden – und arbeitsbereiten – AN im Arbeitskampf ebenfalls von wesentlicher Bedeutung ist (was aber erst auf einer anderen Ebene näher ausgeführt werden soll), folgt aus dem lokalisierenden Ansatz, dass nicht nur Zufälle, sondern auch Fälle höherer Gewalt grundsätzlich auf Seite des/der AG liegen. Das wird vom OGH in der vorliegenden E ebenso bekräftigt (vgl die Rz 31 bzw 41).

Das Höchstgericht hält aber auch weiter daran fest – und das ist die zweite grundsätzliche Aussage dieser E –, dass es Fälle höherer Gewalt gibt, die – wohlgemerkt nur – „in Ausnahmesituationen“ (Rz 41) nicht der AG-Sphäre zugerechnet werden können. Dabei wird offengelassen, warum das so sein soll. Offenbar „sicherheitshalber“ wird – unter Berufung insb auf Rebhahn (vgl nur dessen nach wie vor grundlegenden Ausführungen in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 [2018] § 1155 ABGB Rz 33) – auf die Lehre von der Geschäftsgrundlage bzw den Gedanken verwiesen, dass Störungen, welche auch die Allgemeinheit betreffen, nicht mehr Gegenstand einer Norm sind, welche – wie eben § 1155 ABGB – die Risiken der beiden Vertragspartner verteilt. Das greift aber insofern zu kurz, als „außerordentliche Zufälle“ etwa iSd § 1104 ABGB nach dessen § 1447 zur Aufhebung der wechselseitigen Verbindlichkeiten führen. Das würde im Arbeitsverhältnis allerdings bedeuten, dass der/die AG kein Entgelt mehr zahlen und der/ die AN die Arbeitskraft nicht mehr zur Verfügung stellen muss, womit das Entgeltrisiko dann aber auf AN-Seite liegt, wovor § 1155 die AN freilich gerade schützen soll (zutr Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger [Hrsg], ABGB4 [Stand 1.8.2022, rdb.at] § 1155 Rz 42).

Der wohl entscheidende Gesichtspunkt liegt vielmehr darin, ob eine Vertragserfüllung nicht nur im konkreten Fall (auf beiden Seiten der Arbeitsvertragsparteien), sondern generell nicht mehr möglich ist, weil das betreffende Ereignis die Allgemeinheit betroffen hat. Bei umfassenden Elementarereignissen, plakativ oft als „allgemeine Kalamitäten“ bezeichnet, scheitert der Anspruch nach § 1155 ABGB bereits daran, dass der/die AN sich nicht nur in concreto nicht leistungsbereit erklären kann, sondern dass dies gleichsam strukturell, weil auch für all seine/ihre Kolleg*innen ausgeschlossen ist. Vor diesem Hintergrund bedarf es tatsächlich nicht der Kreation einer „neutralen Sphäre“, die nichts zur Problemlösung beiträgt (so bereits Rebhahn in ZellKomm3 § 1155 ABGB Rz 30) und dogmatisch nicht fundiert werden kann (vgl neben den in Rn 37 der E angeführten Autor*innen insb auch Pfeil in Schwimann/Kodek [Hrsg], ABGB Bd 75 [2021] § 1155 Rz 14a mwN).

3.

Der OGH hat sich in der vorliegenden E von der „neutralen Sphäre“ nicht verabschiedet. Er musste dies aber auch nicht tun, weil er im konkreten Fall bereits das Vorliegen (der – wie er zu Recht betont – Ausnahme) einer allgemeinen Kalamität verneinen konnte. Das ist der dritte bemerkenswerte Aspekt des Urteils, der aber eigentlich nicht überraschen durfte. In seinen Rz 36 und 42 werden die zentralen Argumente dafür zusammengefasst wiedergegeben. Dabei fallen die den AG vielfach verbleibenden Dispositionsmöglichkeiten und der Umstand, dass die Einschränkung der Betätigungsmöglichkeiten „nur“ auf – zwar sehr breit ansetzende, aber eben nur Betretungsverbote beinhaltende – behördliche Anordnungen zurückgegangen sind, die sich durchaus unterschiedlich ausgewirkt haben, wohl am stärksten ins Gewicht. Darüber hinaus sollte nicht vergessen werden, dass sehr großzügige Kurzarbeitsmodelle ausgerollt wurden, die das Entgeltrisiko der AG zu einem großen Teil aufgefangen haben – und, wie der Sachverhaltsschilderung zu entnehmen ist, auch von der Bekl im vorliegenden Fall genutzt wurden.

4.

Damit bleibt – als vierter Aspekt – die inzwischen zunächst nur mehr historisch bedeutsame Frage, ob die Ergänzung des § 1155 ABGB um die Abs 3 und 4 erforderlich gewesen wäre. Der OGH hat sich auch hier der schon bisher überwiegend vertretenen Auffassung angeschlossen, dass es sich bei diesem zeitlich befristeten und dann auch nicht mehr verlängerten (vgl § 1503 Abs 15 ABGB) Eingriff lediglich um eine Klarstellung gehandelt hat (vgl nur die instruktive Zusammenschau bei Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger [Hrsg], ABGB4 [Stand 1.8.2022, rdb.at] § 1155 Rz 78 ff). Dadurch sollte eine rasche und plausible Antwort auf Fragen geboten werden, die im Frühjahr 2020 durch bisher für AG wie für AN, die politisch Verantwortlichen, ja die gesamte Gesellschaft unbekannte und überaus herausfordernde Umstände aufgetaucht sind.

Das war in der damaligen Situation verständlich und insofern wohl auch richtig. Daraus konnte und kann aber nicht der Umkehrschluss gezogen werden, dass nach Wegfall dieser Klarstellungen bei durch behördliche Maßnahmen induzierten Betriebsschließungen jedenfalls eine Dienstverhinderung aus „höherer Gewalt“ anzunehmen (gewesen) wäre, die nicht auf AG-Seite liegend anzusehen (gewesen) wäre.

5.

Insgesamt ist der vorliegenden E daher im Ergebnis wie in der Begründung zuzustimmen. Dies gilt umso mehr, als sich der OGH – wie dies bei seinen arbeitsrechtlichen Senaten erfreulicherweise meist der Fall ist – einlässlich und sorgfältig mit dem einschlägigen und hier besonders kontroversen Schrifttum auseinandergesetzt hat. Vor allem hat das Höchstgericht damit das (auch in dieser Zeitschrift gerade in Corona-Zeiten immer wieder betonte [vgl nur Felten/Pfeil, Arbeitsrechtliche Auswirkungen der COVID-19-Gesetze – ausgewählte Probleme, DRdA 2020, 295, insb 310 f]) Postulat bestätigt, dass selbst in Ausnahmesituationen die Grundsätze und wesentlichen Wertungen der (hier Arbeits-)Rechtsordnung nicht ohne Not aufgegeben werden dürfen. 396