32Ukrainische Kriegsvertriebene haben Anspruch auf Pflegegeld
Ukrainische Kriegsvertriebene haben Anspruch auf Pflegegeld
Die Aufzählung der Personen mit besonderen Bedürfnissen in Art 13 Abs 4 VertriebenenRL (RL 2001/55/EG) ist demonstrativ ausgestaltet („beispielsweise“). Personen mit Pflegebedarf sind daher unter diesen Begriff zu subsumieren.
Ukrainische Kriegsvertriebene, die ein Aufenthaltsrecht aufgrund dieser RL haben, haben daher bei Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen Anspruch auf Pflegegeld, weil sich eine Gleichstellung mit österreichischen Staatsbürger:innen aus dem Unionsrecht ergibt.
[1] Die in der Ukraine geborene Kl kam am 28.3.2022 „aus dem ukrainischen Kriegsgebiet“ nach Österreich. Sie und ihre Mutter verfügen über einen vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ausgestellten Ausweis für Vertriebene.
[2] Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Frage, ob sie zum Kreis der – bei Erfüllung der übrigen Voraussetzungen – anspruchsberechtigten Personen nach § 3a Abs 2 BPGG gehört.
[3] Mit Bescheid vom 22.6.2022 wies die bekl Pensionsversicherungsanstalt den Antrag der Kl vom 29.4.2022 auf Gewährung von Pflegegeld mit Verweis auf den von §§ 3, 3a BPGG erfassten Personenkreis ab.
[4] In ihrer dagegen erhobenen Klage bringt die Kl vor, sie sei hinsichtlich ihres Anspruchs auf Pflegegeld österreichischen Staatsbürgern gleichgestellt.
[5] Die Bekl beantragte die Klageabweisung. [...]
[6] Das Erstgericht wies die Klage ab.
[7] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Kl nicht Folge.
[...]
[13] Die Revision der Kl ist aus dem vom Berufungsgericht angeführten Grund zulässig, sie ist auch berechtigt.
[14] 1.1. § 3a Abs 1 BPGG gewährt Anspruch auf Pflegegeld auch ohne Grundleistung für österreichische Staatsbürger, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben.
[15] Nach § 3a Abs 2 BPGG sind den österreichischen Staatsbürgern (soweit im vorliegenden Fall relevant) gleichgestellt: Z 1: Fremde, die nicht unter eine der folgenden Ziffern fallen, insoweit sich eine Gleichstellung aus Staatsverträgen oder Unionsrecht ergibt [...].
[...]
[18] 1.3. Zu betrachten sind im vorliegenden Fall [...] die MassenzustromRL iVm dem iSd Art 5 MassenzustromRL ergangenen Durchführungsbeschluss 2022/382/EU des Rates vom 4.3.2022 [...] (künftig: Durchführungsbeschluss des Rates) sowie die RL 2011/95/EU [...] (künftig: StatusRL), durch die die vom Berufungsgericht herangezogene StatusRL aF (RL 2004/83/EG) aufgehoben und neu gefasst wurde [...].
[...]
[20] Kern der MassenzustromRL ist die Gewährung vorübergehenden Schutzes iS ihres Art 2 lit a. Nach dieser Legaldefinition bezeichnet der Ausdruck „vorübergehender Schutz“ ein ausnahmehalber durchzuführendes Verfahren, das im Falle eines Massenzustroms oder eines bevorstehenden Massenzustroms von Vertriebenen aus Drittländern, die nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können, diesen Personen sofortigen, vorübergehenden Schutz garantiert [...].
[21] 2.2. Der Inhalt des vorübergehenden Schutzes ergibt sich aus Kapitel III der MassenzustromRL [...]. Vorgesehen sind [...] soziale Rechte im Bereich der Wohnversorgung, Sozialleistungen und medizinischen Versorgung (Art 13, dazu unten) [...].
[22] 2.3. Der von der MassenzustromRL erfasste Personenkreis ist nicht in der RL selbst geregelt. Nach Art 5 Abs 1 MassenzustromRL wird das Vorliegen eines Massenzustroms vielmehr durch einen Beschluss des Rates festgestellt. [...]
[23] Am 4.3.2023 fasste der Rat den hier gegenständlichen Durchführungsbeschluss nach Art 5 Abs 1 MassenzustromRL [...].
[24] Nach Art 2 Abs 1 lit a des Durchführungsbeschlusses gilt der vorübergehende Schutz für ukrainische Staatsangehörige, die vor dem 24.2.2022 ihren Aufenthalt in der Ukraine hatten und am oder nach dem 24.2.2022 infolge der militärischen Invasion der russischen Streitkräfte, die an diesem Tag begann, aus der Ukraine vertrieben wurden.
[25] Die Kl ist von dieser Personengruppe unstrittig erfasst.
[26] 2.4. Die MassenzustromRL findet ihre österreichische Entsprechung im Bereich des Aufenthaltsrechts in § 62 AsylG und der darin (Abs 1) enthaltenen Verordnungsermächtigung [...]. Auf dieser Grundlage wurde die Verordnung der Bundesregierung über ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht für aus der Ukraine Vertriebene (VertriebenenV, BGBl II 2022/92idF BGBl II 2023/27) erlassen, die ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht bis (derzeit) 4.3.2024 gewährt.
[...]
[28] 2.5. Das Berufungsgericht ging davon aus, dass die Kl als Vertriebene nicht vom Anwendungsbereich der StatusRL erfasst sei, weil (ausschließlich) die MassenzustromRL zur Anwendung komme.
[29] Diese Rechtsansicht war für seine Entscheidung deshalb von Bedeutung, weil die Rsp Personen, 369 denen zuvor gem § 8 AsylG der Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden war, auf der Grundlage von Artt 28, 29 StatusRL aF (RL 2004/83/EG) und Artt 29, 30 StatusRL 2011/95/ EU als vom Personenkreis des § 3a Abs 2 Z 1 BPGG erfasst beurteilt. Diese Personen haben daher bei Erfüllung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen einen Anspruch auf Pflegegeld (10 ObS 153/13t SSV-NF 27/87 [ErwGr 5]; 10 ObS 161/13v [ErwGr 5] DRdA 2014/44, 435 [Windisch-Graetz/Mrvosevic]; 10 ObS 1/14s [ErwGr 5]; vgl 10 ObS 3/14k).
[...]
[32] [...] Nach Art 30 StatusRL haben die Mitgliedstaaten zugunsten von Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt wurde, für den Zugang zu medizinischer Versorgung zu denselben Bedingungen wie die eigenen Staatsangehörigen Sorge zu tragen. Nach Art 29 Abs 2 StatusRL aF bestand auch in diesem Bereich die Möglichkeit der Einschränkung auf Kernleistungen gegenüber Personen, denen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt wurde; diese Möglichkeit ist mit der Neufassung der StatusRL entfallen.
[33] 2.7. Zum Verhältnis der StatusRL zur MassenzustromRL ist klarzustellen, dass der vorübergehende Schutz nach der MassenzustromRL nicht die Anerkennung des Flüchtlingsstatus iSd Genfer Flüchtlingskonvention berührt (Art 3 MassenzustromRL). [...] Nach Art 17 Abs 1 MassenzustromRL ist zu gewährleisten, dass Personen, die vorübergehenden Schutz nach der MassenzustromRL genießen, jederzeit einen Asylantrag stellen können.
[34] Aus all dem folgt, dass von der MassenzustromRL erfasste Personen bei Erfüllung der materiellen Voraussetzungen auch die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (im österreichischen Recht gem § 8 AsylG) erlangen können. [...]
[35] 2.8. Allerdings gelten die in Artt 28, 29 StatusRL normierten Rechte nur für Personen, denen aufgrund des materiellen Vorliegens der einen oder anderen Schutzform (als Flüchtling oder Person mit Anspruch auf subsidiären Schutz) internationaler Schutz zuerkannt, denen also ein Status verliehen wurde [...]. Die weiteren Rechte knüpfen demnach nicht nur hinsichtlich der subsidiär Schutzberechtigten, sondern auch hinsichtlich der Konventionsflüchtlinge an die Zuerkennung eines Status an, auch wenn die Zuerkennung des Flüchtlingsstatus aufgrund der Vorgaben der Genfer Flüchtlingskonvention nur deklarativ erfolgt (vgl ErwGr 21 StatusRL).
[36] 2.9. Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Akteninhalt keine Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten gem § 8 AsylG an die Kl.
[37] Die Frage der Erforderlichkeit einer förmlichen Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus muss im vorliegenden Fall allerdings nicht näher erörtert werden, weil die Einbeziehung der Kl in den Personenkreis gem § 3a Abs 2 Z 1 BPGG bereits aus der MassenzustromRL zu gewinnen ist.
3.1. Art 13 MassenzustromRL lautet: [...]
„Abs 2: Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die Personen, die vorübergehenden Schutz genießen, die notwendige Hilfe in Form von Sozialleistungen und Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts sowie im Hinblick auf die medizinische Versorgung erhalten, sofern sie nicht über ausreichende Mittel verfügen. Unbeschadet des Absatzes 4 umfasst die notwendige Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung mindestens die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten. [...]Abs 4: Die Mitgliedstaaten gewähren Personen, die vorübergehenden Schutz genießen und besondere Bedürfnisse haben, beispielsweise unbegleitete Minderjährige oder Personen, die Opfer von Folter, Vergewaltigung oder sonstigen schwerwiegenden Formen psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalt geworden sind, die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe.“
[38] Nach ErwGr 15 MassenzustromRL sollen die Verpflichtungen der Mitgliedstaaten im Hinblick auf die Aufnahme und den Aufenthalt von Personen, die im Fall eines Massenzustroms von Vertriebenen durch den vorübergehenden Schutz begünstigt werden, „angemessen sein und den betreffenden Personen ein adäquates Schutzniveau bieten
“.
[39] 3.2. Das Berufungsgericht erachtete im vorliegenden Fall die „notwendige Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung
“ gem Art 13 Abs 2 MassenzustromRL als einschlägig. Das Pflegegeld sah es als von der Verpflichtung des Schutz gewährenden Mitgliedstaats nicht erfasst an, weil die notwendige Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung – als Mindeststandard – nur die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten zu umfassen hat (Art 13 Abs 2 Satz 2 MassenzustromRL), worunter es das Pflegegeld nicht subsumierte. Auch von der „erforderlichen medizinischen oder sonstigen Hilfe
“ gem Art 13 Abs 4 MassenzustromRL sah es das Pflegegeld nicht als erfasst an.
[40] 3.3. Es trifft zu, dass der EuGH in den Rs Jauch (EuGHC-215/99 vom 8.3.2001) und Hosse (C-286/03 vom 21.2.2006) [...] Pflegegeld unter die Kategorie der Leistungen bei Krankheit iSd damals noch geltenden WanderarbeitnehmerVO (EWG) 1408/71 (aktuell VO 883/2004) einreihte. Diese Auslegung erfolgte ausgehend von den in Art 4 Abs 1 VO 1408/71 (aktuell Art 3 Abs 1 VO 883/2004) aufgezählten Zweigen der sozialen Sicherheit. Daraus ist aber noch nicht zwingend abzuleiten, dass das Pflegegeld bei der Auslegung anderer Unionsrechtsakte, die nicht der Sozialrechtskoordinierung, sondern der Festlegung bestimmter Leistungspflichten dienen, die anders als nach dem Zweig der sozialen Sicherheit, dem sie zugehören, umschrieben sind, zwingend als „medizinische Versorgung“ (vgl Art 13 Abs 2 MassenzustromRL) im Gegensatz zu anders definierten Kategorien von Leistungen zu qualifizieren wäre.
[...]
[42] 3.4. Im vorliegenden Fall kommt es aber gar nicht darauf an, ob das Pflegegeld von der „notwendige[n] Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung
“ oder der „notwendige[n] Hilfe in Form von Sozialleistungen
“ gem Art 13 Abs 2 MassenzustromRL erfasst ist, weil Art 13 Abs 4 MassenzustromRL eine Sonderregelung für Personen 370 enthält, die vorübergehenden Schutz genießen und besondere Bedürfnisse haben: Diese Personen haben nach Art 13 Abs 4 MassenzustromRL einen Anspruch auf „die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe
“, die nach der ausdrücklichen Anordnung des Art 13 Abs 2 Satz 2 MassenzustromRL jedenfalls über den Mindeststandard der „notwendige[n] Hilfe im Hinblick auf die medizinische Versorgung
“ hinausgeht.
[43] 3.5. Die Aufzählung der Personen mit besonderen Bedürfnissen in Art 13 Abs 4 MassenzustromRL ist demonstrativ ausgestaltet („beispielsweise“). Sie unterstellt den darin aufgezählten Personengruppen – unbegleiteten Minderjährigen sowie Personen, die besondere Formen von Gewalt erlebt haben – typisiert einen gesteigerten Hilfsbedarf. Ein besonderer Hilfsbedarf besteht aber – unabhängig von den diesem Bedarf zugrunde liegenden Gründen – auch bei Personen, die aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung oder einer Sinnesbehinderung einen ständigen Betreuungs- und Hilfsbedarf (Pflegebedarf) iSd § 4 Abs 1 BPGG haben. Diese Personengruppe ist daher von Art 13 Abs 4 MassenzustromRL erfasst.
[44] 3.6. Für die Beurteilung der Frage, ob es sich beim Pflegegeld um eine iSd Art 13 Abs 4 MassenzustromRL „erforderliche“ Hilfe handelt, ist auf die Wertungen zurückzugreifen, die der Rsp zur Einbeziehung von subsidiär Schutzberechtigten in den anspruchsberechtigten Personenkreis gem § 3a BPGG zugrunde liegen (10 ObS 153/13t SSV-NF 27/87; 10 ObS 161/13vDRdA 2014/44, 435 [Windisch-Graetz/Mrvosevic]; 10 ObS 1/14s; 10 ObS 3/14k). Danach zählt das Pflegegeld zu den „Kernleistungen“ bei Krankheit iSd Art 29 Abs 2 StatusRL aF (RL 2004/83/EG).
[45] Diese Wertung als „Kernleistung“ ist auch ausschlaggebend dafür, das Pflegegeld im vorliegenden Zusammenhang als Leistung anzusehen, die für die Gruppe der pflegebedürftigen Personen als „erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe
“ iSd Art 13 Abs 4 MassenzustromRL zu qualifizieren ist. [46] 3.7. Dies gebietet eine Auslegung des § 3a Abs 2 Z 1 BPGG, die dem durch das Unionsrecht gebotenen Ergebnis gerecht wird; die definierte Personengruppe ist daher im Hinblick auf den Anspruch auf Pflegegeld aufgrund unionsrechtlicher Erwägungen den österreichischen Staatsbürgern gleichzustellen.
[...]
[48] 4.1. Ergebnis: Personen, die vorübergehenden Schutz nach der MassenzustromRL genießen, zählen zu dem gem § 3a Abs 2 Z 1 BPGG erfassten Personenkreis und haben daher bei Erfüllung der übrigen Anspruchsvoraussetzungen einen Anspruch auf Pflegegeld. [...]
Seit 24.2.2022 führt Russland einen verheerenden Angriffskrieg gegen die Ukraine. Die EU aktivierte die „Vertriebenen-Richtlinie“ (der OGH verwendet den Begriff „MassenzustromRL; RL 2001/55/EG vom 20.7.2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen [...] auf die Mitgliedstaaten, ABl L 2001/212, Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 vom 4.3.2022 zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms von Vertriebenen aus der Ukraine iSd Art 5 der RL 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes, ABl L 2022/71). In Österreich wurde diese durch die VertriebenenVO (BGBl II 2022/92 idF BGBl II 2023/27) umgesetzt. Staatsbürger:innen der Ukraine, die aufgrund des bewaffneten Konfliktes ab dem 24.2.2022 vertrieben wurden, haben nach ihrer Einreise gem § 1 VertriebenenVO ex lege ein vorübergehendes Aufenthaltsrecht in Österreich bis 5.3.2025. Dieses muss nicht von der Behörde erteilt werden. Ukrainische Staatsbürger:innen (wie oben beschrieben) erhalten eine „Karte für Vertriebene“. Diese ist aber nur deklarativ, dokumentiert also nur das bestehende Recht.
Die sozialen Rechte für diese Personengruppe haben sich schrittweise weiterentwickelt: Zunächst benötigten Ukrainer:innen zur Arbeitsaufnahme eine Beschäftigungsbewilligung, die aber in der Verwaltungspraxis ohne Arbeitsmarktprüfung erteilt wurde. Seit 21.4.2023 haben sie gem § 1 Abs 2 lit k AuslBG freien Zugang zum Arbeitsmarkt. Weiters haben Ukrainer:innen seit März 2022 Anspruch auf Familienbeihilfe (§ 3 Abs 7 Familienlastenausgleichsgesetz) und Kinderbetreuungsgeld (§ 2 Abs 1 Z 5 lit d KBGG). Weiterhin haben ukrainische Kriegsvertriebene keinen Anspruch auf Sozialhilfe bzw Mindestsicherung, sie erhalten lediglich Leistungen aus der Grundversorgung (Art 2 Abs 1 Z 3 Grundversorgungsvereinbarung – Art 15 B-VG). Bis zum gegenständlichen Urteil des OGH konnten Ukrainer:innen auch kein Pflegegeld nach dem BPGG (Bundesgesetz, mit dem ein Pflegegeld eingeführt wird, Bundespflegegeldgesetz, BGBl 1993/210idF BGBl I 2023/170) beziehen.
Der Anspruch auf Pflegegeld für Personen ohne österreichische Staatsbürger:innenschaft ist sehr restriktiv geregelt: Im Wesentlichen haben gem § 3a BPGG nur jene Personengruppen Anspruch, die aus europa- oder völkerrechtlichen Gründen zwingend anspruchsberechtigt sein müssen. Im Einzelnen sind das Asylberechtigte, subsidiär Schutzberechtigte (diese sind nicht in § 3a BPGG genannt, aber nach der Judikatur des OGH [siehe unten Pkt 3.] anspruchsberechtigt), aufenthaltsberechtigte Unionsbürger:innen und deren Familienangehörige bzw Drittstaatsangehörige, wenn sie über einen der in Z 4 taxativ aufgezählten Aufenthaltstitel verfügen. Der Argumentation, dass diese Aufzählung nicht taxativ sein könne, da sonst § 3a Abs 3 BPGG, der bestimmte Personengruppen wie Asylwerber:innen explizit von der Anspruchs- 371 berechtigung ausschließt, keinen Anwendungsbereich habe, ist der OGH zumindest bislang nicht gefolgt.
Außerdem haben gem § 3a Abs 2 Z 1 BPGG jene Personen Anspruch auf Pflegegeld, die nicht unter Z 2 – 4 leg cit fallen, insoweit sich eine Gleichstellung aus Staatsverträgen oder Unionsrecht ergibt. Der OGH hat im vorliegenden Urteil ausschließlich geprüft (und letztlich bejaht), ob eine Gleichstellung von ukrainischen Vertriebenen aus unionsrechtlichen Gründen nötig ist.
Gem Art 13 Abs 2 RL 2001/55/EG müssen die Mitgliedstaaten Personen, die vorübergehenden Schutz genießen, ua die notwendige Hilfe im Hinblick auf medizinische Versorgung gewähren, wenn diese nicht über ausreichende Mittel verfügen. Diese medizinische Versorgung umfasst grundsätzlich mindestens die Notversorgung und die unbedingt erforderliche Behandlung von Krankheiten. Gem Abs 4 leg cit gewähren die Mitgliedstaaten Personen, die besondere Bedürfnisse haben, beispielsweise unbegleiteten Minderjährige oder Personen, die Opfer von Folter, Vergewaltigung oder sonstigen schwerwiegenden Formen psychischer, körperlicher oder sexueller Gewalt geworden sind, die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe.
Zunächst prüft der OGH, ob seine vorangegangene Judikatur zur Anspruchsberechtigung auf Pflegegeld von subsidiär Schutzberechtigten auf Vertriebene umlegbar ist. Der Gerichtshof hat nämlich subsidiär Schutzberechtigte, die in der Aufzählung des § 3a BPGG nicht explizit genannt sind, aufgrund Art 29 f Art RL 2011/95/EG als vom Personenkreis des § 3a Abs 2 Z 1 BPGG erfasst beurteilt (OGH 17.12.2013, 10 ObS 153/13t). Der OGH kommt aber zum Ergebnis, dass mangels Erteilung des Status als subsidiär Schutzberechtigte diese Judikatur nicht unmittelbar angewendet werden kann. Der OGH lässt sich allerdings insofern eine „Hintertür“ offen, als er nicht ausschließt, dass eine förmliche Zuerkennung des Status als subsidiär Schutzberechtigte für die Zuerkennung von sozialen Rechten gem Art 29 f RL 2011/95/EG nicht zwingend nötig sein könnte (Rn 37 des Urteils).
Der OGH anerkennt aber, dass pflegebedürftige Personen unter Art 13 Abs 4 RL 2001/55/EG fallen: Demnach gewähren Mitgliedstaaten Personen, die besondere Bedürfnisse haben, die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe. Der OGH sieht Personen mit Pflegebedarf als von diesem Begriff umfasst an, da die Aufzählung in Art 13 Abs 4 RL 201/55/RG explizit demonstrativer Natur sei. Die erforderliche medizinische oder sonstige Hilfe in diesem Fall umfasst auch die Zuerkennung des Pflegegeldes im Bedarfsfall (Rn 43 des Urteils).
In dieser Einordung sieht der OGH zutreffend keinen Widerspruch zur Judikatur des EuGH, nach der Pflegegeld für die Zwecke der Sozialrechtskoordinierung als Leistung bei Krankheit (iSd Art 3 VO 883/2004) zu qualifizieren ist. Denn zum einen muss diese Wertung bei der Auslegung anderer Unionsrechtsakte, die nicht der Sozialrechtskoordinierung dienen, nicht die exakt gleiche sein, zum anderen (ohne dass dies der OGH explizit anführt) könnte Art 13 Abs 4 sich auch auf besondere Bedürfnisse aufgrund Krankheit beziehen.
Somit sind ukrainische Kriegsvertriebene von § 3a Abs 2 Z 1 BPGG erfasst, da Personen mit Pflegebedarf gem Art 13 Abs 4 die erforderliche Hilfe zu gewähren ist und sich eine Gleichstellung daher aus Unionsrecht ergibt. Diese Einordnung der Anspruchsberechtigung gem § 3a Abs 2 Z 1 BPGG ist auch deshalb nötig, weil eine unmittelbare Anwendung von Art 13 Abs 4 RL 2001/55/EG (wie sie Windisch-Graetz/Mrosevic im Fall der Einbeziehung von subsidiär Schutzberechtigten gem Art 29 f RL 201195/EG vertreten, vgl Windisch-Graetz/Mrosevic, Anspruch auf Pflegegeld für subsidiär Schutzberechtigte, zu OGH10 ObS 161/13vDRdA 2014, 435) wohl mangels hinreichender Bestimmtheit von Art 13 Abs 4 RL 2001/55/EG nicht möglich wäre.
Mit diesem Urteil des OGH ist sichergestellt, dass ukrainische Vertriebene Anspruch auf Pflegegeld haben, solange sie über den Status als Vertriebene verfügen. Dieser Status ist aktuell bis 4.3.2025 befristet, da gem Art 1 Durchführungsbeschluss (EU) 2023/2409 der vorübergehende Schutz für Vertriebene aus der Ukraine bis zum 4.3.2025 verlängert wurde (vgl innerstaatlich § 4 Abs 2 VertriebenenVO).
Da Anspruch auf Pflegegeld oft nicht nur kurzfristig besteht, sondern die Notwendigkeit durchaus längerfristig bzw dauerhaft bestehen kann, stellt sich die Frage, was nach 4.3.2025 gilt: Gem Art 4 RL 2001/55/EG beträgt die Höchstdauer des Schutzes insgesamt drei Jahre. Für eine Annahme eines längeren Höchstzeitraumes gibt es mE keinen Anhaltspunkt in der RL. Damit endet mit 4.3.2025 die Aktivierung der VertriebenenRL und auch grundsätzlich die Anspruchsberechtigung auf Pflegegeld von Kriegsvertriebenen aufgrund Art 13 Abs 4 RL 2001/55/EG. An diesem Ergebnis würde auch eine bloß innerstaatliche Weitergeltung der VertriebenenVO nichts ändern, da der OGH den Anspruch auf Pflegegeld für Vertriebene explizit auf die VertriebenenRL stützt. Allerdings könnte auch eine Überführung in das „reguläre Aufenthaltsrecht“ diesbezüglich keine Abhilfe schaffen, da Personen mit befristetem Aufenthaltsrecht (zB „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“) gem § 3a Abs 2 Z 4 BPGG nicht anspruchsberechtigt sind.
Ob der Entzug eines zuerkannten Pflegegeldes gem § 9 Abs 3 BPGG bzw allenfalls auch eine Zuerkennung nach 4.3.2025 möglich ist, ist derzeit nicht gänzlich klar. Der EuGH hat anerkannt, dass türkische Staatsbürger:innen, die Rechte aus dem Assoziationsabkommen EWG-Türkei ableiten können, diese Rechte nicht verlieren, wenn sie die Staatsbürger:innenschaft des Aufnahmemitgliedstaates erwerben (EuGH 21.10.2002, C-720/19, GR, Rn 27). Genauso wenig können Rechte von Unionsbürger:innen, die in anderen Mitgliedstaaten 372 leben, durch Annahme der Staatsbürger:innenschaft des Aufnahmemitgliedstaates ihre Rechte aus der Unionsbürger:innenRL verlieren (EuGH 21.12.2023, C-488/21, GV, Rn 45). Es wäre also denkbar, dass auch ukrainische Vertriebene, die in das reguläre Aufenthaltsrecht „übergeführt“ werden, ihre Rechte als Vertriebene nicht verlieren können. Gegen diese Annahme spricht aber, dass der Vertriebenenstatus inklusive der verbundenen Rechte von vornherein als zeitlich begrenztes Recht ausgestaltet ist. Somit bleibt unklar, ob bzw auf welcher Grundlage ein Pflegegeldbezug von Ukrainer:innen nach möglicher Erteilung eines anderen Aufenthaltsrechts weiter möglich sein wird. Aktuell gibt es keine Rechtsgrundlage (und soweit ersichtlich auch keinen diesbezüglichen Entwurf), ukrainischen Vertriebenen nach Auslaufen des vorübergehenden Schutzes nach der VertriebenenRL ein weiteres Aufenthaltsrecht etwa nach dem Niederlassungsund Aufenthaltsgesetz (NAG) zu erteilen. Für die Rechtssicherheit von ukrainischen Vertriebenen mit Pflegebedarf wäre dies aber dringend nötig.