Praxisrelevante Auslegungsfragen für eine zeitnahe Gewährung von Kinderbetreuungsgeld im Anwendungsbereich der Koordinierungsverordnung*
Praxisrelevante Auslegungsfragen für eine zeitnahe Gewährung von Kinderbetreuungsgeld im Anwendungsbereich der Koordinierungsverordnung*
Das Kinderbetreuungsgeldgesetz* (KBGG) umfasst rund 50 Paragrafen. Dennoch, die hohe Zahl an höchstgerichtlichen Entscheidungen* zeigt immer wieder die Komplexität des KBGG. Es besteht Interpretationsbedarf insb im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004, also immer dann, wenn Eltern aus ihrem Recht auf AN-Freizügigkeit im EU-Raum Gebrauch machen. Wie auch aus den Jahresberichten der Volksanwaltschaft* 273ersichtlich ist, führt die Auslegungspraxis der Entscheidungsträger:innen* oftmals zur Ablehnung ihrer eigenen Leistungszuständigkeit und somit zur monate- wenn nicht jahrelangen Leistungsverwehrung, aber auch zum fehlenden Krankenversicherungsschutz oder zu unüberwindbaren bürokratischen Hürden für die Antragsteller:innen. Der Beitrag widmet sich daher wiederkehrenden Auslegungsfragen zum KBGG im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 unter Berücksichtigung der OGH-Judikatur und Literatur.
In der Beratung und Gerichtsvertretung zum Kinderbetreuungsgeld mit grenzübergreifenden Sachverhalten ist immer wieder zu vernehmen, dass die Frage der Anwendbarkeit der Koordinierungs-VO 883/2004 bereits im Verwaltungsverfahren der Krankenversicherungsträger widersprüchlich ist. Die Anwendbarkeit als Vorfrage ist anhand der Regelungen der VO (EG) 883/2004 zu prüfen und zu beantworten. Erst wenn der persönliche und der sachliche Geltungsbereich der VO (EG) 883/2004 eröffnet sind, ist das anwendbare Recht zu bestimmen, um anschließend zu prüfen, ob die Regeln über die Exportverpflichtung gem Art 67 VO (EG) 883/2004 oder die Prioritäts- und Antikumulierungsregeln nach Art 68 VO (EG) 883/2004 zur Anwendung gelangen.*
Familienleistungen waren bereits in der VO 1408/71* (Art 4 Abs 1 lit h) als koordinierbare Leistungen der sozialen Sicherheit gelistet. Mit der VO (EG) 883/2004 erfolgte keine Änderung des sachlichen Geltungsbereiches, Familienleistungen sind weiterhin gem Art 3 lit j von der VO (EG) 883/2004 erfasst. Familienleistungen werden in Art 1 lit z VO (EG) 883/2004 definiert. Diese sind alle Sach- oder Geldleistungen zum Ausgleich von Familienlasten, mit Ausnahme von Unterhaltsvorschüssen und besonderen Geburts- und Adoptionsbeihilfen nach Anhang I. Das österreichische Kinderbetreuungsgeld ist – egal ob in der pauschalen oder in der einkommensabhängigen Variante – eine Familienleistung iSd VO (EG) 883/2004.*
Der persönliche Anwendungsbereich besteht gem Art 2 Abs 1 VO 883/2004 für Staatsangehörige eines Mitgliedstaats,* Staatenlose und Flüchtlinge mit Wohnort in einem Mitgliedstaat, für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten, sowie für ihre Familienangehörigen und Hinterbliebenen. Im Gegensatz zur Vorgängerbestimmung VO 1408/71 ist nicht mehr entscheidend, dass die betreffende Person eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt oder Studierender oder Pensionist ist. Auch wirtschaftlich inaktive Personen, die über die Unionsbürgerschaft verfügen und ihren Wohnsitz in einem Mitgliedstaat haben, sind erfasst.*
Für die Anwendung der Verordnung auf eine Person ist auf jeden Fall ein grenzüberschreitendes Element erforderlich. Dieses besteht darin, dass Personen, Sachverhalte oder Begehren eine rechtliche Beziehung zu einem anderen Mitgliedstaat aufweisen. Diese Umstände können laut Judikatur in der Staatsangehörigkeit, dem Wohn- oder Beschäftigungsort, dem Ort eines die Leistungspflicht auslösenden Ereignisses, einer vormaligen Arbeitstätigkeit unter dem Recht eines anderen Mitgliedstaats oder ähnlichen Merkmalen gesehen werden.* Rein innerstaatliche Sachverhalte fallen daher nicht in den Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004.
Sobald die Koordinierungs-VO zur Anwendung gelangt, wird das anwendbare Recht – und somit die Leistungszuständigkeit eines Mitgliedstaates – nach Art 11 Abs 3 der VO (EG) 883/2004 bestimmt.* Nach Art 11 Abs 1 VO (EG) 883/2004 unterliegen Personen, für die die Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Eine primäre Leistungszuständigkeit besteht in jenem Mitgliedstaat, in dem die antragstellende Person eine – selbständige oder unselbständige – Beschäftigung ausübt (lit a). So ist dieser Mitgliedstaat für die Erbringung und damit auch für einen etwaigen Export der Leistung in den Wohnsitzstaat nach Art 67 VO (EG) 883/2004 zuständig. Geht die Person keiner Beschäftigung oder selbständigen Erwerbstätigkeit nach und sind auch die Spezialbestimmungen der lit b bis d nicht erfüllt, sind gem Art 11 Abs 3 lit e VO (EG) 883/2004 die Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats anwendbar.
Die Definition der Beschäftigung ist daher von entscheidender Bedeutung, um die prioritäre Leistungszuständigkeit eines Mitgliedstaates zu bestimmen. 274
Der Begriff der Beschäftigung wird im Art 1 lit a der VO (EG) 883/2004 festgelegt. Demnach ist eine Beschäftigung jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt. Damit verweist Art 1 lit a auf das Sozialrecht des betreffenden Mitgliedstaats.* § 24 Abs 2 iVm Abs 3 KBGG nimmt diese nationale Definition vor* – wobei diese gleichzeitig die Festlegung der Anspruchsvoraussetzungen des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes regelt – und verursacht damit auf der Zuständigkeitsebene schwerwiegende Diskrepanzen zum Unionsrecht.
Unter Erwerbstätigkeit versteht § 24 Abs 2 KBGG die „tatsächliche Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen (kranken- und pensionsversicherungspflichtigen) Erwerbstätigkeit. Als der Ausübung einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit gleichgestellt gelten Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens 182 Kalendertage andauernden Erwerbstätigkeit während eines Beschäftigungsverbotes nach dem Mutterschutzgesetz 1979 (MSchG), BGBl. Nr. 221, oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften, sowie Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens 182 Kalendertage andauernden Erwerbstätigkeit zum Zwecke der Kindererziehung während Inanspruchnahme einer Karenz nach dem MSchG oder Väter-Karenzgesetz (VKG), BGBl. Nr. 651/1989, oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften, bis maximal zum Ablauf des zweiten Lebensjahres eines Kindes.“
„Nur bei Erfüllung der nationalen Gleichstellungserfordernisse des § 24 Abs 2 zweiter Satz liegt eine gleichgestellte Situation im Sinne des Art 68 iVm Art 1 lit a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, ABl. Nr. L 166 vom 30.04.2004 S. 1, zuletzt geändert durch die Verordnung (EU) Nr. 1372/2013, ABl. Nr. L 346 vom 20.12.2013 S. 27, vor, wobei diese der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gleichgestellte Situation für alle Eltern spätestens mit Ablauf des zweiten Lebensjahres eines Kindes endet“ (vgl § 24 Abs 3 KBGG).
Nach dem Wortlaut des § 24 Abs 2 KBGG ist eine geringfügige Tätigkeit gem § 5 Abs 2 ASVG somit keine Beschäftigung. Diese Regelung mag als Anspruchsvoraussetzung für das Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Einkommens nachvollziehbar sein. Sie widerspricht allerdings kollisionsrechtlich dem Unionsrecht. Auch der EuGH hat die AN-Eigenschaft bereits bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 5,5 Stunden und einem monatlichen Durchschnittslohn von rund € 115,- vom EuGH bejaht.* Somit erscheint die Geringfügigkeitsgrenze – eine monatliche Entlohnung unter € 518,44 (2024) – nicht als geeignetes Kriterium, um das Vorliegen einer Beschäftigung zu definieren, insb da unionsrechtlich eine AN-Eigenschaft auch bei einer geringfügigen Beschäftigung nach § 5 Abs 2 ASVG eindeutig besteht. Daher wird auch in der Literatur die unionsrechtliche Zulässigkeit der mit § 24 Abs 2 KBGG idF BGBl I 2016/53 vorgenommenen Beschränkung auf eine kranken- und pensionsversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit bezweifelt.*
Die Definition des KBGG lässt auch Art 11 Abs 2 der VO (EG) 883/2004 unberücksichtigt, welche Regelung einen Kernbereich des unionsrechtlichen Begriffs der Beschäftigung darstellt. Beim Bezug von Geldleistungen, die unter Art 11 Abs 2 der VO (EG) 883/2004 zu subsumieren sind, ist kollisionsrechtlich, unabhängig von der nationalen Systematik, von der Ausübung einer Beschäftigung auszugehen.*
Wenn Antragsteller:innen mit Wohnsitz im EU-Ausland das Dienstverhältnis über das zweite Lebensjahr des Kindes hinaus karenzieren lassen und das pauschale Kinderbetreuungsgeld dementsprechend für die maximale Bezugsdauer von 851 Tagen – somit für zwei Jahre und vier Monate – beantragen, könnte nach dem Wortlaut des KBGG eine Unzuständigkeit nach dem zweiten Lebensjahr bestehen. Diese Auslegung würde zu einer Benachteiligung aufgrund des Wohnortes führen, denn ein Leistungsbezug über das zweite Lebensjahr hinaus wäre für jene Antragsteller:innen – trotz Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen des § 2 KBGG – nie möglich. Daher widerspricht die Ablehnung der Zuständigkeit in solchen Fällen sowohl Primärrecht – insb Freizügigkeit der Unionsbürger nach Art 21 AEUV, AN-Freizügigkeit nach Art 45 AEUV und dem Diskriminierungsverbot des Art 18; Art 45 Abs 2 AEUV – als auch Sekundärrecht. Der in Art 4 VO (EG) 883/2004 niedergelegte Gleichbehandlungsgrundsatz verbietet nämlich nicht nur offenkundige Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle versteckten Formen der Diskriminierung, die durch Anwendung anderer Unterscheidungskriterien tatsächlich zum gleichen Ergebnis führen (mittelbare Diskriminierung).* Die Anwendung von Bestimmungen auf bspw Grenzgänger:innen oder Wander-AN kann zumindest dann als mittelbar diskriminierend iSd Art 4 VO (EG) 883/2004 angesehen werden, wenn die darin normierten Voraussetzungen zwar unterschiedslos gelten, aber von inländischen AN leichter zu erfüllen sind.
Im Jahr 2022 haben insgesamt 101.849 Personen das Kinderbetreuungsgeld bezogen. Der Anteil der 275Väter belief sich lediglich auf 3.439 Personen, somit auf 3,3 %.* Diese Zahl ist seit 2009 rückläufig. Aufgrund der geringen Väterbeteiligung sind Frauen gegenüber Männern von dieser Vollziehungspraxis in besonderer Weise benachteiligt. Daher lässt sich im § 24 KBGG – im Anwendungsbereich der Verordnung – gleichzeitig eine mittelbare Geschlechterdiskriminierung erkennen.
Nationale Rechtsvorschriften dürfen allerdings nicht dazu führen, dass eine Person, die unter den Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 fällt, vom Anwendungsbereich dieser nationalen Rechtsvorschriften ausgeschlossen wird. Der einzelne Mitgliedstaat muss bei der Ausgestaltung seines Sozialrechts, das Unionsrecht und insb die primärrechtlichen Bestimmungen über die AN-Freizügigkeit beachten. Geldleistungen, die unter Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 zu subsumieren sind, sind demnach unabhängig von der nationalen Systematik als Ausübung einer Beschäftigung zu werten.*
Nach stRsp des EuGH hat das nationale Gericht das anzuwendende nationale Recht so weit wie möglich in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts auszulegen und für die volle Wirksamkeit dieser Normen Sorge zu tragen. Ist eine unionskonforme Auslegung nicht möglich, so ist das nationale Gericht verpflichtet, jene Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde, ohne dass das nationale Gericht die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwenden müsste.*
Somit stößt die Ausgestaltung der Sozialsysteme an ihre Grenzen. Zu enge Voraussetzungen wie im § 24 Abs 2 und Abs 3 KBGG benachteiligen Personen, welche von ihrer Freizügigkeit Gebrauch machen,* daher muss die Unionsrechtskonformität dieser Regelungen stark bezweifelt werden.*
Mangels gesetzlicher Adaptierung dieser Normen hat der OGH § 24 Abs 2 und 3 KBGG unionsrechtskonform interpretiert. Nach stRsp ist eine an die zweijährige Karenz anschließende freiwillige Karenz kein Hindernis für die kollisionsrechtliche Gleichstellung dieser Zeit mit einer Beschäftigung. Der OGH qualifiziert Anschlusskarenzen als einheitlichen Sachverhalt, wenn die Tätigkeit für die Zeit der Karenz vorübergehend unterbrochen wurde und eine Teilversicherung (nach § 8 Abs 1 ASVG) besteht.*
Wenn aus dem Wohnsitz- und dem Beschäftigungsmitgliedstaat gleichartige Familienleistungen zusammentreffen, finden die unionsrechtlichen Prioritäts- und Antikumulierungsvorschriften des Art 68 Abs 1 VO (EG) 883/2004 Anwendung.* Nach stRsp liegt eine Gleichartigkeit oder Vergleichbarkeit dieser Leistungen immer dann vor, wenn diese einander nach Funktion und Struktur im Wesentlichen entsprechen.* Eine völlige Gleichartigkeit wird aufgrund der Unterschiede zwischen den nationalen Systemen der Sozialen Sicherheit nicht gefordert.* Es genügt, wenn die Leistungen in wesentlichen Merkmalen, wie Sinn und Zweck, Berechnungsgrundlage, Gewährungsvoraussetzungen sowie Leistungsempfänger der Leistungen, übereinstimmen.* Entsprechend diesen unionsrechtlichen Vorgaben ruht nach § 6 Abs 3 KBGG der Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld, sofern Anspruch auf vergleichbare ausländische Familienleistungen besteht, in der Höhe der ausländischen Leistungen.
Die Frage, ob konkrete Familienleistungen nach Funktion und Struktur miteinander vergleichbar sind, stellt eine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung dar und ist – in einem bereits gerichtsanhängigen Verfahren – schließlich von den Gerichten zu beantworten.* Diese rein rechtliche Beurteilung ist das Ergebnis einer Auslegung vor allem der ausländischen gesetzlichen Bestimmungen über die betreffende Leistung.* Die Beantwortung hat hohe Relevanz für den Ausgang eines Gerichtsverfahrens, denn darauf aufbauend kann über die vor- oder nachrangige Zuständigkeit nach Art 68 VO (EG) 883/2004 abgesprochen werden.
Von der Judikatur wurde die Vergleichbarkeit von folgenden Leistungen verneint: liechtensteinische Geburtszulage, deutsches Betreuungsgeld, deutsches Kindergeld, bayerisches Familiengeld, slowakisches Elterngeld, niederländische Leistung „Kinderopvangtoeslag“, finnische Kinderbeihilfe, schweizer Kinderzulage.*276
In den Entscheidungen 10 ObS 133/22i* und 10 ObS 12/23x* nahm der OGH zur Frage Stellung, ob ein Anspruch auf das Kinderbetreuungsgeld als Einkommensersatz aus Österreich – als Wohnsitzstaat – besteht, wenn die Antragstellerinnen in dem 182-tägigen Beobachtungszeitraum in einem anderen Vertragsstaat (zB Liechtenstein oder Schweiz) ohne vergleichbare Familienleistungen beschäftigt waren und die Tätigkeit des zweiten Elternteils in Österreich liegt.
Nach Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009* ist für die Frage, ob ein Anspruch auf Familienleistungen besteht und in welcher Höhe dieser gebührt, die gesamte Situation der Familie vom zuständigen Träger zu berücksichtigen, selbst dann, wenn gewisse Sachverhaltselemente (zB Wohnsitz oder Beschäftigungsort) in einem anderen Mitgliedstaat liegen. Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 spielt allerdings nur bei der Anwendung von Art 67 und 68 der VO (EG) 883/2004 eine Rolle.* Die Bestimmung von Art 68 VO (EG) 883/2004 legt für den Fall der Kumulierung von Anspruchsberechtigungen fest, welche Staaten vorrangig zuständig sind. Diese Prioritätsregeln gelten jedoch nur für den Fall, dass für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Ansprüche auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind.* Besteht hingegen in einem der beiden Staaten kein Anspruch auf eine mit dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Familienleistung, erfolgt die Anknüpfung nach der allgemeinen Regel zur Ermittlung des anzuwendenden Rechts nach Art 11 VO (EG) 883/2004 und der Anspruch ist ausschließlich aufgrund der Regelung über die Exportpflicht gem Art 67 zu prüfen.* Nach Art 60 Abs 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 können zwar Antragsteller:innen ihren Anspruch vom zweiten Elternteil, der in Österreich beschäftigt ist, ableiten – nach Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 besteht für diesen eine Leistungszuständigkeit in Österreich –, allerdings hat eine Familienbetrachtungsweise mangels Zusammentreffens vergleichbarer Ansprüche in solchen Konstellationen nicht zu erfolgen. Somit wurde die österreichische Leistungszuständigkeit vom OGH verneint.
In der OGH-E 10 ObS 50/23k* ging es um den Anspruch auf das pauschale Kinderbetreuungsgeld für die Kindesmutter. Ihre Beschäftigung lag in der Slowakei, sie pendelte täglich aus Österreich nach Bratislava als Grenzgängerin iSd Art 1 lit f VO (EG) 883/2004. Der Kindesvater war in Niederösterreich beschäftigt. Ob und welche mit dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistungen die Slowakei gewährt, blieb vom Erstgericht ungeklärt. Daher wurde die Rechtssache zurückverwiesen. Der OGH hat ausgeführt, wenn vergleichbare Familienleistungen nicht vorliegen und der Anspruch nach nationalem österreichischen Recht zu bejahen ist (hier § 2 KBGG), würde das Fehlen der Leistungszuständigkeit Österreichs – mangels Beschäftigung nach Art 11 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 – nicht dazu führen, dass eine Leistungsgewährung nach dem innerstaatlichen Recht ausgeschlossen wird. In dieser Konstellation stünde der Leistung nur eine nationale Antikumulierungsregel entgegen. Allerdings auch nach § 6 Abs 3 KBGG kommt es nur bei einem Zusammentreffen vergleichbarer Leistungen zum Ruhen des Anspruchs sowie zu einer Anrechnung. Der Frage der vor- oder nachrangigen Zuständigkeit nach der VO (EG) 883/2004 kommt auch nur in diesem Fall Bedeutung zu. Sofern sich ergibt, dass der betreffende Mitgliedstaat keine dem österreichischen Kinderbetreuungsgeld vergleichbaren Leistungen gewährt, ist das Leistungsbegehren unabhängig davon stattzugeben, ob Österreich nach der VO (EG) 883/2004 vor- oder nachrangig zuständig ist, wenn die Anspruchsvoraussetzungen nach dem KBGG erfüllt sind.
Der OGH hat in seiner E 10 ObS 55/23w vom 22.6.2023 ausgeführt, dass die von den Antragsteller:innen immer wieder geforderten – teilweise uneinbringlichen – Bescheide aus dem Ausland weder für die Feststellung der Zuständigkeit noch für die Höhe des Kinderbetreuungsgeldes erforderlich sind. Da nach § 6 Abs 3 KBGG schon der Anspruch auf eine vergleichbare Leistung ausreicht, treten Ruhen und eine Anrechnung nach dieser Bestimmung auch dann ein, wenn die ausländischen Leistungen nicht beantragt wurden.*
Eine erfolgte oder nicht erfolgte Antragstellung berührt daher den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nicht. Auch ein Ruhen wird nicht durch das Vorliegen eines positiven oder negativen Bescheids über eine ausländische Leistung bewirkt, sodass eine Verletzung der Mitwirkungspflicht nicht denkbar ist.* Allfällige aus einem Bescheid eines ausländischen Trägers zu ziehende Rückschlüsse auf die im Verwaltungsverfahren von den Krankenversicherungsträgern zu ermittelnde Rechtslage im Ausland – etwa das Bestehen oder Nichtbestehen eines Anspruchs auf eine vergleichbare Familienleistung – sind nicht von der Mitwirkungspflicht des § 32 Abs 1 und 4 KBGG erfasst. § 32 Abs 1 und 4 KBGG 277 beziehen sich ausdrücklich auf die Aufklärung und Feststellung des für den Anspruch maßgeblichen Sachverhalts.
Selbst dann, wenn der Träger, bei dem der Antrag gestellt wurde zum Schluss gelangt, dass er nach Art 68 Abs 1 und 2 der VO (EG) 883/2004 nicht primär zuständig sei, hat er nach Art 60 Abs 3 der DVO (EG) 987/2009 eine vorläufige Entscheidung über die anzuwendenden Prioritätsregeln zu treffen und den Antrag an den Träger des anderen Mitgliedstaates nach Art 68 Abs 3 VO (EG) 883/2004 – somit unverzüglich – weiterzuleiten und gleichzeitig eine vorläufige Leistung zu gewähren. Erst mit der Übermittlung des Antrages an den betroffenen Mitgliedstaat im Ausland wird nach der Verordnung die zweimonatige Stellungnahmefrist ausgelöst.*Nach fruchtlosem Verstreichen der zweimonatigen Stellungnahmefrist des Leistungsträgers im Ausland haben die Krankenversicherungsträger innerhalb von sechs Monaten einen positiven oder negativen Bescheid über die vorläufige Leistungspflicht zur Erbringung eines etwaigen Unterschiedsbetrags zu erlassen.*
Art 7 der DVO (EG) 987/2009 sieht zudem die vorläufige Berechnung und Gewährung von Leistungen vor. Liegen dem zuständigen Träger nicht alle Angaben über die Situation in einem anderen Mitgliedstaat vor, die zur Berechnung des endgültigen Bezugs der Leistung erforderlich sind, so gewährt dieser Träger die Leistung vorläufig. Sobald dem betreffenden Träger alle erforderlichen Belege oder Dokumente vorliegen, ist eine Neuberechnung vorzunehmen.
Auch wenn § 27 Abs 4 KBGG nach rechtskräftiger Klärung der Vorfragen eine sogenannte Entscheidungsreife fordert, kann bei einer unionsrechtskonformen Auslegung mit der Gewährung oder Nichtgewährung einer allfälligen vorläufigen Leistung (Unterschiedsbetrag) nicht so lange zugewartet werden, bis der Träger im anderen Mitgliedstaat über die vergleichbare Familienleistung und deren Höhe endgültig entscheidet.* So auch die Judikatur.
Gegebenenfalls ist von den (nachrangig zuständigen) Trägern der Mitgliedstaaten in Kauf zu nehmen, dass es zu Überzahlungen kommen kann. Diese sind nach dem Verfahren gem Art 60 Abs 5 iVm Art 73 der DVO (EG) 987/2009 zwischen den Trägern auszugleichen. Eine Abwälzung dieses Prozedere auf die betroffenen Antragsteller:innen ist nach den Koordinierungsvorschriften weder vorgesehen noch zumutbar. Der OGH hat wiederholt ausgeführt, dass die Träger der Mitgliedstaaten nach Art 76 Abs 4 (EG) 883/2004 zur gegenseitigen Information und Zusammenarbeit verpflichtet sind, um die ordnungsgemäße Anwendung der Verordnung zu gewährleisten.*
Das Zuwarten und die Aussetzung der Leistungsverpflichtung widerspricht somit eindeutig dem europäischen Koordinierungsgedanken. Daher werden die Säumigkeiten der weisungsgebundenen Krankenversicherungsträger sowie die Nicht- oder Falschanwendung der Koordinierungs- und Durchführungsnormen, sowohl von der Volksanwaltschaft,* vom Rechnungshof, aber auch von der Arbeiterkammer immer wieder kritisch aufgezeigt. Gleichzeitig wird die Adaptierung der internen Weisungen des für die Gewährung vom Kinderbetreuungsgeld zuständigen Familienministeriums gefordert, um eine unionsrechtskonforme Vorgehensweise der Krankenversicherungsträger zu ermöglichen. Auch die Judikatur ist hier eindeutig: Differenzen der Mitgliedstaaten zur Durchführung der Koordinierungs-VO ist keinesfalls auf dem Rücken der Betroffenen auszutragen.*278