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Zur Einrichtung eines wirksamen innerbetrieblichen Kontrollsystems

REINHARDMINDEROCK (LINZ)
  1. Nach § 334 Abs 1 ASVG hat der DG oder ein ihm gem § 333 Abs 4 Gleichgestellter den Trägern der SV alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leis tungen zu ersetzen, wenn er den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat. Nach § 335 Abs 1 ASVG ist § 334 ASVG auch dann anzuwenden, wenn der DG eine juristische Person ist und der Schaden vorsätzlich oder grob fahrlässig durch ein „Mitglied des geschäftsführenden Organes der juristischen Person [...] verursacht worden ist“.

  2. Der grundsätzlichen Verpflichtung des AG, für Sicherheit und Gesundheitsschutz der AN im Betrieb zu sorgen, wird der AG aber nicht schon etwa durch das Zur-Verfügung-Stellen von entsprechenden Sicherheitsausrüstungen oder der bloßen Erteilung der notwendigen Anweisungen, sondern erst dann gerecht, wenn er (auch) ein wirksames innerbetriebliches Kontrollsystem – zur Überprüfung der Einhaltung der AN-Schutzvorschriften – einrichtet und auch tatsächliche entsprechende Kontrollhandlungen folgen.

  3. Grobe Fahrlässigkeit iSd § 334 Abs 1 ASVG ist dem Begriff der auffallenden Sorglosigkeit iSd § 1324 ABGB gleichzusetzen und immer dann anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich voraussehbar war. Bei der Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist nicht der Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern der Schwere des Sorgfaltsverstoßes und der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts besondere Bedeutung beizumessen.

[...]

[2] 2.1. Gem § 337 Abs 1 ASVG verjährt der Ersatzanspruch des Versicherungsträgers gem § 334 in drei Jahren nach der ersten rechtskräftigen Feststellung der Entschädigungspflicht. Maßgebend für den Beginn des Laufes der Verjährungsfrist ist in diesem Fall der Zeitpunkt, in dem über die Feststellung der Leistung des Versicherungsträgers eine E vorliegt, die keinem weiteren Rechtszug unterliegt (RS0085010). Die Verjährungsfrist läuft dabei jeweils ab Eintritt der Rechtskraft (Auer-Mayer in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV-Komm § 337 ASVG Rz 2).

[3] 2.2. Nach den Feststellungen anerkannte der erstkl Sozialversicherungsträger den Unfall des Versicherten mit Bescheid vom 16.2.2016 als Arbeitsunfall. Wann dieser Bescheid der Witwe des Versicherten zugestellt wurde, steht nicht fest. Die Rechtsmittelfrist betrug vier Wochen. Der zweitkl Versicherungsträger anerkannte den Witwenpensionsanspruch der Ehegattin des Versicherten mit Bescheid vom 9.2.2016 und die Waisenpensionsansprüche der Söhne des Versicherten mit Bescheiden vom 12.2.2016 und 23.2.2016. Wann diese Bescheide zugestellt wurden, steht ebenfalls nicht fest. Die Rechtsmittelfristen betrugen jeweils drei Monate. Zuvor hatte die Zweitkl der Witwe des Versicherten mit zwei Schreiben vom 27.1.2016 mitgeteilt, dass die Anträge auf Zuerkennung der Witwen- und Waisenpension noch nicht endgültig erledigt werden konnten, jedoch jeweils vorläufige Leistungen ohne Anerkennung eines Rechtsanspruchs gewährt würden.

[4] 2.3. Die Rechtsauffassung des Berufungsgerichts, die mit der am 13.2.2019 eingebrachten Klage geltend gemachten Ansprüche der Sozialversicherungsträger seien nicht verjährt, weil für den Beginn des Laufes der Verjährungsfrist nicht auf die den Bescheiderlassungen vorangehende Gewährung einer vorläufigen Witwen- und Waisenpension (Schreiben vom 27.1.2016) abzustellen sei, entspricht der klaren Gesetzeslage, sodass keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO vorliegt (vgl RS0042656). Die in der außerordentlichen Revision umfangreich aufgearbeitete und in der Literatur strittige Frage, wann die Verjährung zu laufen beginnt, wenn Leistungen eines Sozialversicherungsträgers nicht bescheidmäßig, sondern durch „schlichte“ Leistungsgewährung zuerkannt werden, ist hier nicht relevant, weil es im vorliegenden Fall gerade nicht bei der schlichten Leistungserbringung ohne Bescheiderlassung blieb (vgl § 367 Abs 1 iVm § 222 Abs 1 und 2 ASVG). Aus der E 9 ObA 113/18k lässt sich nichts Gegenteiliges ableiten. Zur Beurteilung der Verjährungsfrage bedurfte es keiner weiteren Feststellungen.

[5] 3.1. Nach § 334 Abs 1 ASVG hat der DG oder ein ihm gem § 333 Abs 4 Gleichgestellter den Trägern der SV alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen zu ersetzen, wenn er den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat. Nach § 335 Abs 1 ASVG ist § 334 ASVG allerdings (ua) auch dann anzuwenden, wenn der DG eine juristische Person ist und der Schaden vorsätzlich oder grob fahrlässig durch ein „Mitglied des geschäftsführenden Organes der juristischen Person [...] verursacht worden ist“.

[6] 3.2. In der E 9 ObA 102/22y (ecolex 2023/147, 236 [Mazal]) hat der OGH dazu ausgeführt, dass für die Einhaltung von AN-Schutzvorschriften primär der AG verantwortlich ist. Er ist grundsätzlich Adressat der AN-Schutzvorschriften. Die öffentlich-rechtlichen AN-Schutzvorschriften, die als öffentlich-rechtliche Arbeitsrechtsnormen dem Schutz des Lebens, der Gesundheit und der Sittlichkeit im Zusammenhang mit der Erbringung der Arbeitsleistung dienen, und sich grundsätzlich an den AG richten, geben die Rahmenbedingungen und die Mindestanforderungen für die Schutzmaßnahmen vor. Jeder Arbeitsunfall, der sich im Betrieb des AG ereignet, und jede Verletzung von AN-Schutzvorschriften sind, unfallversicherungsrechtlich betrachtet, im weitesten Sinn der Sphäre 473 des AG zuzurechnen. Es liegt daher im Verantwortungsbereich des AG, seinen Betrieb so zu organisieren, dass es zu keinen Gefahren für die in die Betriebsorganisation des AG eingegliederten AN kommt. Letztlich verfügt nämlich nur der AG über jene innerbetrieblichen Befugnisse, um die Maßnahmen, die aus der Sicht des AN-Schutzes erforderlich sind, durch Anordnung umzusetzen (9 ObA 102/22y Rz 45). Dieser grundsätzlichen Verpflichtung des AG, für Sicherheit und Gesundheitsschutz der AN im Betrieb zu sorgen, wird der AG aber nicht schon etwa durch das Zur-Verfügung- Stellen von entsprechenden Sicherheitsausrüstungen oder der bloßen Erteilung der notwendigen Anweisungen, sondern erst dann gerecht, wenn er (auch) ein wirksames innerbetriebliches Kontrollsystem – zur Überprüfung der Einhaltung der AN-Schutzvorschriften – einrichtet und auch tatsächliche entsprechende Kontrollhandlungen folgen. Für ein wirksames Kontrollsystem reicht es etwa nicht, dass auf einzelnen Baustellen Bauleiter bzw Vorarbeiter und Poliere mit der Überwachung der Einhaltung an Ort und Stelle verantwortlich sind bzw vom verwaltungsstrafrechtlich Verantwortlichen mindestens wöchentliche Kontrollen durchgeführt werden. Auch die bloße Erteilung von Anordnungen (Weisungen) und Schulungen ist nicht ausreichend. Für die Einrichtung eines wirksamen Kontrollsystems ist es vielmehr erforderlich, dass der AG aufzeigt, welche Maßnahmen im Einzelnen der unmittelbar Übergeordnete im Rahmen des Kontrollsystems zu ergreifen hat, um durchzusetzen, dass jeder in dieses Kontrollsystem eingebundene Mitarbeiter die arbeitnehmerschutzrechtlichen Vorschriften auch tatsächlich befolgt. Der AG hat auch dafür Sorge zu tragen, dass der Anordnungsbefugte Maßnahmen vorsieht, um das Funktionieren des Kontrollsystems insgesamt zu gewährleisten, dh sicherzustellen, dass die auf der jeweils übergeordneten Ebene erteilten Anordnungen (Weisungen) zur Einhaltung arbeitnehmerschutzrechtlicher Vorschriften auch an die jeweils untergeordnete, zuletzt also an die unterste Hierarchie- Ebene gelangen und dort auch tatsächlich befolgt werden (9 ObA 102/22y Rz 47). An diesen Grundsätzen ist festzuhalten.

[7] 3.3. Grobe Fahrlässigkeit iSd § 334 Abs 1 ASVG ist dem Begriff der auffallenden Sorglosigkeit iSd § 1324 ABGB gleichzusetzen (RS0030510). Grobe Fahrlässigkeit ist immer dann anzunehmen, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich voraussehbar war (RS0030644). Nicht jede Übertretung von Unfallverhütungsvorschriften bedeutet für sich allein aber bereits das Vorliegen grober Fahrlässigkeit (RS0052197; RS0026555). Andererseits kann aber auch schon ein einmaliger Verstoß gegen Schutzvorschriften grobe Fahrlässigkeit bewirken, wenn ein Schadenseintritt nach den gegebenen Umständen des Einzelfalls als wahrscheinlich voraussehbar ist (RS0030622). Bei der Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist nicht der Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern der Schwere des Sorgfaltsverstoßes und der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts besondere Bedeutung beizumessen (RS0085332; RS0031127 [T22]). Bei der Einschätzung der Schwere des Sorgfaltsverstoßes kommt es insb auch auf die Gefährlichkeit der Situation an (RS0022698). Bei der Bestimmung des jeweils nach Auffassung des Verkehrs als erforderlich zu erachtenden Maßes der Sorgfalt ist also die konkrete Situation zu berücksichtigen, sodass erhöhte Gefahr auch erhöhte Aufmerksamkeit erfordert (RS0022698 [T1]). § 334 Abs 3 ASVG schließt nicht aus, dass bei der Beurteilung der Frage, ob der auf Ersatz in Anspruch Genommene grob fahrlässig gehandelt habe, das Verhalten des Versicherten mit berücksichtigt wird (RS0085538).

[8] 3.4. Ob jemand einen Arbeitsunfall durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat, ist nach den konkreten Umständen des Einzelfalls zu beurteilen (RS0085228 [T1]) und stellt – von Fällen einer vom OGH iSd Rechtssicherheit wahrzunehmenden Fehlbeurteilung abgesehen – keine erhebliche Rechtsfrage iSd § 502 Abs 1 ZPO dar (RS0085228 [T15]). Die angefochtene E, die das Fehlverhalten der Bekl als grob fahrlässig beurteilte, bewegt sich im Rahmen des den Gerichten eingeräumten Beurteilungsspielraums.

[9] 3.5. Das Berufungsgericht warf den Erst- bis Drittbekl vor, dass diese kein entsprechendes innerbetriebliches Kontrollsystem eingerichtet, sondern die bloße Unterweisung und Kontrolle der Tätigkeit des Versicherten vor Ort ausschließlich dem Viertbekl überlassen hätten. Der den Erstund Drittbekl anzulastende gravierendste Verstoß gegen die AN-Schutzvorschriften sei aber jener gewesen, dass generell nicht dafür Sorge getragen worden sei, dass die Anlage vor dem Beginn jeglicher Reinigungsarbeiten und insb vor dem Betreten stromlos geschaltet werde. Entgegen dem expliziten Inhalt des dem Viertbekl erst kurz vor dem tödlichen Arbeitsunfall im Sommer vor dem Unfall von einer Sicherheitsfachkraft überlassenen Dauer-Freigabescheins sei der Viertbekl dennoch der Meinung gewesen, das gänzliche Stromlossetzen der Anlage durch Bedienung des Hauptschalters wäre nicht erforderlich. Im Rahmen der der Erst- bis Drittbekl obliegenden Organisations- und Kontrollpflichten wäre es vor allem an ihnen gelegen gewesen, die Umsetzung der empfohlenen und sowohl im Begehungsprotokoll als auch im Dauer-Freigabeschein aufscheinenden Maßnahmen in die Wege zu leiten und dies auch entsprechend zu kontrollieren. Richtig sei zwar, dass der Unfall durch ein eigenes sorgloses Verhalten des Versicherten mitverursacht worden sei, doch diene die Einrichtung eines wirksamen Kontrollsystems gerade auch dazu, eigenmächtigen Handlungen von AN gegen AN-Schutzvorschriften entgegenzuwirken. Das sorglose Verhalten des Versicherten vermöge aber die Versäumnisse der Bekl nicht aufzuwiegen. Auch wenn der hier zu beurteilende Reinigungsvorgang nicht § 59 Abs 1 AAV [Allgemeine Arbeitnehmerschutzverordnung] zu unterstellen und daher die Zuziehung einer ständig anwesenden Aufsichtsperson nicht notwendig gewesen sei, ergebe sich aus dem Dauer-Freigabeschein, dass 474 das „Befahren der angeführten Bauteile“ (hier Einstieg in den Betonmischtrog zur Reinigung) ausnahmslos nur nach Information des lokalen Werksverantwortlichen unter Einhaltung der dargestellten Auflagen gestattet sei. Dieses Vier-Augen- Prinzip zur Risikominimierung sei aber nicht eingehalten worden. Die Zuziehung einer zweiten Person vor dem Einstieg in den Mischtrog hätte hier konkret verhindern können, dass der Versicherte nicht nur weisungswidrig die Staubschutzklappen öffnet und sich dazwischen stellt, sondern in dieser gefahrenexponierten Position auch noch Schremmarbeiten durchführt, ohne dass die Anlage gänzlich stromlos geschaltet sei. Der Viertbekl – als Aufseher im Betrieb – habe insb deshalb grob fahrlässig gehandelt, weil er in mehrfacher Weise nicht nur die gesetzlichen Vorgaben zur Sicherung der Anlage im Fall deren Betretens im Zuge des Reinigungsvorgangs (§§ 59 Abs 1 AAV, 17 AM-VO [Arbeitsmittelverordnung]) ignoriert und die Einhaltung jeglicher Sicherungsmaßnahmen allein dem Versicherten überlassen, sondern auch die Vorgaben im Dauer-Freigabeschein – allen voran die entscheidende des Stromabschaltens – ignoriert habe.

[10] 3.6. Diese – ausführlich begründete – Beurteilung des Berufungsgerichts ist jedenfalls vertretbar. Der Frage, ob die besonderen Umstände des Einzelfalls auch eine andere E als jene des Berufungsgerichts gerechtfertigt hätten, kommt keine zur Wahrung der Rechtseinheit, Rechtssicherheit oder Rechtsentwicklung erhebliche Bedeutung zu (RS0042405 [T6]). Die Bekl vermögen in ihrer außerordentlichen Revision keine auffallende Fehlbeurteilung des Berufungsgerichts zur Darstellung zu bringen, die vom OGH iSd Rechtssicherheit wahrgenommen werden müsste. Das festgestellte Verschulden des Versicherten am Zustandekommen des Arbeitsunfalls hat das Berufungsgericht den Bekl ohnehin nicht zugerechnet, sondern bei Beurteilung deren Fehlverhaltens mitberücksichtigt. Die behaupteten sekundären Feststellungsmängel liegen nicht vor.

[11] Mangels Geltendmachung einer Rechtsfrage von der Qualität des § 502 Abs 1 ZPO ist die außerordentliche Revision der Bekl zurückzuweisen.