Die „Liebe des Proletariats“ sei noch zu erobern. Bemerkungen zur AK-Wahl 1926

 KLAUS DIETERMULLEY (WIEN)
Nach Ablauf der ersten Funktionsperiode der Arbeiterkammern fanden im Jahr 1926 die zweiten – und für die Erste Republik letzten – AK-Wahlen statt. Ausgehend von den rechtlichen Grundlagen wird sich die folgende Darstellung mit der Wiener AK-Wahlbewegung, der Agitation der wahlwerbenden Gewerkschaften, dem Wahlergebnis und der Interpretation des Wiener AK-Wahlergebnisses beschäftigen.
1.
Die AK-Wahlordnung*

Das AKG 1920* bestimmte in den §§ 5 bis 9, dass sich jede AK in vier Sektionen gliedert: Je eine für die Arbeiter und für die Angestellten sowie je eine für die in öffentlichen Verkehrsunternehmen (Bahn, Schifffahrt, Post) beschäftigten Arbeiter und Angestellten. Die Anzahl der Mandate in den Vollversammlungen der AK richtete sich nach der Größe der Kammern und wurde durch eine vom Sozialministerium zu erlassende Wahlordnung (WO) bestimmt. Ebenso die Aufteilung dieser Mandate auf die vier Sektionen. Die „Berufung der Mitglieder“ (erst mit dem AKG 1954 wurde für „Mitglieder der Kammer“ die Bezeichnung KammerrätInnen eingeführt*) „erfolgt durch direkte geheime Wahl auf die Dauer von 5 Jahren nach den für die Wahl in die Nationalversammlung geltenden Grundsätzen“, wobei für jede Sektion ein eigener Wahlkörper zu bilden war.* Weitere Bestimmungen betrafen die Feststellung von aktivem und passivem Wahlrecht. Die AK-WO vom 10.11.1920* bestimmte eingangs, dass in jedem Bundesland eine AK zu errichten sei. In jeder AK war für jede der vier Sektionen ein Wahlkörper zu bilden.

Anzahl der zu wählenden Sektionsmitglieder*

AKVV GesamtArbeiterAngestellteVerk-ArbVerk-Ang
Wien1307624624
Linz573211311
Salzburg4024727
Innsbruck50289310
Feldkirch4024727
Graz643812311
Klagenfurt4024727
Verk-Arb = Sektion der Arbeiter in den öffentlichen Verkehrsunternehmungen (Bahn, Schifffahrt, Post)Verk-Ang = Sektion der Angestellten in den öffentlichen Verkehrsunternehmungen (Bahn, Schifffahrt, Post)

Die AK-WO bestimmte weiters, dass die AK-Wahl durch das BM für soziale Verwaltung anzuordnen und für die Durchführung in jeder Kammer eine Hauptwahlkommission zu errichten sei. Die Mitglieder dieser zentralen Wahlkommission wurden vom Sozialministerium auf Vorschlag der Landesregierung ernannt, ebenso der vorsitzführende Wahlkommissär. Die Hauptwahlkommission hatte die Wahl zu organisieren und war das zentrale Gremium für alle für die Wahldurchführung notwendigen Maßnahmen, wie die Errichtung von Zweigwahlkommissionen, die Ausschreibung der Wahl, die Bestimmung der Wahltage, Entscheidung über die Wählbarkeit von Wahlwerber und Prüfung der Gültigkeit der Wahlvorschläge, sowie letztlich Überprüfung und Verlautbarung der Wahlergebnisse.* Weitere Bestimmungen der WO betrafen die notwendigen Fristsetzungen, die Wahlvorschläge, das Abstimmungsverfahren, die Feststellung des Wahlergebnisses, den Wahlschutz und eine Strafbestimmung für AG, die ihrer Verpflichtung, den Behörden eine Auflistung ihrer MitarbeiterInnen zu übergeben, nicht nachkommen. Die AK-WO wurde ergänzt durch eine vom BM für soziale Verwaltung erlassende „Instruktion“, in der das Wahlverfahren detailliert beschrieben war.*

2.
Änderungen im AKWahlrecht?

In der ersten AK-Wahl 1921 erhielten die freien Gewerkschaften von den insgesamt zu vergebenden 421 Mandaten 340, die christlichen Gewerkschaften 30 Mandate, die deutschvölkische Gruppierung 6 Mandate, die Arbeitsgemeinschaften von christlichen und deutschvölkischen Gewerkschaften 41 und die Kommunisten 4 Mandate.* Das Wahlergebnis der Wiener AK-Wahl wurde von der 480 „Zentralkommission der christlichen Gewerkschaften“ angefochten. Die Christlichsozialen behaupteten, dass durch „Vorgänge rund um die Wahlen das Ergebnis zu Ungunsten der christlichen Gewerkschaften beeinflusst“ worden war.* Die Zentralkommission führte eine Reihe von Beispielen an, die nach ihrer Ansicht die Stimmabgabe beeinflusst hätten. So wurde zB das Einschreiten freigewerkschaftlicher Betriebsräte kritisiert, weiters das Fehlen von Wahlzellen und Unregelmäßigkeiten in den Wählerverzeichnissen.* Die Wahlanfechtung wurde vom BM für soziale Verwaltung verworfen. Damit war klar, dass die christlichen Gewerkschaften vor der nächsten Kammerwahl auf eine Änderung der WO drängen würden.

3.
Sonderstellung NÖ und Burgenland

Nachdem das Burgenland erst um die Jahreswende 1921/22 als „selbständiges, gleichberechtigtes Bundesland“ zu Österreich kam und eine AK fehlte, nahmen die burgenländischen AN nicht an der ersten AK-Wahl teil. Burgenländische Angelegenheiten wurden in der Folge von der Wiener AK besorgt. Das AKG machte die Einrichtung von Arbeiterkammern in den Bundesländern von den Standorten und Sprengeln der Kammern für Handel, Gewerbe und Industrie abhängig. Nachdem es in Niederösterreich und im Burgenland keine Handelskammern gab, konnten in diesen Bundesländern auch keine Arbeiterkammern begründet werden. Die Wiener AK war somit auch für Niederösterreich zuständig und wurde deshalb auch oft als „Niederösterreichische AK“ bezeichnet. Nachdem sich im Burgenland eine Vertretung der AG in der Form eines Handelskammerausschusses gebildet hatte, stellte 1923 die Wiener AK an das Bundeskanzleramt den Antrag, einen entsprechenden Beirat zur Vertretung der Interessen der burgenländischen AN zu errichten.* 1924 wurde dann für das Burgenland per VO der Bundesregierung ein „Beirat mit dem Wirkungskreis einer Kammer für Arbeiter und Angestellte“ eingesetzt, deren FunktionärInnen vom Bundesminister für soziale Verwaltung auf Vorschlag des Landeshauptmannes ernannt wurden.* Dieses „Provisorium“ blieb bis zum Ende der Ersten Republik.*

Die WO 1920 bestimmte in § 1, dass in jedem Bundesland eine AK zu errichten sei. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch kein eigenständiges Bundesland Niederösterreich, denn dieses wurde erst nach den entsprechenden Beschlüssen der Landtage von Wien und Niederösterreich-Land mit 1.1.1922 geschaffen. Um die gemeinsame AK für Wien und Niederösterreich zu belassen, war eine Änderung der AK-WO notwendig.* Mit VO des BM für soziale Verwaltung vom 9.9.1925 wurde dies durch wörtliche Übernahme des § 1 (2) AKG 1920 in die WO repariert.*

4.
Wahlausschreibung und Wahltage

Die rein formale Änderung der AK-WO im September 1925 zeigt, dass man sich im Ministerium, in den Gewerkschaften und Kammern mit den rechtlichen Voraussetzungen für die AK-Wahl 1926 zu befassen begann. Am 17.10.1925 berichtete denn auch der Erste Sekretär (Direktor) der Wiener AK, Dr. Edmund Palla, der Vollversammlung (VV), dass im Sozialministerium „im Einvernehmen mit der Kammer“ erste Vorbereitungen für die kommende AK-Wahl getroffen wurden. Es kam zu Besprechungen über die von den christlichen Gewerkschaften gewünschten Änderungen der AK-WO. Die Anliegen der Christlichsozialen betrafen „eine Erstreckung der verschiedenen Wahlfristen, zwangsweise Benützung der Wahlzellen, Ausschaltung der Betriebe als Wahlorte und Vermehrung der Zweigwahlkommissionen und Wahlorte“.* Politisch ging es den christlichen Gewerkschaften um eine Schwächung der freien Gewerkschaften durch Verbot der betrieblichen Wahlorte und auf eine Stärkung ihrer Präsenz durch mehr Wahlorte. Das Vorstandsmitglied der Zentralkommission der Christlichen Gewerkschafter Österreichs, Dr. Franz Hemala, sprach in der AK von einer notwendigen demokratischen Durchführung der AK-Wahlen, denn nur dann könne „die wirkliche Gesinnung der Arbeiter und Angestellten“ festgestellt werden. Er forderte zum einen, dass die budgetäre Dotation für die AK-Wahl erhöht werden sollte und zum anderen, dass die einzusetzende Hauptwahlkommission für eine hohe Wahlbeteiligung Sorge tragen müsse. Palla sah jedoch keinen Grund, die Wahlbudgetierung zu erhöhen, zumal auch aus dem Sozialministerium keine konkreten Kosten für die AK-Wahl zu erfahren waren. Im Übrigen betonte er, dass die Kammer selbst großes Interesse an einer hohen Wahlbeteiligung hat. Jedenfalls wurde den Wünschen der christlichen Gewerkschaften durch eine kleine Änderung der AK-WO Rechnung getragen: Die Einspruchsfrist für die aufgelegten Wählerlisten wurde von 14 auf 21 Tage verlängert. Der in der Tat kurz gehaltene Abs 4 von § 11 („Die Wahl ist geheim. Es ist dafür Sorge zu tragen, dass der Wähler von Zeugen unbelästigt, den Stimmzettel ausfüllen und in den ihm von der Wahlkommission eingehängten Umschlag einlegen kann.*) wurde nun sehr ausführlich formuliert.* Es wurde genau beschrieben, was der/die WählerIn im Wahllokal zu tun hat. Bezüglich der Einrichtung der Wahlzellen wurde auf die Vorschriften der WO für die Nationalratswahl verwiesen.* Damit konnte in der Gestaltung der Rechtsvorschriften ein Kompromiss zwischen freien und christlichen Gewerkschaften und den Ministerialbeamten erzielt werden, wohl auch mit Hinweis auf die Aufgaben 481 der Hauptwahlkommission, der die Einrichtungen von Zweigwahlkommissionen und Wahlorten oblag. Dennoch kam kurzfristig Panik auf, da man offenbar davon ausging, dass die Wahltage in etwa genau nach fünf Jahren von den Wahltagen der vorhergehenden Wahl festgelegt werden müssen. So wurde von Wahltagen im Februar oder März 1926 für die Wiener AK ausgegangen. Dies hätte aber eine Wahlausschreibung im November bzw Dezember 1925 bedeutet, in Monaten mit einer sehr hohen Arbeitslosigkeit. Deshalb versuchten die freien Gewerkschaften durch ihre parlamentarischen Vertreter mittels eines Initiativantrags zur Änderung des AKG eine entsprechende Fristerstreckung zu erreichen.* Die Initiative schlug fehl, da die christlich-deutschnationalen Regierungsparteien eine Reihe von Abänderungsanträgen zum AKG einbrachten, die von den freien Gewerkschaften nicht zu akzeptieren waren. Nachdem es durch Verhandlungen mit dem Sozialministerium gelang, einen akzeptablen Termin für die Abhaltung der AK-Wahl zu erreichen, wurde der Initiativantrag nicht weiterverfolgt.* Die Hauptwahlkommission konnte am 15.3.1926 den Tag der Wahlausschreibung mit 27.3. und die Wahltage mit Samstag, den 26.6., und Sonntag, den 27.6., festlegen. In der Folge wurden von den AK-Hauptwahlkommissionen die Ausschreibung der Wahl vorgenommen und damit die Wahltage bestimmt: In der Steiermark fanden die AK-Wahlen an denselben Tagen wie in Wien statt (26. und 27.6.), in Salzburg am 17. und 18.7., in Tirol am 24. und 25.7., in Oberösterreich am 14. und 15.8., in Vorarlberg am 23. und 24.10. Kärnten, das infolge der Volksabstimmung nicht 1921, sondern 1922 wählte, folgte mit 12., 13. und 14.2.1927.

5.
Wahlagitation

Der Wahlkampf wurde von allen vier Gewerkschaftsrichtungen sehr intensiv geführt. Die AK wurde nicht in Frage gestellt, sondern es wurde vielmehr ihre politische Relevanz betont. Allen Gewerkschaften ging es darum, möglichst viele Personen in die Wählerlisten zu bekommen. Die freigewerkschaftliche Leitung der Arbeiterkammern wurde von allen oppositionellen Gewerkschaften (Christl.; Völkische, KPÖ) als „Hilfsorgan der sozialdemokratischen Partei“ kritisiert.*

Für die christlichen Gewerkschaften war eine Unterschätzung der Bedeutung der AK gleichbedeutend mit einer „stillen Förderung und Unterstützung der Sozialdemokratie“.* Von der Parteileitung wurde der Auftrag erteilt, in jeder Ortschaft „Wahlausschüsse“ zu bilden, in welchen von jeder christlichen und kirchlichen Organisation ein/e VertreterIn delegiert werden sollte. Aufgabe dieser Ausschüsse war es „dafür zu sorgen, dass alle christlichen Arbeiter, Arbeiterinnen, Gehilfen und Angestellte als Wähler in die Wählerlisten aufgenommen werden“.* Darüber hinaus wurde ein „AK-Wahlfonds“ gegründet, für den die christlichen Gewerkschaften Spenden sammelten.

Auch die völkischen Gewerkschaften riefen zur Einigkeit in ihrem deutschnationalen Lager auf.

Hatten die völkischen Gewerkschaften 1921 in mehreren Sektionen und Bundesländern in einer Listenkoppelung mit den christlichen Gewerkschaften kandidiert, so trat nun in allen Sektionen und Bundesländern der Deutsche Gewerkschaftsbund als Wahlwerber auf: Die Angestelltensektion des Deutschen Gewerkschaftsbundes vereinte den Deutschnationalen Handlungsgehilfenverband (DHV), den Verband der weiblichen Angestellten (V.w.A.), den pharmazeutischen Reichsverband und die Deutsche Sozialversicherungsgewerkschaft. Für die Wahl in die Arbeitersektion der AK vereinte der Deutsche Gewerkschaftsbund die Deutsche Arbeitergewerkschaft und den Deutschen Arbeiterbund.* Der Gewerkschaftsbund erhielt die volle Unterstützung des Verbandes der deutschvölkischen Vereine Deutschösterreichs.* Wie die Christlichen Gewerkschaften kritisierten auch die völkischen die „Alleinherrschaft“ der Sozialdemokraten in den Arbeiterkammern. In einer AK sollen „wiederholt Flugzettel, die zum Besuch sozialdemokratischer Wählerversammlungen auffordern“, versandt worden sein. Die Zeitschrift „Arbeit und Wirtschaft“ wurde als „rein sozialdemokratisches Parteiblatt“ bezeichnet, „in welchem die völkischen und christlichen Gewerkschaften wiederholt auf das unflätigste beschimpft und angegriffen werden“.* Die Deutschnationalen kritisierten „die Errichtung prunkhafter Kammergebäude in Klagenfurt und Graz“ und forderten, dass die Beträge „zur Linderung der Not der Abgebauten“ verwendet werden sollten.* Die WählerInnen wurden aufgefordert, mit ihrer Stimme diese „unhaltbaren Zustände“ einer „marxistischen Kammerwirtschaft“ zu beenden.*

Die freien Gewerkschaften stützten sich in ihrer Wahlagitation vor allem auf die Betriebsräte. Auch die Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP) mobilisierte für ihre freien Gewerkschaften ihren gesamten Parteiapparat und warb in den Vereinen und Sektionen für die Teilnahme an der AK-Wahl. In der Wahlbewegung verwiesen die Sozialdemokraten immer wieder auf die Notwendigkeit der AK für die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung als Gegenpart zur bürgerlichen Bundesregierung. Die Gewerkschaftskommission veröffentlichte eine umfangreiche Broschüre, in der die Arbeit der Arbeiterkammer Wien auf 185 Seiten nach den Berichten in den Vollversammlungen 1921 bis 1926 beschrieben wird.* Die Gewerkschaftskommission musste einleitend zugeben, dass die Arbeiterkammern noch nicht zur „Herzensangelegenheit“ geworden sind, denn diese wäre eine Voraussetzung für die „Massenpopularität“. Sie müssen sich vielmehr „die Liebe des Proletariats, die gefühlsmäßige482Verknüpfung mit jenen, für die sie vor allem da ist“, noch erobern.* Das war auch mit ein Grund dafür, dass die Sozialdemokraten immer wieder die Aufgabe der Arbeiterkammern zu erklären versuchten, wobei großer Wert auf die Verbindung von AK und freien Gewerkschaften gelegt wurde: „Die Kammern sollen den Gewerkschaften ein Apparat sein, die Wirtschaft zu durchleuchten, sozialpolitisch das Gestrüpp gesetzlicher Einrichtungen zu durchdringen und arbeitsrechtlich alles verteidigen zu helfen.*

Auffallend war, dass es in der Wahlagitation fast keine programmatischen Diskurse gab, vielmehr wurden weltanschauliche und ideologische Gegensätze in den Mittelpunkt gerückt. Die Christlichsozialen betonten, dass die AK nicht weiterhin ein „Bollwerk des Marxismus“ sein dürfe. In einem Aufruf an die „christlichen Arbeiter und Angestellten“ hieß es, dass christliche Männer und Frauen niemals Vertreter der freien Gewerkschaften wählen dürfen, da sich diese „immer mehr als Exponenten des Freidenkertums betätigen“ würden: „Ihr könnt nicht Männer wählen, die unsere Kinder von den Festen der Kirche wegreißen und sie dem Jammer des Tages des ‚proletarischen Kindes‘ überantworten. Ihr könnt nicht Männer wählen, die die gläubige Arbeiterschaft als ‚knieweiche Betbrüder‘, ‚Kerzerlweiber‘ und ‚Kirchenbuckel‘ beschimpfen.* Darüber hinaus kam es auch zu antisemitischen Etikettierungen, wenn Christlichsoziale von einem „jüdischen Klüngel in der Kammer“ sprachen.*

Die Sozialdemokraten wiesen darauf hin, dass die Christlichsozialen und Deutschnationalen im Parlament die Unternehmerinteressen vertreten, wie sich in der Debatte über den Mieterschutz und die Alters- und Invaliditätsversicherung gezeigt hat. Die AK-Wahl soll zeigen, „dass kein Arbeiter mehr von den christlichsozialen Arbeiterverrätern und ihren bürgerlichen Hintermännern etwas wissen will.* Deshalb dürfe diesen „christlichsozialen und deutschnationalen Schwindlern“ keine Stimme gegeben werden.*

Die Kommunisten sahen in der AK ein „Hilfsorgan der bürgerlichen Gesetzgebung und Verwaltung“. Das hätte die Arbeiterschaft bei der Schaffung der Arbeiterkammern aber nicht erstrebt, sie wollte vielmehr ein „Organ des politischen Klassenkampfes“.* Die kommunistischen GewerkschafterInnen versuchten als einzige wahlwerbende Gruppe, einen Wahlkampf mit konkreten politischen Inhalten zu führen. Sie publizierten ihre in der Vollversammlung der Wiener Kammer vorgebrachten Anträge und kritisierten die Ablehnung dieser durch die freigewerkschaftliche Mehrheit. So etwa forderten sie von der AK die politische Unterstützung von Staatsgarantien für Handelskredite mit der Sowjetunion und traten für Änderungen im Bereich der AlV und Altersversicherung ein.* Nachdem die Kommunisten vor allem bei den Ausgesteuerten und Arbeitslosen ihre Basis sahen, kritisierten sie heftig, dass diese überwiegend kein Wahlrecht in die AK bekamen. Sie schrieben von 250.000 Arbeitslosen, welchen durch die Sozialdemokratie das Wahlrecht „geraubt“ worden war.* Die Sozialdemokraten warfen den Kommunisten vor, dass ihre Gewerkschaftsfraktion, die verschiedentlich mit den freien Gewerkschaften eine gewerkschaftliche Einheitsfront gebildet hatte, nun aus dieser im Wahlkampf ausbreche. Solch ein „Separatismus“ würde nur „den Gelben“ (arbeitgeberfreundlichen Gewerkschaften) nützen.*

6.
Kampf um die Wählerliste

Neben der Wahlagitation, die sich vor allen in den Tagen vor der Wahl verstärkte und mittels Parteimedien geführt wurde, spielten Streitfragen über die Wahlberechtigung eine entscheidende Rolle im Wahlkampf. Nach den Rechtsvorschriften* mussten die AG bis zu einem bestimmten Termin ihr Wählerverzeichnis der politischen Behörde bekanntgeben. Auf Grund der Wählerverzeichnisse wurde von der entsprechenden Zweigwahlkommission für jede Sektion eine Wählerliste erstellt. Diese Wählerliste musste anschließend für drei Wochen öffentlich aufgelegt werden, um Einsprüche gegen oder für die Aufnahme in die Wählerliste zu ermöglichen. Diese Einsprüche mussten in den folgenden 14 Tagen von der Zweigwahlkommission entschieden werden. Jedenfalls nahmen in der Reklamationszeit Vertreter aller Gewerkschaften Einblick in die Wählerlisten, um zu kontrollieren, ob ihre potentiellen WählerInnen aufgezeichnet wurden und welche AN von welchen AG in die Liste aufgenommen wurden. Verbunden war dies mit einer medialen Aufforderung an alle AN, ihre Wahlberechtigung durch Einblicknahme die Wählerliste zu überprüfen.

Die Sozialdemokraten, welche nun die Christlichsozialen spöttisch als „Pawelka-Schüler* – benannt nach einem Wiener Magistratsbeamten, dem von der SDAP 1911 Wahlmanipulation für die Christlichsozialen vorgeworfen wurde – nannten, bezichtigten die christlichen Gewerkschaften des Wahlschwindels: „So haben sie in Wien allein zwanzig Pfarrhöfe und Klöster bei der Arbeiterkammerwahl angemeldet. Dazu kommen noch mehrere hundert sonstige ‚Handelsangestellte‘ vom Canisiusverein, Xaver-Pensionsverein oder dem Herz-Jesu-Verein.* Die Sozialdemokraten wollten allerdings vorgesorgt haben, dass diese „neuartigen Handelsunternehmungen“ nicht zur Wahl zugelassen wurden. Die Christlichsozialen konterten, dass sie die AN der Pfarrhöfe und der kirchlichen Vereine nur deshalb angemeldet haben, weil die Sozialdemokraten in manchen 483 Bezirken Wiens AN ihrer Parteiorganisation, von Arbeitervereinen und von Societas, in die Wählerliste aufnehmen ließen: „Durch die Anmeldung des Karitasverbandes wurde dafür Sorge getragen, dass mit ihm zugleich der Societasverband aus der Arbeiterkammerwählerliste ausscheidet. Ohne diese Kompensation wäre es nicht gegangen.“* Darüber hinaus behaupteten sie, in Wählerlisten zahlreiche Personen gefunden zu haben, die mit Sicherheit nicht wahlberechtigt waren. Ein von ihnen in einer Zweigwahlkommission gewünschtes Abschreiben der Wählerliste wurde von den Sozialdemokraten nicht zugelassen.* Die Sozialdemokraten gaben daraufhin zwar zu, dass bei einigen, der von sozialdemokratischen Institutionen in die Wählerliste reklamierten Personen die Wahlberechtigung vielleicht nicht ganz feststand, für die Christlichsozialen wird jedoch der „peinliche Eindruck der als Handelsunternehmungen deklarierten Pfarrhöfe“ bestehen bleiben.* Das und Unklarheiten über das AK-Wahlrecht führte auch in manchen Zweigwahlkommissionen zu – überwiegend parteipolitisch motivierten – Differenzen. So etwa wurde einem Leiter einer Zweigwahlkommission vorgeworfen, sozialdemokratische Anträge nicht zuzulassen und Wahlinstruktionen an Personen zu verteilen, die mit der AK-Wahl nichts zu tun hatten.* Dennoch konnten die AK-Wahlen in Wien und auch in den anderen Bundesländern ohne Zwischenfälle abgehalten werden.

7.
Das Wahlergebnis der AK-Wahlen 1926

Tabelle: Ergebnis der AK-Wahl 1926*

AK WienAK StmkAK OÖAK TirolAK SbgAK KtnAK VbgSumme
Wählerzahl553.440104.72680.97136.30324.02535.91120.757825.633
Abg. gültige Stimmen347.55171.39955.48719.78413.62524.98513.938546.769
Wahlbeteiligung in %66,468,268,554,556,769,668,866,2
Freie Gewerkschaften284.95754.95142.40713.4549.83818.6036.610430.820
Christliche Gewerkschaften30.7505.8527.5274.1501.4321.1955.92256.837
DtVölkische Gewerkschaften205.6236.4665.5532.1712.3554.4471.40642.960
Kommunisten10.2334.13074015.103
Sonstige1.0491.049

Tabelle: Anzahl der Mandate in den AK-Vollversammlungen nach wahlwerbenden Gruppen nach der AK-Wahl 1926*

AK WienAK StmkAK OÖAK TirolAK SbgAK KtnAK VbgSumme
Freie Gewerkschaften111514336303120322
Christliche Gewerkschaften94710311650
DtVölkische Gewerkschaften767477442
Kommunisten3317
GESAMT130645750404040421

In der AK-Wien verloren die freien Gewerkschaften auf hohem Niveau drei Mandate, mit 111 von insgesamt 130 Sitzen, in der Vollversammlung stellten sie jedoch nach wie vor die überwältigende Mehrheit. Die Kommunisten mussten den Verlust von einem Mandat verschmerzen. Die Christlichsozialen gewannen vier Mandate. Die nationalen Gewerkschaften blieben mit sieben Sitzen auf dem Stand des Jahres 1921, hatten sie doch in der vergangenen Periode auch jene Mandate beschickt, die eine Wahlgemeinschaft der nationalen und christlichsozialen Gewerkschaften errungen hatte. In der Steiermark gingen von den verlorenen sieben Sitzen der Sozialdemokraten (nun 51 statt bisher 58 Mandate) vier an die Christlichsozialen und drei an die Kommunisten, die erstmals Einzug in die Vollversammlung hielten. Auch in der AK-Oberösterreich profitierten die christlichsozialen und nationalen Gewerkschaften vom Mandatsverlust der freien Gewerkschaften. War der „christlichsozial-nationale Block“ bisher gemeinsam mit 8 Mandaten in der Kammervollversammlung vertreten, so konnten sie nun 14 KollegInnen (je sieben die Christlichsozialen und Nationalen) entsenden. Die Dominanz der Sozialdemokraten blieb mit 43 statt bisher 49 Mandaten von insgesamt 57 ungebrochen. In Salzburg mussten die Sozialdemokraten nur ein Mandat abgeben. Nationale und christlichsoziale Gewerkschaften bildeten mit nun 10 statt 9 Mandaten weiterhin eine kleine Minderheit in der Vollversammlung mit insgesamt 40 Sitzen. Tirol war das einzige 484

Bundesland, in dem die freien Gewerkschaften gewannen. Sie konnten ihre Mandatsstärke von 33 auf 36 von gesamt 50 Sitzen auf Kosten der nationalen und christlichsozialen Gewerkschaften ausbauen. In Kärnten fällt die relativ starke Stellung der Völkisch-nationalen auf, die zwei Mandate von den freien Gewerkschaften gewinnen konnten. Die Kommunisten zogen erstmals mit einem Mandat in die Vollversammlung ein. Die freien Gewerkschaften dominierten nun 31 statt 33 Mandate, die Vollversammlung mit gesamt 40 Sitzen. In der AK-Vorarlberg schaffte der Verlust von zwei freigewerkschaftlichen Mandaten eine numerische Pattsituation zwischen den sozialdemokratischen und den beiden Gewerkschaften aus den bürgerlichen Lagern. Sowohl die Christlichsozialen wie auch die Völkisch-nationalen gewannen je ein Mandat, wodurch sie zusammen mit 20 Mandaten gleich viel wie die Sozialdemokraten besetzen. Erst nach einer abgebrochenen Konstituierung und zahlreichen Verhandlungen und Vermittlungsversuchen gelang es dem bisherigen freigewerkschaftlichen Präsidenten, wieder einstimmig gewählt zu werden.*

8.
Das Ergebnis der Wiener AK-Wahl 1926

Tabelle: Ergebnis der Wiener AK-Wahl 1926 nach Mandaten*

SektionArbeiterAngestellteVerk. ArbeiterVerk. AngGesamt (1)
AK Wahl1921192619211926192119261921192619211926
Freie Gew70671918661920114111
Christl2533--5159
Nat-Völk-123--377
Komm43------43
Gesamt (2)767624246624421130130
Gesamt (1) = Mandate der Gewerkschaften 1921 und 1926 in der VV der AK Wien.Gesamt (2) = in der jeweiligen Sektionsversammlung und in der VV zu vergebende Mandate 1921 und 1926.

Die freien Gewerkschaften verloren in Wien in der Arbeitersektion 3 Mandate an die Christlichen Gewerkschaften und in der Angestelltensektion ein Mandat an die Völkischen Gewerkschaften. In der Sektion der Verkehrsangestellten gewannen sie ein Mandat von der Christlich-deutschnationalen Wahlgemeinschaft des Jahres 1921. „Sieg der freien Gewerkschaften“ titelte die Arbeiter-Zeitung euphorisch und stellte mit Genugtuung fest, dass es „den christlich-gelben Unternehmenssöldlingen“ nicht gelungen war, die politische Zusammensetzung der Gremien der AK entscheidend zu verändern.* So gesehen konnte in der Tat ein geringer Mandatsverlust als Erfolg gefeiert werden, was vom Linzer Tagblatt denn auch in großen Lettern auf der Seite Eins mitgeteilt wurde.* Die sozialdemokratischen Journalisten in Linz glaubten ein Wachsen „der Erkenntnis der Klassenlage“ in der Arbeiterschaft zu sehen. Sie mussten aber gleichwohl zugeben, dass die AN „bis heute noch nicht in ihrer Gänze die Wichtigkeit der Funktionen der Arbeiterkammer begriffen“ hat, da sonst die Wahlbeteiligung eine höhere gewesen wäre. Dazu kam, dass offenbar AN glaubten, dass die Mandate in der AK ohnehin im sicheren Besitzstand der freien Gewerkschaften wären und deshalb nicht zur Wahl gingen. Wenn auch das Vertrauensvotum bei den abgegebenen Stimmen – so das Tagblatt – ein hohes war, so machte die geringe Wahlbeteiligung Sorge.

Die Christlichsozialen feierten ihren Stimmen- und Mandatszuwachs, welcher trotz „oft schon an Terror grenzender“ sozialdemokratischer Agitation gewonnen wurde.* Von einer „schweren moralischen Schlappe der Sozialdemokratie“ schrieb die christlichsoziale Reichspost. Nachdem die Christlichen in den Wiener Kammergremien weiterhin nur eine verschwindend kleine Gruppe blieben, war es verständlich, dass sie sich darüber freuten, dass sie nicht „ausgemerzt“ wurden, wie es von der Sozialdemokratie angeblich gewünscht wurde.*

Der Deutsche Gewerkschaftsbund, dessen Mandatsstand unverändert blieb, sprach von „glänzenden Erfolgen“ bei der Kammerwahl und sah darin den Beweis, „dass der nationale Gedanke unter der österreichischen Arbeiterschaft in unhaltsamen Fortschritt begriffen“ war.*

Auch die Kommunisten schienen – zumindest offiziell – mit dem Ergebnis trotz des Verlustes von einem Mandat zufrieden zu sein, machten auf sie günstige Stimmengewinne in einigen Wahlsprengeln aufmerksam und bedauerten einmal mehr den „Wahlrechtsraub an den Arbeitslosen“.*

Nur das „Neue Wiener Tagblatt“ brachte das Ergebnis der AK-Wahl in Wien in Verbindung mit der allgemeinen politischen Situation, die parlamentarisch sowie durch große von den Sozialdemokraten geführten Demonstrationen aufgeheizt war. In Verkennung der gegen die Interessen der AN gerichteten Regierungspolitik geißelte das Blatt die Radikalität der linken Parteiführer. Am Stimmenverlust des linken Lagers bei der AK-Wahl ortete das Neue Wiener Tagblatt den Wunsch der Bevölkerung nach einer Entradikalisierung der Politik.* Es war wohl mehr der Wunsch des Journalisten, dies aus dem 485 Wahlergebnis der AK-Wahlen zu lesen, zumal es keinerlei konkreten Ansatz für diese sehr weit hergeholte Interpretation gab.

9.
Resümee*

Die AK-Wahl in Wien (und in der Steiermark) war beeinflusst durch eine miserable wirtschaftliche Lage und eine hohe Arbeitslosigkeit. Die Folgen der sogenannten „Genfer Sanierung“ und der Abbau von AN in großen Betrieben sowie der damit verbundene Rückgang der gewerkschaftlichen Organisierung hatten einen negativen Einfluss auf die Wahlen. Dies zusammen mit den Wahltagen 26. und 27.6., die in die Urlaubszeit fielen und in der viele Wiener AN außerhalb der Stadt waren, trug zur gesunkenen Wahlbeteiligung bei. Von freigewerkschaftlicher Seite wurde selbstkritisch angemerkt, dass nicht alle ihrer Gewerkschaften „die Bedeutung der Arbeiterkammern für die Arbeiter- und Angestelltenschaft erkannt und deshalb nicht die Kammerwahl zu ihrer eigenen Sache gemacht hatten“.* Ein Spezifikum dieser Wahl war, dass Unternehmenskreise auf unterschiedliche Weise – zum Teil über ihr nahe stehende Gewerkschaften – versuchten, Einfluss auf die Wahl, insb bei den Angestellten, zu nehmen. Dennoch haben von 10 zur Wahl angetretenen Arbeiter fast 9, und von 10 Angestellten 7 freigewerkschaftlich gewählt. Die Dominanz der freien Gewerkschaften in den Gremien der Wiener AK konnte nicht ansatzweise in Frage gestellt werden. Die zutage tretenden zahlreichen Unklarheiten im AK-Wahlrecht und die politischen Kämpfe in den Zweigwahlkommissionen um korrekte Wählerlisten wurden in den folgenden Jahren zum formalen Grund für eine Änderung des AKG und der WO, was letztlich zur folgenschweren politischen Absage der AK-Wahlen 1931 und in weiterer Folge zur Ausschaltung der Arbeiterkammern durch das Regime Dollfuß führte.*486