42Waisenpension bei Vatermord im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit
Waisenpension bei Vatermord im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit
Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der (mit Vorsatz begangenen gerichtlich) strafbaren Handlung richtet sich nach dem StGB. Dieses unterscheidet klar zwischen dem Begriff der „strafbaren Handlung“ und jenem der „mit Strafe bedrohten Handlung“.
Ein deliktisches Verhalten im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit ist aber „bloß“ eine „mit Strafe bedrohte“, nicht aber eine konkret auch strafbare Handlung.
Es trifft daher nicht zu, dass für ein Verwirken nach § 88 Abs 1 Z 2 ASVG nur ein vorsätzliches, aber kein schuldhaftes Verhalten erforderlich ist. Eine wenn auch vorsätzlich verübte Tat im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit erfüllt nicht die Voraussetzungen des § 88 Abs 1 Z 2 ASVG.
Zurechnungsunfähigkeit kann nicht als in der betreffenden Person liegender Grund gewertet werden, der die Fällung eines Strafurteils verhindert. Den in § 88 Abs 3 ASVG (explizit) angeführten Gründen (Tod; Abwesenheit) ist nämlich gemein, dass sie keine rechtlichen, sondern tatsächliche Gründe sind, die einer Hauptverhandlung und damit auch einem Strafurteil rein faktisch entgegenstehen. Um sich in den demonstrativen Katalog des § 88 Abs 3 ASVG systemkonform einzufügen, muss das auch auf die „anderen in der Person des Betroffenen liegenden“ Gründe zutreffen.
[1] Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch des 1989 geborenen Kl auf eine Waisenpension nach seinem am 21.9.2018 verstorbenen Vater.
[2] Beim Kl, bei dem es ab dem 16. Lebensjahr erstmals zum Auftreten von Symptomen gekommen ist, liegt die Grunderkrankung einer paranoiden Schizophrenie vor. Anfangs bestanden akustische Halluzinationen; im weiteren Verlauf kamen visuelle Halluzinationen und die Entwicklung eines Wahnsystems hinzu. Eine medikamentöse Behandlung fand mit Unterbrechungen statt. Auch unter Waisenpension 451 kontrollierten Bedingungen konnte jedoch keine Symptomfreiheit erzielt werden.
[3] Mit Urteil des LG für Strafsachen Wien als Geschworenengericht vom 21.2.2019 (künftig kurz: Einweisungsentscheidung) wurde der Kl in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs 1 StGB eingewiesen. Dem lag zugrunde, dass er am 21.9.2018 seinen Vater unter dem Einfluss eines die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Zustands (paranoide Schizophrenie; psychische Verhaltensstörung durch Cannabinoide) vorsätzlich getötet und damit eine Tat begangen hat, die als Verbrechen des Mordes nach § 75 StGB mit einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe bedroht ist. Seit 21.2.2019 befindet sich der Kl im Maßnahmenvollzug.
[4] Mit Bescheid vom 24.2.2022 lehnte die bekl Pensionsversicherungsanstalt den Antrag des Kl vom 14.2.2022, ihm die Waisenpension nach seinem Vater zu gewähren, wegen Verwirkung des Leistungsanspruchs ab.
[5] Mit seiner Klage begehrt der Kl die Zuerkennung der begehrten Waisenpension. Er verwies darauf, dass Leistungsansprüche nach § 89 (Abs 1 Z 1) ASVG nur dann ruhen würden, wenn der Anspruchsberechtigte eine Freiheitsstrafe verbüße oder in den Fällen des §§ 21 Abs 2, 22 und 23 StGB angehalten werde. Personen, die sich im Maßnahmenvollzug nach § 21 Abs 1 StGB befänden, seien davon hingegen (bewusst) ausgenommen. Analog dazu könne der Anspruch auf eine Leistung durch eine im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit begangene Tat auch nicht verwirkt werden.
[...]
[7] Das Erstgericht erkannte die Bekl schuldig, dem Kl ab 14.2.2022 eine Waisenpension in gesetzlicher Höhe zu zahlen. So wie die Erbunwürdigkeit nach § 539 ABGB (früher § 540 ABGB) setze auch die Verwirkung nach § 88 Abs 1 Z 2 ASVG eine vorsätzlich begangene gerichtlich strafbare Handlung voraus. Zu § 539 ABGB habe der OGH ausgesprochen, dass die fehlende Zurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt dazu führe, dass eine tatbestandsmäßige und rechtswidrige Handlung im konkreten Fall nicht vorwerfbar sei und daher die Rechtsfolge des § 539 ABGB nicht auslöse. Dies gelte auch im Kontext des § 88 ASVG, sodass es im Anlassfall nicht zu einer Verwirkung gekommen sei.
[8] Das Berufungsgericht wies das Klagebegehren ab. Der Wortlaut des § 88 Abs 1 Z 2 erster Halbsatz ASVG stelle bloß auf die Verübung einer mit Vorsatz begangenen gerichtlich strafbaren Handlung ab. Dass sie auch schuldhaft begangen worden sein müsse, fordere die Bestimmung hingegen nicht. Da die Schuldfähigkeit nach der Rsp keine Voraussetzung für die Bildung eines Vorsatzes sei, könnten ua auch Geisteskranke oder Unmündige einen entsprechenden Willen bilden und vorsätzlich handeln. Vor diesem Hintergrund komme dem Kl aufgrund seiner fehlenden Zurechnungsfähigkeit zum Tatzeitpunkt zwar ein Schuldausschließungsgrund zugute. Das ändere aber nichts daran, dass er seinen Vater vorsätzlich getötet habe, was auch in der Einweisungsentscheidung (bindend) ausgesprochen worden sei. Das erste Tatbestandselement des § 88 Abs 1 Z 2 ASVG sei daher erfüllt. Das zweite Tatbestandselement, nämlich die Verurteilung zu einer mehr als einjährigen Freiheitsstrafe, sei zwar nicht erfüllt. Das wirke sich aber nicht aus, weil dieses Erfordernis nach § 88 Abs 3 ASVG entfalle, wenn ein Strafurteil wegen Todes, Abwesenheit oder eines anderen in der betreffenden Person liegenden Grundes nicht gefällt werden könne. Da die Tatbegehung im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit als ein derartiger anderer Grund anzusehen sei, sei der Anspruch des Kl nach § 88 Abs 1 Z 2 iVm Abs 3 ASVG verwirkt. Der Verweis auf § 89 ASVG und § 539 ABGB sei nicht stichhältig.
[9] Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil der OGH zur Frage, ob eine Verwirkung nach § 88 Abs 1 Z 2 ASVG ausscheide, wenn es wegen der Zurechnungsunfähigkeit des Täters nicht zu einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe komme, noch nicht Stellung genommen habe.
[...]
[12] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Sie ist auch berechtigt.
[13] 1. Vorauszuschicken ist, dass das Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen des § 260 ASVG nicht strittig ist. Zu prüfen ist daher nur, ob der Leistungsanspruch infolge der Tat des Kl verwirkt ist.
[14] 2. Nach § 88 Abs 1 Z 2 ASVG steht ein Anspruch auf Geldleistungen aus dem betreffenden Versicherungsfall Personen nicht zu, die den Versicherungsfall durch die Verübung einer mit Vorsatz begangenen gerichtlich strafbaren Handlung veranlasst haben, derentwegen sie zu einer mehr als einjährigen Freiheitsstrafe rechtskräftig verurteilt worden sind. Das Erfordernis eines rechtskräftigen Strafurteils entfällt, wenn ein solches wegen des Todes, der Abwesenheit oder eines anderen in der betreffenden Person liegenden Grundes nicht gefällt werden kann (§ 88 Abs 3 ASVG).
[15] 3. Dem Berufungsgericht ist beizupflichten, dass die Schuldfähigkeit keine Voraussetzung für die Bildung eines Vorsatzes iSd § 5 StGB ist (RISJustiz RS0090295 [T1, T2]; RS0088967; Reindl-Krauskopf in Höpfel/Ratz, WK2 StGB § 5 Rz 4 ua). Durch die Zurechnungsunfähigkeit wird zwar die Schuldfähigkeit, nicht aber ein vorsätzliches Handeln ausgeschlossen, sodass auch ein Schuldunfähiger vorsätzlich handeln kann (RS0088967; Stricker in Leukauf/Steininger, StGB4 § 5 Rz 30 ua). Das Berufungsgericht weist in diesem Kontext auch zu Recht darauf hin, dass die Anordnung der Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher nach § 21 Abs l StGB die Begehung einer „mit Strafe bedrohten Handlung“ (als Anlasstat) voraussetzt, die nur dann gegeben ist, wenn sowohl der objektive als auch der subjektive Tatbestand des Delikts erfüllt ist (RS0119623; Ratz in Höpfel/Ratz, WK2 StGB § 21 Rz 14).
[16] 4. Daraus sowie dem Umstand, dass in § 88 Abs 1 Z 2 ASVG ein schuldhaftes Handeln (§ 4 StGB) nicht genannt wird, lässt sich aber nicht ableiten, dass die Verwirkung eines Anspruchs davon unabhängig ist und daher auch bei nicht schuldfähigen (zurechnungsunfähigen) Personen in Betracht kommt. 452
[17] 4.1. Der seit seiner Einführung mit der 31. ASVGNovelle BGBl 1974/775 unverändert gebliebene § 88 Abs 1 Z 2 ASVG steht historisch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Einführung des StGB am 1.1.1975. So führen die Gesetzesmaterialien (ErläutRV 1286 BlgNR 13. GP 14) aus: „Durch die vorgeschlagenen Änderungen sollen die angeführten Bestimmungen [Anm: ua § 88 ASVG] in Form der Spezialanpassung an die Terminologie des am 1. Jänner 1975 in Kraft tretenden Strafgesetzbuches, BGBl. Nr. 60/1974, angeglichen werden. In diesem Zusammenhang wird auch auf die Regierungsvorlage eines Strafrechtsanpassungsgesetzes (850 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des Nationalrates, XIII. GP.), inzwischen verlautbart unter BGBl. Nr. 422/1974, hingewiesen. So wird im § 88 Abs 1 und 2 der Ausdruck ‚Verbrechen‘ durch entsprechende Formulierungen [Anm: mit Vorsatz begangene gerichtlich strafbare Handlung] ersetzt. [...] Im § 89 Abs. 1 Z 1 soll der Hinweis auf die Anhaltung in einem Arbeitshaus entfallen, weil nach dem StGB die Einweisung in ein Arbeitshaus nicht mehr vorgesehen ist. Dafür wird auf die durch das Strafgesetzbuch neu eingeführte Anhaltung in Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher, für entwöhnungsbedürftige Rechtsbrecher und für gefährliche Rückfallstäter Bedacht genommen.
“
[18] 4.2. Abgesehen davon, dass der Gesetzgeber den Begriff „strafbare Handlung“ daher ausdrücklich iSd Strafrechts verstanden wissen wollte, folgt das auch aus systematischen Erwägungen, weil es widersprüchlich wäre, wenn das Gesetz zwar strafrechtliche Begriffe verwenden, damit jedoch anderes meinen würde (2 Ob 100/19y [ErwGr 4.2.]). Die Auslegung des Tatbestandsmerkmals der (mit Vorsatz begangenen gerichtlich) strafbaren Handlung richtet sich daher nach dem StGB. Dieses unterscheidet klar zwischen dem Begriff der „strafbaren Handlung“ und jenem der „mit Strafe bedrohten Handlung“.
[19] 4.3. Unter einer „strafbaren Handlung“ ist ein tatbestandsmäßiges, rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten zu verstehen, das auch allfälligen zusätzlichen Voraussetzungen für die Strafbarkeit genügt (RS0090571 [T2]; RS0119223; 1 Ob 116/17s; Ratz in Höpfel/Ratz, WK2 StGB Vorbemerkungen zu §§ 28-31 Rz 1 ua). Zu diesen zusätzlichen Voraussetzungen gehört insb das Fehlen von Strafausschließungsgründen im weiteren Sinn (17 Os 3/18x = SSt 2018/34).
[20] 4.4. Eine „mit Strafe bedrohte Handlung“ meint demgegenüber eine Tat, die einige wesentliche, aber nicht alle Voraussetzungen einer Straftat erfüllt (7 Ob 11/17v; Höpfel in Höpfel/Ratz, WK2 StGB § 1 Rz 15; so auch die ErläutRV zum StGB 30 BlgNR 13. GP 104 f). So setzt eine mit Strafe bedrohte Handlung zwar voraus, dass sowohl der objektive als auch der subjektive Tatbestand des Delikts erfüllt sind (RS0119623; RS0120218). Ein deliktisches Verhalten im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit ist aber „bloß“ eine „mit Strafe bedrohte“, nicht aber eine konkret auch strafbare Handlung (RS0132557; Ratz in Höpfel/Ratz, WK2 StGB § 54 Rz 8; Zöchbauer/Bauer in Leukauf/Steininger, StGB4 § 299 Rz 4 ua). Das entspricht auch dem Willen des historischen Gesetzgebers, wonach nicht bestraft werden kann, wer eine „mit Strafe bedrohte Handlung in Zurechnungsunfähigkeit begangen hat
“ (ErläutRV [zum StGB] 30 BlgNR 13. GP 98).
[21] 4.5. Vor dem Hintergrund dieser Grundsätze trifft daher nicht zu, dass für ein Verwirken nach § 88 Abs 1 Z 2 ASVG nur ein vorsätzliches, aber kein schuldhaftes Verhalten erforderlich ist. Ein solches wird zwar nicht ausdrücklich genannt, ist durch das Abstellen auf eine „strafbare Handlung“ jedoch sehr wohl ein (unausgesprochenes) Tatbestandselement, das zusätzlich zum Vorsatz vorliegen muss. Das Erfordernis des Vorsatzes dient entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts daher nur dazu, die an die Tat – und nicht an den Täter – gestellten Anforderungen festzulegen, indem bloße Fahrlässigkeitsdelikte von der Verwirkung ausgenommen werden (vgl 10 ObS 135/90 SSV-NF 4/66). Eine wenn auch vorsätzlich verübte Tat im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit erfüllt daher nicht die Voraussetzungen des § 88 Abs 1 Z 2 ASVG.
[22] 5. Dieses Ergebnis wird sowohl durch die vom Kl ins Treffen geführte Bestimmung des § 89 ASVG als auch die vom Erstgericht herangezogene Rsp zu § 540 ABGB gestützt.
[23] 5.1. Zwar kann aus der Nichterwähnung des § 21 Abs 1 StGB in § 89 Abs 1 Z 1 ASVG kein direkter Schluss auf die Verwirkung gezogen werden, weil das Gesetz an eine Unterbringung nach § 21 Abs 1 StGB nicht keine, sondern aufgrund der Besonderheiten dieser Form der Unterbringung mit § 324 Abs 3 und 4 ASVG nur andere Konsequenzen knüpft (10 ObS 90/19m; 10 ObS 150/17g SSV-NF 32/6; 10 ObS 96/13k SSV-NF 27/56). Die hier relevante, ebenfalls auf die 31. ASVG-Novelle zurückgehende Passage des § 89 Abs 1 Z 1 ASVG bestätigt aber, dass der Gesetzgeber bewusst zwischen zurechnungsunfähigen Personen (§ 21 Abs 1 StGB) und zurechnungsfähigen Personen (§§ 21 Abs 2, 22, 23 StGB) differenziert und sie auch unterschiedlich behandelt.
[24] 5.2. Es ist auch der Ansicht des Erstgerichts zuzustimmen, dass die Auslegung des § 539 ABGB idF des ErbRÄG 2015 (BGBl I 2015/87BGBl I 2015/87) auf einer vergleichbaren Ausgangslage beruht wie die des § 89 (richtig: 88 [Anm der Rezensentin]) Abs 1 Z 2 ASVG. Denn auch die Bezugnahme auf eine vorsätzlich begangene „gerichtlich strafbare Handlung“ in der Vorgängerbestimmung des § 540 ABGB idF des BGBl 1974/496 erfolgte zur Anpassung an die Begriffe bzw Begriffsinhalte des (damals neuen) StGB (Bericht des Justizausschusses 1240 BlgNR 13. GP 1). Darauf aufbauend nimmt die Rsp bei Begehung einer Tat im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit keine Erbunwürdigkeit an, weil tatbestandsmäßiges Handeln bei fehlender Schuld keine „strafbare Handlung“ darstellt (2 Ob 100/19y [§ 539 ABGB]; 6 Ob 636/93 [§ 540 ABGB aF]).
[25] 6. Die Ansicht des Berufungsgerichts kann auch nicht auf § 88 Abs 3 ASVG gestützt werden.
[26] Ein „Strafurteil“ liegt zwar nur dann vor, wenn es einen Strafausspruch enthält, darin also auf eine (Geld- oder Freiheits-)Strafe erkannt wird 453 (RS0091689 [T1]; vgl § 429 Abs 5 StPO idF vor dem Maßnahmenvollzugsanpassungsgesetz BGBl I 2022/223BGBl I 2022/223, nunmehr § 433 Abs 5 StPO). Dementsprechend ist die Anordnung der Unterbringung in einer Anstalt nach § 21 Abs 1 StGB kein Strafurteil, sondern einem Strafurteil nur gleichzuhalten (11 Os 131/17z mwN). Dennoch kann die Zurechnungsunfähigkeit nicht als in der betreffenden Person liegender Grund gewertet werden, der die Fällung eines Strafurteils verhindert. Den in § 88 Abs 3 ASVG (explizit) angeführten Gründen (Tod; Abwesenheit) ist nämlich gemein, dass sie keine rechtlichen, sondern tatsächliche Gründe sind, die einer Hauptverhandlung und damit auch einem Strafurteil rein faktisch entgegenstehen. Um sich in den demonstrativen Katalog des § 88 Abs 3 ASVG systemkonform einzufügen, muss das auch auf die „anderen in der Person des Betroffenen liegenden“ Gründe zutreffen. Es kommen also nur damit vergleichbare Gründe – wie etwa Verhandlungsunfähigkeit – in Betracht, nicht aber solche Gründe, die bereits den Schuld- oder Tatvorwurf an sich beseitigen (so im Ergebnis auch Auer-Mayer, Mitverantwortung in der Sozialversicherung [2018] 391 f). Das entspricht auch der Gesetzessystematik und dem offenkundigen Zweck des § 88 Abs 3 ASVG, die Verwirkung auch in den (Ausnahme-)Fällen Platz greifen zu lassen, in denen zwar eine mit Vorsatz begangene gerichtlich strafbare Handlung vorliegt, ein Strafurteil aber (faktisch) nicht ergehen kann. Das Erfordernis der „strafbaren Handlung“ soll damit hingegen nicht eingeschränkt werden.
[27] 7. Zusammenfassend erfüllt eine im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit begangene Tat nicht die Voraussetzungen des § 88 Abs 1 Z 2 ASVG und führt daher auch nicht zu einer Verwirkung von Ansprüchen. Der Gesetzgeber hat sich bewusst dazu entschieden, an subjektiv nicht vorwerfbare Handlungen (auch) keine sozialrechtlichen Sanktionen zu knüpfen und nimmt dabei selbst gravierende Fälle wie den vorliegenden in Kauf. Das mag auf den ersten Blick überraschen, stellt letztlich aber eine konsequente Anwendung des (einfachgesetzlich) in § 4 StGB verankerten Schuldprinzips dar.
[28] 8. Der Revision ist daher Folge zu geben und im Ergebnis das klagestattgebende Ersturteil wiederherzustellen. [...]
Die vorliegende E des OGH betrifft einen – glücklicherweise – nicht alltäglichen Fall: Der Sohn ermordet seinen Vater und begehrt in der Folge die Waisenpension nach diesem. Auf den ersten Blick mutet dies natürlich absurd an. Hier wies der Fall allerdings die Besonderheit auf, dass der Kl die Tat im Zustand der Zurechnungsunfähigkeit begangen hat. Während das Berufungsgericht das Klagebegehren dessen ungeachtet abgewiesen hat, haben das Erstgericht und der OGH das Bestehen des Anspruchs auf die Pension bejaht. Offensichtlich unstrittig war im gegenständlichen Verfahren die Zurechnungsunfähigkeit des Kl. Er war zum Zeitpunkt der Ermordung seines Vaters bereits Ende zwanzig und galt wahrscheinlich infolge Erwerbsunfähigkeit gem § 252 Abs 2 Z 3 ASVG nach wie vor als Kind, weshalb trotz seines Alters auch ein Anspruch auf Waisenpension in Betracht kam. In der vorliegenden Besprechung sollen aus Platzgründen Schwerpunkte gesetzt werden. Daher wird auf die Thematik der Erbunwürdigkeit nicht eingegangen. Auch die Ruhensbestimmung des § 89 ASVG sowie die Regelungen über die Legalzession nach § 324 ASVG werden hier ausgeklammert (vgl dazu die Ausführungen in der vorliegenden E sowie in OGH vom 23.7.2013, 10 ObS 96/13k und OGH vom 30.7.2019, 10 ObS 90/19m).
Bereits in den Vorläuferregelungen des ASVG waren dem heutigen § 88 Abs 1 Z 2 ASVG entsprechende Bestimmungen enthalten. Beispielsweise hatte gem § 13 Z 5 PVG 1906 (Gesetz, betreffend die PV der in privaten Diensten und einiger in öffentlichen Diensten Angestellten, RGBl 1907/1) die Witwe keinen Anspruch auf Witwenrente, wenn sie durch ein strafgerichtliches Urteil überwiesen war, den Tod des Gatten durch eine vorsätzliche Handlung verschuldet oder mitverschuldet zu haben (entsprechend auch § 33 Abs 2 Z 5 AngestelltenversicherungsG, BGBl 1926/388). Nach § 40 Abs 1 AngVersG hatte auf Versicherungsleistungen aus der UV oder PV keinen Anspruch, wer den Versicherungsfall durch ein Verbrechen veranlasst hatte, wenn er dieses Verbrechens mit einem rechtskräftigen Strafurteil schuldig erkannt worden ist (eine entsprechende Regelung fand sich auch in § 143 Abs 1 ArbeiterversicherungsG, BGBl 1927/125, sowie in § 54 Abs 1 und 3 GSVG 1935, BGBl 1935/107). Auch in der Stammfassung des ASVG wurde auf die Verübung eines Verbrechens abgestellt, dessen der Betreffende mit rechtskräftigem Strafurteil schuldig erkannt worden ist. Die im vorliegenden Fall ebenfalls in Rede stehende Regelung des § 88 Abs 3 ASVG gab es bereits in der Stammfassung des ASVG und steht diese bis heute unverändert in Geltung. Gemäß der nunmehr geltenden Bestimmung des § 88 Abs 1 Z 2 ASVG steht ein Anspruch auf Geldleistungen aus dem betreffenden Versicherungsfall Personen nicht zu, die den Versicherungsfall durch die Verübung einer mit Vorsatz begangenen gerichtlich strafbaren Handlung veranlasst haben, derentwegen sie zu einer mehr als einjährigen Freiheitsstrafe rechtskräftig verurteilt worden sind. Nach § 88 Abs 1 Z 2 kann nicht nur der Versicherte, sondern auch andere Personen, zB Hinterbliebene, Täter sein, wobei der Vorsatz nicht auf die Herbeiführung des Versicherungsfalles gerichtet sein muss (vgl Schramm in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 88 Rz 15 f mwN [Stand 1.10.2021, rdb.at]; Schrammel in Tomandl/Felten [Hrsg], Sozialversicherungssystem 2.1.5.2.1.A.). 454
Zuzustimmen ist dem OGH zunächst in seiner Auffassung, dass der mit BGBl 1974/775 eingeführte § 88 Abs 1 Z 2 ASVG historisch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Erlassung des StGB steht und ua die in § 88 Abs 1 Z 2 ASVG verwendeten Begriffe auch iSd StGB zu verstehen sind. Die vom OGH zitierten Gesetzesmaterialien sind hier eindeutig („die angeführten Bestimmungen sollen an die Terminologie des am 1. Jänner 1975 in Kraft tretenden Strafgesetzbuches angeglichen werden“). Zudem soll mit dem OGH von der im Strafrecht herrschenden Ansicht (vgl die Nachweise in der E) ausgegangen werden, dass die Schuldfähigkeit keine Voraussetzung für die Bildung eines Vorsatzes iSd § 5 StGB ist, der Kl die Tötung des Vaters also mit Vorsatz begangen hat.
§ 4 StGB stellt seit seinem Inkrafttreten unverändert folgenden Grundsatz auf: „Strafbar ist nur, wer schuldhaft handelt.“ Die Materialien zum StGB sind für den vorliegenden Fall sehr aussagekräftig und sollen hier daher näher angeführt werden. Sie sprechen aus, dass Schuld grundlegende Voraussetzung jeder Bestrafung ist. Strafe sei sinnvoll und gerechtfertigt nur als Antwort auf eine fehlerhafte Willensbestimmung, für die der Mensch vor der Gesellschaft verantwortlich einzustehen hat. Diese Verantwortung werde dem Zurechnungsfähigen auferlegt. Ua Zurechnungsunfähigkeit schließe die Schuld aus (ErläutRV 30 BlgNR 13. GP 64). Wer eine mit Strafe bedrohte Handlung in Zurechnungsunfähigkeit begangen hat, könne nicht bestraft werden, auch wenn er mit großer Wahrscheinlichkeit weitere derartige Taten erwarten lässt (ErläutRV 30 BlgNR 13. GP 98). Die vorbeugenden Maßnahmen beantworten nicht die Schuld, sondern eine qualifizierte Gefährlichkeit des Täters. Sie seien ausschließlich durch die kriminalpolitische Notwendigkeit gerechtfertigt, die Gesellschaft vor der Gefährlichkeit des Rechtsbrechers zu schützen. Die Strafe solle als Übel empfunden werden. Soweit der vorbeugenden Maßnahme gleichfalls ein Übelscharakter anhafte, sei er nicht als Inhalt der Maßnahme gewollt (ErläutRV 30 BlgNR 13. GP 99; vgl auch OGH 23.7.2013, 10 ObS 96/13k).
Die Materialien führen weiters aus, dass sich der Ausdruck „mit Strafe bedrohte Handlung“ im Sprachgebrauch der Wissenschaft und der deutschsprachigen Gesetzgebung für Handlungen eingebürgert habe, die zwar auf der äußeren Tatseite ein tatbildmäßiges Unrecht vollständig herstellen, auf der inneren Tatseite die Voraussetzungen der Strafbarkeit aber nicht voll erfüllen und daher keine Strafe nach sich ziehen. Indem § 21 Abs 1 StGB nicht von einer strafbaren, sondern von einer mit Strafe bedrohten Handlung spreche, bringe er deutlich genug zum Ausdruck, dass die Tat in Zurechnungsunfähigkeit begangen sein kann (ErläutRV 30 BlgNR 13. GP 104 f). Auch in der Lehre wird darauf hingewiesen, dass ein Tatbestand des gerichtlichen materiellen Strafrechts als mit Strafe bedrohte Handlung bezeichnet wird, wenn nicht alle Voraussetzungen der Strafbarkeit verlangt werden, so wie etwa das Erfordernis schuldhaften Verhaltens; ansonsten heißt sie strafbare Handlung (Haslwanter in Höpfel/Ratz [Hrsg], WK2 StGB § 21 Rz 31 [Stand 15.1.2024, rdb.at]). Die zitierten Ausführungen sowohl in den Materialien zur ASVG-Novelle BGBl 1974/775 als auch zum StGB unterstreichen die Richtigkeit der Ansicht des OGH, dass der in § 88 Abs 1 Z 2 ASVG verwendete Begriff der gerichtlich strafbaren Handlung iSd StGB zu verstehen ist. Eine zurechnungsunfähige Person wie der Kl kann „nur“ eine mit Strafe bedrohte Handlung begehen, aber keine strafbare Handlung iSd § 88 Abs 1 Z 2 ASVG. Insofern würde die Verwirkung der Waisenpension im vorliegenden Fall bereits daran scheitern. Aber selbst wenn man dem nicht folgen möchte, ist hier auch noch aus anderen Gründen keine Verwirkung geboten (siehe die weiteren Ausführungen).
Das Sanktionensystem des StGB ist grundsätzlich zweispurig aufgebaut, indem es zwischen – gegen die Gefährlichkeit von Rechtsbrechern gerichteten – freiheitsentziehenden vorbeugenden Maßnahmen einerseits und Strafen andererseits unterscheidet (Lässig in Höpfel/Ratz [Hrsg], WK2 StGB Vorbemerkungen Rz 1 [Stand 1.9.2010, rdb.at]; manchmal wird die Diversion als „dritte Spur“ bezeichnet, vgl Lässig in Höpfel/Ratz [Hrsg], WK2 StGB Vorbemerkungen Rz 4 mwN [Stand 1.9.2010, rdb.at] sowie insgesamt Schmidthuber, Konfiskation, Verfall und Einziehung [2016] 2 f mwN). Das StGB kennt an Strafen vor allem die Freiheitsstrafe und die Geldstrafe (Tipold in Leukauf/Steininger, StGB4 Vorbemerkungen zu den §§ 18-31a Rz 2 [Stand 1.10.2016, rdb.at]). Nach der klaren Rechtslage kann eine Strafe, also auch eine Freiheitsstrafe, nur verhängt werden, wenn der Täter im Zeitpunkt der Tat zurechnungsfähig war. Der Maßnahmenvollzug, in dem sich der Kl befindet, ist daher keine Freiheitsstrafe iSd § 88 Abs 1 Z 2 ASVG, sodass auch die Voraussetzung der Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe im vorliegenden Fall nicht erfüllt ist. Davon ist auch das Berufungsgericht ohnehin nicht ausgegangen, es hat sich aber in der Folge für die Annahme der Verwirkung auf § 88 Abs 3 ASVG gestützt, was höchst problematisch ist (dazu 3.).
Zum Zweck der Bestimmung des § 88 Abs 1 Z 2 ASVG treffen leider die Materialien keine Aussage, allerdings gibt es hier verschiedene Literaturstimmen. Auer-Mayer (Mitverantwortung in der Sozialversicherung [2018] 332 f) führt aus, dass der Gesetzgeber ua die Verübung gewisser mit Vorsatz begangener Straftaten als derart „verpönt“ beurteilt, Waisenpension 455 dass er das Entstehen einer Geldleistungsberechtigung aus daraus resultierenden Versicherungsfällen für unangemessen – sohin für die Versichertengemeinschaft nicht zumutbar – hält. Die Leistungsberechtigten hätten demnach insoweit selbst die Konsequenzen ihres Verhaltens zu tragen, ohne sich auf eine Leistungspflicht der Solidargemeinschaft berufen zu können. Nach Schramm (in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 88 Rz 1 [Stand 1.10.2021, rdb.at]) sieht der Gesetzgeber die Verwirkung vor, wenn in genau bezeichneten Einzelfällen das zum Entstehen eines Leistungsanspruchs führende Verhalten eine extrem unbillige Belastung der Versichertengemeinschaft bewirken würde. Felten (Eigenverantwortung und Solidarität in der Sozialversicherung – ein Widerspruch? ZAS 2015, 253) drückt es dahingehend aus, dass der Ausschluss aus der Solidargemeinschaft deshalb erfolgt, weil der Versicherte den Versicherungsfall auf subjektiv vorwerfbare Weise selbst herbeigeführt hat. Dies würden die in § 88 Abs 1 Z 1 und Z 2 ASVG geregelten Verwirkungstatbestände klar zu erkennen geben. Genau an der von Felten angesprochenen subjektiven Vorwerfbarkeit fehlt es hier. Sowohl die Witwen/Witwerpension als auch die Waisenpension verfolgen den Zweck, den durch den Tod entgangenen Unterhaltsanspruch zu substituieren (Neumayr in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 260 Rz 2 mwN [Stand 1.3.2021, rdb.at]). Ermordet jemand im Zustand der Zurechnungsfähigkeit seinen Gatten oder einen Elternteil, ist ihm das auch subjektiv vorwerfbar, er hätte nämlich den Mord und in der Konsequenz auch die Herbeiführung des Versicherungsfalles des Todes willentlich unterlassen können und hätte dann auch keine Hinterbliebenenpension zur Absicherung seines Lebensunterhaltes benötigt, weil der Unterhaltspflichtige noch leben würde. Derjenige, der den Versicherungsfall durch bestimmte Handlungen in vorwerfbarer Weise herbeigeführt hat, soll nach dem Willen des Gesetzgebers in der Folge nicht daraus Leistungsansprüche ableiten können, dies wäre der Versichertengemeinschaft in der Tat nicht zumutbar. Der Zurechnungsunfähige hat hingegen keine Kontrolle über seine Handlung, die den Versicherungsfall herbeigeführt hat (im vorliegenden Fall hielt der Sohn den Vater während des Mordes für den Teufel, vgl Aichinger, Die Presse 2023/45/01), er kann deshalb iSd Strafrechts auch nicht bestraft werden, sondern es kommt „nur“ zum Schutz der Allgemeinheit uU eine entsprechende Maßnahme in Betracht. Der Zweck der Bestimmung des § 88 Abs 1 Z 2 ASVG gebietet daher nach dem Gesagten die Verwirkung des Leistungsanspruchs bei solchen Personen nicht.
Der OGH hat in der vorliegenden E anders als das Berufungsgericht die Zurechnungsunfähigkeit nicht als in der betreffenden Person liegenden Grund gewertet, der nach § 88 Abs 3 ASVG das Erfordernis eines rechtskräftigen Strafurteils entbehrlich macht.
Die vom OGH vorgebrachten Argumente überzeugen. Angemerkt sei jedoch, dass eine paranoide Schizophrenie – je nach Intensität der Symptome – wohl gleichzeitig Zurechnungsunfähigkeit und Verhandlungsunfähigkeit (die vom OGH als ein Grund iSd § 88 Abs 3 ASVG genannt wird) nach sich ziehen kann. Das Tatbestandsmerkmal der „anderen in der betreffenden Person liegenden Gründe“ ist in hohem Maße wertausfüllungsbedürftig. Dabei sind sicher die ausdrücklich genannten Gründe zu berücksichtigen, es muss aber mE zudem ins Kalkül gezogen werden, dass das ASVG gerade auch auf den Schutz von Personen wie den Kl abzielt (vgl § 123 Abs 4 Z 2 lit a, § 252 Abs 2 Z 3 und Abs 3 ASVG). Noch ein weiterer Aspekt ist zu beachten, wie im Folgenden ausgeführt werden soll.
Wenn man wie das Berufungsgericht unter einen „anderen in der betreffenden Person liegenden Grund“ iSd § 88 Abs 3 ASVG auch die Zurechnungsunfähigkeit des Täters subsumieren möchte, müsste man eine solche Subsumtion natürlich nicht nur beim Versicherungsfall des Todes, sondern auch bei Herbeiführung der anderen Versicherungsfälle (zB jenem der geminderten Arbeitsfähigkeit) durchführen. Dazu soll ein Gedanke aufgegriffen werden, den Müller einst in einer Entscheidungsglosse ausgeführt hat (zu OGH10 ObS 135/90 ZAS 1991, 212 ff [214]). Lege man die Regelung des § 88 Abs 1 Z 2 bzw Abs 3 ASVG so aus, dass bei einem nicht verantwortlichen und daher nicht verurteilbaren Täter die Verurteilung außer Betracht bleibt, führe dies – wie Müller darstellt – dazu, den für seine Taten nicht Verantwortlichen sozialversicherungsrechtlich strenger zu behandeln als den Zurechnungsfähigen, da beim Zurechnungsunfähigen die Tat genüge, beim Zurechnungsfähigen dagegen überdies die Verhängung einer mehr als einjährigen Freiheitsstrafe erforderlich sei. Die zweite denkbare Auslegungsvariante bürde dem Sozialversicherungsträger schlechthin Unmögliches auf, nämlich die vorfrageweise Beurteilung, zu welcher Freiheitsstrafe der nicht Zurechnungsfähige im Falle seiner Zurechnungsfähigkeit fiktiv verurteilt worden wäre. Beide möglichen Auslegungsvarianten des § 88 Abs 3 ASVG führen nach Ansicht von Müller zum dringenden Verdacht der Verfassungswidrigkeit der Norm (siehe näher Müller, ZAS 1991, 214).
Aus heutiger Sicht ist in Anknüpfung an die Ausführungen von Müller auch die Frage zu stellen, ob man – legt man Z 2 iVm Abs 3 tatsächlich so aus, dass beim zurechnungsunfähigen Täter (im Gegensatz zum zurechnungsfähigen) die Tat für den Eintritt der Verwirkung genügt – nicht uU zu einer Diskriminierung aufgrund einer Behinderung gelangt. 456
Der Schutz behinderter Personen auch vor Diskriminierung hat in der Gegenwart sowohl international als auch national große Bedeutung. In den einschlägigen Regelungen finden sich diverse Definitionen von Behinderung. Auf internationaler Ebene ist in erster Linie neben Art 21 GRC die auch von Österreich ratifizierte UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu nennen. Gem Art 1 Abs 2 UN-BRK zählen zu den Menschen mit Behinderungen Menschen, die langfristige körperliche, psychische, intellektuelle oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe, gleichberechtigt mit anderen, an der Gesellschaft hindern können. Weiters ist die RL 2000/78/EG von großer Relevanz, die unmittelbare und mittelbare Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf ua aufgrund einer Behinderung verbietet. In diesem Zusammenhang ist auf die Judikatur des EuGH hinzuweisen, wonach eine heilbare oder unheilbare Krankheit unter den Begriff „Behinderung“ iS dieser RL fallen kann, wenn sie eine Einschränkung mit sich bringt, die insb auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen AN, hindern können, und wenn diese Einschränkung von langer Dauer ist (zB EuGH 11.4.2013, C-335/11 und C-337/11, Ring und Werge, Rz 41, ECLI:EU:C:2013:222). Innerstaatlich ist neben den Regelungen des BEinstG und des Bundes-Behindertengleichstellungsgesetzes (BGStG) (vgl die Definitionen von Behinderung in jeweils § 3 dieser Gesetze) vor allem auch Art 7 Abs 1 Satz 3 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG) zu beachten (vgl dazu 3.3.3.). Nach Ansicht von Födermayr (Menschen mit Behinderung im Sozialrecht, in Reissner/Mair [Hrsg], Menschen mit Behinderung im Arbeits- und Sozialrecht2 [2021] 133 ff) kann die grundsätzliche Aussage des EuGH über das Verhältnis von Krankheit und Behinderung auch auf Bereiche außerhalb des Antidiskriminierungsrechts übertragen werden und orientiert sich Födermayr in ihrer Abhandlung mangels einer Definition des Begriffs der Behinderung im Sozialrecht am Behinderungsbegriff der UN-BRK (vgl zum Begriff der Behinderung insgesamt ausführlich S. Mayer, Behinderung und Arbeitsrecht [2010] insb 19 ff mwN). Orientiert man sich auch im vorliegenden Zusammenhang an den oben angeführten Definitionen von Behinderung bzw an der Judikatur des EuGH zum Behinderungsbegriff der RL, wird man zum Ergebnis kommen, dass Grund für Zurechnungsunfähigkeit in der Praxis wohl nicht allzu selten eine Behinderung ist. § 11 StGB nennt ausdrücklich ua die geistige Behinderung als Grund für Zurechnungsunfähigkeit. Auch eine lange bestehende paranoide Schizophrenie in der Art, wie sie beim Kl vorlag, bei der auch unter kontrollierten Bedingungen keine Symptomfreiheit erzielt werden konnte, könnte durchaus als Behinderung zu werten sein. Daran würde wohl nichts ändern, wenn der Kl diese Schizophrenie durch seinen Cannabiskonsum verschlechtert hätte, da der EuGH in der Rs FOA (18.12.2014, C-354/13, Rz 56, ECLI:EU:C:2014:2463) ausgesprochen hat, dass der Begriff „Behinderung“ iSd RL 2000/78/EG nicht davon abhängt, inwieweit der Betreffende gegebenenfalls zum Auftreten seiner Behinderung beigetragen hat. Eine solche Schizophrenie erschwert auch unbestreitbar die Teilnahme der betreffenden Person an der Gesellschaft bzw am Berufsleben.
Art 7 Abs 1 Satz 3 B-VG normiert, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Der Begriff der Behinderung ist nach der Lehre weit zu verstehen (vgl Khakzadeh in Kahl/Khakzadeh/Schmid [Hrsg], Kommentar zum Bundesverfassungsrecht B-VG und Grundrechte Art 7 B-VG Rz 132 mwN [Stand 1.1.2021, rdb.at]). Es handelt sich hier um ein verfassungsgesetzlich gewährleistetes Recht. Gesetzgeberisches Handeln und das darauf gestützte Tätigwerden der Vollziehung unterliegen voll dem Maßstab des Art 7 Abs 1 Satz 3 B-VG (Davy, Der Gleichheitssatz des österreichischen Rechts und Menschen mit Behinderung, in FS Funk [2003] 63 [71, 74]). Nach den Materialien soll durch das explizite Verbot der Diskriminierung behinderter Personen bekräftigt werden, dass auch bei einer auftretenden Ungleichbehandlung von behinderten Menschen der VfGH diese immer auf ihre sachliche Rechtfertigung zu überprüfen hat (AB 785 BlgNR 20. GP 5). Dazu hat der VfGH (G 106/12 VfSlg 19.732) ausgesprochen, dass der Verfassungsgesetzgeber mit der Aufnahme eines ausdrücklichen Verbots der Diskriminierung von Behinderten betont hat, dass staatliche Regelungen, die zu einer Benachteiligung behinderter Menschen führen, einer besonderen sachlichen Rechtfertigung bedürfen. In dieser E hat der VfGH Regelungen des Staatsbürgerschaftsgesetzes 1985 als verfassungswidrig aufgehoben. Grund war, dass diese Regelungen ausnahmslos die Voraussetzung der Selbsterhaltungsfähigkeit für die Erlangung der Staatsbürgerschaft vorsahen. Dies erachtete der VfGH als gegen Art 7 Abs 1 Satz 3 B-VG verstoßend, weil damit Menschen mit Behinderung, deren Behinderung gerade wesentlich dafür sein kann, dass sie diese Voraussetzung von vornherein nicht erfüllen können, benachteiligt und damit diskriminiert werden. Unter Berücksichtigung dieser E des VfGH besteht der „Knackpunkt“ in Fällen wie dem nun vorliegenden darin, dass zurechnungsunfähige Personen die Voraussetzung des rechtskräftigen Strafurteils nicht erfüllen können, weil ein solches nach der Rechtsordnung über sie nicht verhängt werden kann. Subsumiert man unter Abs 3 auch die Zurechnungsunfähigkeit, besteht genau deshalb die Gefahr einer (mittelbaren) Diskriminierung (die Figur der mittelbaren Diskriminierung hält Davy, Gleichheitssatz, in FS 457 Funk 87 mit näherer Begründung auch im Kontext des Art 7 Abs 1 Satz 3 B-VG für bedeutsam) von behinderten Personen und in der Konsequenz der Verfassungswidrigkeit. Der Zurechnungsunfähige verwirkt dann die Leistung schon durch die Tat allein. Der Zurechnungsfähige verwirkt dagegen die Leistung nur, wenn er auch rechtskräftig zu einer mehr als einjährigen Freiheitsstrafe verurteilt wird. Dass sich hier auch in der Praxis Ungleichbehandlungen im Hinblick auf § 88 Abs 1 Z 2 ASVG ergeben könnten und die Thematik nicht nur theoretischer Natur ist, soll anhand eines Beispiels verdeutlicht werden (vgl auch schon Müller, ZAS 1991, 213 f):
Gem § 126 Abs 1 Z 5 StGB ist mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren zu bestrafen, wer ua einen wesentlichen Bestandteil der kritischen Infrastruktur beschädigt. Wesentliche Bestandteile einer solchen kritischen Infrastruktur sind etwa Sendeanlagen (vgl Rebisant in Höpfel/Ratz [Hrsg], WK2 StGB § 126 Rz 47 [Stand 1.11.2019, rdb.at]). Eine zurechnungsfähige Person legt bei einer solchen Sendeanlage aus reiner Bosheit Feuer, um diese zu zerstören (was auch eintritt). Durch dieses Feuer erleidet sie aber auch selbst schwerste Verbrennungen. Durch BGBl 1996/762 wurde Z 19 in § 34 Abs 1 StGB eingefügt, wonach es als Milderungsgrund gilt, wenn der Täter dadurch betroffen ist, dass er [...] durch die Tat oder als deren Folge eine beträchtliche Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung [...] erlitten hat. Möglicherweise wird nun die genannte Person infolge des Milderungsgrundes nicht zu einer ein Jahr übersteigenden Freiheitsstrafe verurteilt oder es kommt überhaupt § 37 StGB zum Tragen und wird statt einer Freiheitsstrafe (nur) eine Geldstrafe verhängt (vgl dazu zB Tipold in Leukauf/Steininger, StGB4 § 37 [Stand 1.10.2016, rdb.at]). § 88 Abs 1 Z 2 ASVG kommt dann nicht zum Tragen, der Anspruch der betreffenden Person etwa auf eine Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit wäre nicht ausgeschlossen. Legt hingegen eine zurechnungsunfähige Person bei einer Sendeanlage Feuer, weil sie infolge einer geistigen Behinderung oder schwer behandelbaren geistigen Krankheit der Ansicht ist, aus dieser spreche der Teufel und wird sie durch das Feuer selbst sehr schwer verletzt, würde wegen § 88 Abs 3 ASVG das Erfordernis des rechtskräftigen Strafurteils entfallen. Es würde für den Ausschluss eines etwaigen Anspruchs auf eine Pension wegen geminderter Arbeitsfähigkeit (der Betroffene könnte ja trotz oder vor Eintritt seiner Behinderung Pensionsversicherungsmonate erworben haben) genügen, dass er den Versicherungsfall der geminderten Arbeitsfähigkeit (infolge seiner schwersten Verbrennungen) durch die Verübung der mit Vorsatz begangenen schweren Sachbeschädigung veranlasst hat. In diesem Beispiel sind beide (der Zurechnungsfähige und der Zurechnungsunfähige) durch dieselbe Tat gleich schwer verletzt. Während der eine die Tat jedoch aus reiner Bosheit begangen hat, kann der andere de facto nichts für seine Tat. Eine solche Ungleichbehandlung könnte wohl auch nicht sachlich gerechtfertigt werden. Im Gegenteil! Sachlich gerechtfertigt wäre es vielmehr, dem Zurechnungsfähigen den Leistungsanspruch zu versagen und dem Zurechnungsunfähigen nicht, weil Letzterem seine Tat nicht subjektiv vorwerfbar ist.
Der OGH hat in der vorliegenden E mit ausführlicher Begründung zutreffend den Anspruch des Kl auf Waisenpension bejaht. In überzeugender Weise wurde die Abgrenzung zwischen „strafbarer Handlung“ einerseits und „mit Strafe bedrohter Handlung“ andererseits vorgenommen. Richtigerweise hat er sich auch dagegen ausgesprochen, Zurechnungsunfähigkeit unter den anderen in der betreffenden Person liegenden Grund iSd § 88 Abs 3 ASVG, der für die Verwirkung das Erfordernis des rechtskräftigen Strafurteils entbehrlich macht, zu subsumieren. Die vorliegende Besprechung sollte zeigen, dass man bei einer solchen Subsumtion in ein Spannungsverhältnis mit dem auch im B-VG verankerten Verbot der Diskriminierung behinderter Personen geraten würde und Verfassungswidrigkeit im Raum stünde.