43Einvernehmliche Auflösung und Anrechnung anderweitig verdienten Entgelts
Einvernehmliche Auflösung und Anrechnung anderweitig verdienten Entgelts
Eine zwischen den Arbeitsvertragsparteien vereinbarte unwiderrufliche Dienstfreistellung begründet einen Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 1155 ABGB.
Die Anrechnungsregel des § 1155 Abs 1 2. HS ABGB ist auch bei (selbst grundloser) Dienstfreistellung anzuwenden. Ungeachtet der Motive des AG ist das während der Verhinderung in anderen Dienstverhältnissen tatsächlich verdiente Entgelt anzurechnen.
Die Anrechnung des anderweitig verdienten Entgelts findet nur dann nicht statt, wenn der Einwand des AG rechtsmissbräuchlich erhoben wird.
[1] Die Kl war bei der Bekl ab 1.6.2015 als Angestellte mit einem Bruttomonatsgehalt von 5.037,20 € beschäftigt.
[2] Aufgrund von Reorganisationsmaßnahmen hatte die Bekl die Absicht, das Dienstverhältnis mit der Kl aufzulösen. Sie bot der Kl daher Anfang November 2020 zwei Möglichkeiten zur einvernehmlichen Auflösung des Dienstverhältnisses an. Die 1. Option beinhaltete ua den Beendigungszeitpunkt 31.1.2021, eine unwiderrufliche sofortige Dienstfreistellung, die Vereinbarung des Verbrauchs offener Resturlaubs- und Zeitausgleichstage während der Dienstfreistellung, die Zahlung des Gehalts einschließlich der anteiligen Sonderzahlungen bis 458 zum Beendigungszeitpunkt sowie die Gewährung eines Bonus und einer freiwilligen Abfertigung. Weiters wurde der Kl in dieser Option die Möglichkeit eingeräumt, das Dienstverhältnis mit einem Vorlauf von einer Woche vorzeitig zu beenden. In diesem Fall sollte die Kl ihr Gehalt und die freiwillige Abfertigung bis zum vorzeitigen Beendigungszeitpunkt pro rata ausbezahlt erhalten, die freiwillige Abfertigung würde (unabhängig vom vorzeitigen Beendigungszeitpunkt) zu 1/3 gekürzt werden.
[3] Die 2. Option, die der Kl angeboten wurde, ging – ebenfalls mit sofortiger unwiderruflicher Dienstfreistellung – von einem Beendigungszeitpunkt per 30.4.2021 aus. Mit der Endabrechnung sollte die Kl die Urlaubsersatzleistung für zehn offene Urlaubstage ausbezahlt bekommen, wobei ein weiterer offener Resturlaub sowie Zeitausgleichstage während der Dauer der Dienstfreistellung zu verbrauchen sind. Auch diese 2. Option enthielt die Vereinbarung der Gehaltszahlung bis zum Beendigungszeitpunkt, die Zahlung eines Bonus sowie die der Kl gewährte Möglichkeit, das Dienstverhältnis mit einem Vorlauf von einer Woche vorzeitig zu beenden. In diesem Fall sollte die Kl (wie in der 1. Option) ihr Gehalt und die freiwillige Abfertigung bis zum vorzeitigen Beendigungszeitpunkt pro rata ausbezahlt erhalten.
[4] Dass die Kl verpflichtet war, das Dienstverhältnis bei Eingehen eines neuen Dienstverhältnisses vor dem Beendigungszeitpunkt vorzeitig zu beenden oder der Bekl zu melden, wurde zwischen den Parteien nicht besprochen; ebenso wenig, dass bei Eingehen eines neuen Dienstverhältnisses vor dem Beendigungszeitpunkt das bisherige automatisch endet.
[5] Am 11.11.2020 vereinbarten die Parteien die einvernehmliche Auflösung des Dienstverhältnisses zum 30.4.2021 laut der 2. Option.
[6] Jedenfalls seit 1.3.2021 ist die Kl bei einer anderen DG (W*) beschäftigt. Daher meldete die Bekl die Kl am 18.3.2021 rückwirkend zum 28.2.2021 von der SV ab (unstrittig).
[7] Mit der vorliegenden Klage begehrt die Kl die Zahlung von 11.758,08 € (Gehälter März und April 2021 inklusive anteiliger Sonderzahlungen) samt 8,58 % Zinsen aus 5.037,20 € (Gehalt März 2021) ab 1.4.2021 und aus 6.720,88 € (Gehalt April 2021 samt anteiligem Urlaubszuschuss und anteiliger Weihnachtsremuneration von je 841,84 €) ab 1.5.2021. Die von der Bekl behaupteten mündlichen Vereinbarungen seien nicht getroffen worden. Die Anrechnung eines anderweitigen Verdienstes nach § 1155 ABGB sei in der Auflösungsvereinbarung abbedungen worden.
[8] Die Bekl bestritt das Klagebegehren, beantragte Klagsabweisung und wandte ein, die Parteien hätten mündlich vereinbart, dass die Kl ein neues Dienstverhältnis unverzüglich anzuzeigen hätte und mit Beginn des neuen Dienstverhältnisses das bisherige Dienstverhältnis zur Bekl automatisch ende sowie dass eine Anrechnung des anderweitigen Verdienstes auf die offenen Entgeltansprüche der Kl zu erfolgen habe. Zweck der vereinbarten Auflösung und unwiderruflichen Dienstfreistellung sei gewesen, der Kl genügend Zeit für die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz zu geben und ihr gleichzeitig eine finanzielle Absicherung zu gewährleisten, nicht aber, dass die Kl neben einem Entgelt bei einem neuen DG auch weiterhin ein Einkommen von der Bekl beziehe. Unabhängig von diesen Vereinbarungen müsse sich die Kl jedenfalls ihren Verdienst der Monate März und April 2021 in Höhe von 5.037,20 € brutto pro Monat samt der anteiligen Sonderzahlungen von 1.466,67 € brutto, gesamt daher 10.266,67 € brutto gem § 1155 ABGB anrechnen lassen. Die Bekl bestritt auch die geltend gemachten, den gesetzlichen Zinssatz von 4 % übersteigende Zinsen, weil ihre Rechtsansicht vertretbar sei.
[9] Das Erstgericht gab dem Klagebegehren zur Gänze statt. Die behaupteten mündlichen Vereinbarungen seien weder ausdrücklich noch konkludent geschlossen worden. Das Dienstverhältnis zwischen den Parteien habe daher unabhängig vom neuen Dienstverhältnis der Kl zur W* bis 30.4.2021 gedauert, weshalb ihr das auch in der Auflösungsvereinbarung festgelegte Entgelt für die Monate März und April 2021 samt Sonderzahlungen zustehe. Eine Anrechnung des von der Kl bei der neuen DG erzielten Verdienstes habe nicht stattzufinden, weil die Parteien schlüssig eine Anrechnung nach § 1155 ABGB abbedungen hätten. Nach der 1. Option wäre es bei Eingehen eines neuen Dienstverhältnisses vor Vertragsende lediglich zu einer Kürzung der freiwilligen Abfertigung gekommen. Daraus ergebe sich umgekehrt, dass dies die einzige Sanktion für das Eingehen eines neuen Dienstverhältnisses vor Vertragsende sein sollte. In der schließlich von der Kl gewählten 2. Option sei – mangels Anspruchs auf eine freiwillige Abfertigung – nicht einmal diese Sanktion enthalten, sodass umso mehr der abgeschlossenen Auflösungsvereinbarung der Parteiwille zu entnehmen sei, dass es zu keinerlei Anrechnung kommen solle. Dies ergebe sich auch aus der Unklarheitenregelung des § 914 (erkennbar gemeint: § 915) ABGB, weil sich die Bekl dieser Textierung in der Auflösungsvereinbarung bedient habe.
[10] Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl nicht Folge. Da die Kl aufgrund der Auflösungsvereinbarung keine Dienstleistung mehr geschuldet habe, liege ohnehin kein Fall des § 1155 ABGB vor. Die ordentliche Revision wurde mangels Vorliegens der Voraussetzungen des § 502 Abs 1 ZPO nicht zugelassen.
[11] In ihrer dagegen gerichteten Revision beantragt die Bekl die Abänderung des Berufungsurteils iS einer Klagsabweisung; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.
[12] Die Kl beantragt in ihrer vom Senat freigestellten Revisionsbeantwortung, der Revision der Bekl nicht Folge zu geben.
[13] Die außerordentliche Revision der Bekl, die die Rechtsauffassung vertritt, die von ihr begehrte Anrechnung des von der Kl während der Dienstfreistellung erzielten Verdienstes entspreche der gesetzlichen Regelung des § 1155 ABGB, ist zulässig, weil die Urteile der Vorinstanzen korrekturbedürftig sind; sie ist auch teilweise berechtigt. 459
[14] 1. Richtig ist, dass die Bestimmung des § 1155 ABGB dispositiv ist (e contrario § 1164 ABGB; 9 ObA 77/22x Rz 29; Spenling/Kietaibl in Bydlinski/Perner/Spitzer, KBB7 § 1155 ABGB Rz 1 mwN) und daher von den Arbeitsvertragsparteien abbedungen werden kann. Die Abbedingung einer Norm des dispositiven Rechts durch eine abweichende vertragliche Regelung setzt grundsätzlich eine solche voraus. Eine ausdrückliche vertragliche Regelung dazu, nämlich zum Ausschluss der Anrechnungsregel, ist in der hier zu beurteilenden Auflösungsvereinbarung nicht enthalten. In Betracht käme daher nur ein konkludenter vertraglicher Ausschluss. Für die Annahme eines solchen ist jedoch im Allgemeinen nach § 863 ABGB ein strenger Maßstab anzulegen (RS0014146). Es darf kein vernünftiger Grund bestehen, daran zu zweifeln, dass ein ganz bestimmter Rechtsfolgewille vorliegt (RS0109021). Für die Annahme eines derart eindeutigen übereinstimmenden Rechtsfolgewillens der Parteien über den Ausschluss der Anrechnungsregel des § 1155 ABGB liegen im gegenständlichen Fall aber keine ausreichenden Anhaltspunkte vor. Alleine der Umstand, dass in der – letztlich nicht abgeschlossenen Vereinbarung (1. Option) – für den Fall einer der Kl als Möglichkeit eingeräumten vorzeitigen Beendigung des Dienstverhältnisses eine Kürzung der vereinbarten freiwilligen Abfertigung vorgesehen war, sagt (selbst im Rahmen dieser Vereinbarung) nichts darüber aus, was für die Anrechnung anderweitigen Verdienstes in dem Fall zu gelten hat, dass es zu keiner vorzeitigen Beendigung kommt, die Kl aber ein neues Arbeitsverhältnis beginnt und aus diesem ein Einkommen erzielt. Umso weniger kann daraus für die später tatsächlich abgeschlossene Auflösungsvereinbarung (unter Berücksichtigung des von der Bekl dargelegten erkennbaren Zwecks der darin enthaltenen Regelungen) der eindeutige, zweifelsfreie und zwingende Schluss gezogen werden, dass die Parteien die Anrechnungsregel des § 1155 ABGB abbedingen wollten. Andere Aspekte als jene vom Erstgericht herangezogenen, die eine gegenteilige Annahme zuließen, werden von der Kl auch in ihrer Revisionsbeantwortung nicht dargetan. Da hier mit den Auslegungsregeln des § 914 ABGB das Auslangen gefunden werden konnte, kommt die subsidiäre (RS0017752) Regelung des § 915 2. HS ABGB nicht zur Anwendung. Darauf stützt sich im Übrigen die Kl auch nicht.
[15] 2.1. Nach § 1155 ABGB 1. HS hat der DN grundsätzlich auch Anspruch auf das Entgelt für Dienstleistungen, die nicht zustande gekommen sind, wenn er zur Leistung bereit war und durch Umstände, die auf Seiten des DG liegen, daran gehindert wurde. Nach dem letzten Halbsatz des § 1155 Abs 1 ABGB hat sich der DN jedoch das anrechnen (abziehen) zu lassen, was er sich infolge des Unterbleibens der Arbeitsleistung erspart oder durch anderweitigen Erwerb erworben oder zu erwerben absichtlich versäumt hat.
[16] 2.2. Dass die Kl aufgrund der Auflösungsvereinbarung für die gesamte Zeit der Dienstfreistellung Anspruch auf ihr Entgelt hat, ist im Revisionsverfahren nicht mehr strittig. Uneins sind sich die Parteien nur mehr darüber, ob sich die Kl ihren tatsächlich erzielten Verdienst bei der neuen DG auf diesen Entgeltanspruch anrechnen lassen muss.
[17] 2.3. Bereits in seiner E 9 ObS 34/93 hat der OGH auch für den Fall der (dort einseitigen) Dienstfreistellung durch den DG die Anwendbarkeit der Einrechnungsverpflichtung nach § 1155 ABGB bejaht und dabei auf die Unmissverständlichkeit der Dienstfreistellung hingewiesen, sodass wegen der Sicherheit des Umstands, dass der DG seine Dienste nicht mehr in Anspruch nehmen will, dem DN die Annahme anderer Beschäftigungen nach „Treu und Glauben“ zumutbar gewesen sei. Die Anwendung des § 1155 ABGB im Falle eines Verzichts des DG auf die Dienstleistung des DN wird auch in der Lehre befürwortet (vgl Rebhahn in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 1155 ABGB Rz 52; Gruber-Risak in Schwimann/Neumayr, ABGB Taschenkommentar5 § 1155 ABGB Rz 6, 13; Pfeil in Schwimann/Kodek, ABGB5 § 1155 ABGB Rz 11, 21; Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger, ABGB4 § 1155 Rz 31, 58; Aichberger-Beig, Reduktion des Entgelts in Zeiten der Nicht-Beschäftigung? – Zur Anrechnungsregel des § 1155 ABGB, DRdA 2018, 473 [475 f]).
[18] 2.4. Richtig ist zwar, dass der volle Entgeltanspruch dem AN jedenfalls für Zeitabschnitte zusteht, in denen er die geschuldete Leistung erbracht hat. § 1155 ABGB setzt also das Unterbleiben der Arbeitsleistung voraus. Ein AN ist – entsprechend dem Inhalt der Arbeitspflicht – lediglich dazu verpflichtet, dem AG seine Arbeitskraft zur Verfügung zu stellen. Er erfüllt daher seine Vertragspflichten auch dann, wenn er sich zur vereinbarten Arbeitszeit am Arbeitsort bereit hält und der AG ihm keine Tätigkeiten zuweist (vgl 9 ObA 53/05t; Rebhahn in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 1151 ABGB Rz 75). Der Umstand, dass der AN bereits durch die Arbeitsbereitschaft (bzw die Zurverfügungstellung seiner Arbeitskraft) seine Vertragspflichten erfüllt, hat in der Lehre zu Diskussionen über den Anwendungsbereich des § 1155 ABGB geführt, weil § 1155 ABGB – scheinbar widersprüchlich – einerseits die Arbeitsbereitschaft des AN voraussetzt, aber andererseits die Rechtsfolgen der unterbliebenen Erfüllung regelt (Aichberger-Beig, Reduktion des Entgelts in Zeiten der Nicht-Beschäftigung? – Zur Anrechnungsregel des § 1155 ABGB, DRdA 2018, 473 [475] FN 24). Richtigerweise erklärt sich dies daraus, dass zwar bereits in der Leistungsbereitschaft die Erfüllung der Arbeitspflicht liegt, aber die Erfüllung dann scheitert, wenn der Empfänger die Leistung ablehnt. Der Anwendungsbereich des § 1155 ABGB ist daher eröffnet, wenn der AG die Arbeitsleistung – für den AN erkennbar – endgültig nicht in Anspruch nimmt, zB indem er ihn „nachhause schickt“ oder freistellt (Aichberger-Beig, Reduktion des Entgelts in Zeiten der Nicht- Beschäftigung? – Zur Anrechnungsregel des § 1155 ABGB, DRdA 2018, 473 [475]).
[19] 2.5. Nichts anderes kann – wie hier – im Fall einer „vereinbarten“ (unwiderruflichen) Dienstfreistellung gelten. Auch hier schuldet zwar der DN keine Arbeitsleistung mehr, dennoch kam die grundsätzlich nach dem Dienstvertrag vom DN geschuldete Arbeitsleistung in der Zeit der Dienst- 460 freistellung nicht zustande. Der DN hat daher nach § 1155 ABGB 1. HS – wie hier in der Beendigungsvereinbarung auch festgehalten – dennoch Anspruch auf sein Entgelt.
[20] 2.6. In der E 9 ObA 81/10t (= RS0126226 = DRdA 2012/27, 384 [Reissner]) hat der OGH unter ausführlicher Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Lehrmeinungen im Falle eines sich arbeitsbereit erklärten AN, dem die AG Hausverbot erteilt hatte, die Rechtsauffassung vertreten, dass die Einrechnung des aus der Verwertung der Arbeitskraft tatsächlich erzielten anderen Einkommens nicht nur dem klaren Wortlaut des § 1155 ABGB entspricht, sondern auch anderen Anrechnungsregeln im ABGB. Wird der AN somit aus Gründen, die auf Seiten des DG liegen, an der Dienstleistung gehindert, ist das in der Zeit der Verhinderung in anderen Dienstverhältnissen tatsächlich verdiente Entgelt ungeachtet der Motive für den „Annahmeverzug“ des DG anzurechnen. Dies findet nur dann nicht statt, wenn der Einwand des DG rechtsmissbräuchlich erhoben wird (9 ObA 81/10t = RS0021583 [T6]). Die Anrechnungsverpflichtung nach § 1155 ABGB 2. HS ist somit auch bei (selbst grundloser) Dienstfreistellung des DN zu bejahen (Schrammel in Fenyves/Kerschner/Vonkilch, Klang3 § 1155 ABGB Rz 32).
[21] 2.7. Der Abzug von Vorteilen, die der DN tatsächlich aus der Nicht-Beschäftigung gezogen hat, entspricht sowohl dem eindeutigen Willen des historischen Gesetzgebers als auch dem Normzweck, eine Bereicherung des DN zu verhindern (Aichberger- Beig, Reduktion des Entgelts in Zeiten der Nicht- Beschäftigung? – Zur Anrechnungsregel des § 1155 ABGB, DRdA 2018, 473 [476]; Rebhahn in Neumayr/Reissner, ZellKomm3 § 1155 ABGB Rz 49).
[22] 2.8. Die Kl tritt den unter Bezugnahme auf Rsp und Lehre erstatteten Revisionsausführungen der Bekl ausschließlich mit der wörtlichen Wiedergabe der (teilweise) kritischen Anmerkung von Rebhahn in ZellKomm2. Auflage, § 1155 ABGB Rz 56 ff, entgegen. Rebhahn stellt (auch in der 3. Auflage des Zeller Kommentars zum Arbeitsrecht) als zentrale These voran, dass die Anrechnungsbestimmung eine Bereicherung des AN verhindern solle. Er spricht sich für eine Einschränkung der Anrechnungsverpflichtung jedenfalls bei „versäumten Verdiensten“ und eine analoge Anwendung der anrechnungsfreien ersten drei Monate nach § 1162b ABGB aus. Gegen die Anrechnung von tatsächlich erzielten Entgelten hat er aber keine Bedenken (Rz 58). Dieser Rechtsansicht (Einschränkung der Anrechnungsverpflichtung für die ersten drei Monate) ist der OGH bereits in der oben zitierten E 9 ObA 81/10t nicht gefolgt. Eine Analogie zu § 1162b ABGB wird auch vom erkennenden Senat abgelehnt. Wie bereits dargelegt wurde, ist § 1155 ABGB nach dem Willen des Gesetzgebers und entsprechend seinem Zweck auch bei Verschulden des AG anzuwenden. Es fehlt daher an einer planwidrigen Lücke, die durch Analogie geschlossen werden könnte (vgl RS0098756; Aichberger-Beig, Reduktion des Entgelts in Zeiten der Nicht-Beschäftigung? – Zur Anrechnungsregel des § 1155 ABGB, DRdA 2018, 473 [477]).
[23] 3. Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten hat die Kl der Bekl im Verfahren nicht vorgeworfen (vgl RS0026205 [T3]). Selbst ein vorsätzliches Nichtzulassen zur Arbeit stellt nach der Rsp allein noch keinen Missbrauch dar, der eine Anrechnung ausschließt (9 ObA 115/03g mwN = RS0118917; 9 ObA 81/10t). Konkrete andere – unlautere – Motive hat die Bekl weder behauptet noch nachgewiesen.
[...]
Die Parteien des Ausgangsverfahrens lösten das zwischen ihnen bestehende Arbeitsverhältnis einvernehmlich auf. Vereinbart wurde (ua) eine unwiderrufliche Dienstfreistellung unter Fortzahlung des Entgelts bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses. Strittig war zwischen den Parteien des Verfahrens nunmehr, ob sich die Kl jenes Entgelt anrechnen lassen muss, welches sie während der Dienstfreistellung durch eine anderweitige Beschäftigung erworben hatte. Als Grundlage einer solchen Anrechnung käme § 1155 Abs 1 2. HS ABGB in Betracht. Das Berufungsgericht vertrat jedoch die Ansicht, § 1155 ABGB sei auf den vorliegenden Sachverhalt gar nicht anwendbar, weil die Kl gar keine Dienstleistung mehr geschuldet habe (Rz 10).
Dieser Auffassung tritt der OGH richtigerweise entgegen. Unter Verweis auf seine eigene Vorjudikatur und zahlreiche Stimmen im Schrifttum führt der Gerichtshof überzeugend aus, dass auch eine unwiderrufliche Dienstfreistellung einen Entgeltfortzahlungsanspruch nach § 1155 ABGB begründet (Rz 15 ff; ausführlich Aichberger-Beig, Reduktion des Entgelts in Zeiten der Nicht-Beschäftigung? – Zur Anrechnungsregel des § 1155 ABGB, DRdA 2018, 473 [475 ff]). Damit wäre eine Anrechnung des anderweitigen Erwerbs nach § 1155 Abs 1 2. HS ABGB grundsätzlich möglich.
Zunächst ist jedoch zu prüfen, ob § 1155 ABGB abbedungen wurde. Die Bestimmung ist nach völlig hA dispositiv und kann daher in den Grenzen der Sittenwidrigkeit auch zu Lasten des AN abbedungen werden (vgl etwa Schrammel in Fenyves/Kerschner/Vonkilch [Hrsg], Klang3 § 1155 ABGB Rz 50 ff). Darauf kommt es hier aber gar nicht an, weil der Ausschluss der Anrechnungsregel die klagende AN ohnehin besserstellen würde. Die Kl behauptete ein solches Abgehen von § 1155 durch die Auflösungsvereinbarung, das Erstgericht folgte dieser Argumentation (Rz 7, 9).
Auch dieser Ansicht folgt der OGH aus gutem Grund nicht: Eine entsprechende ausdrückliche Vereinbarung gab es offenbar nicht. Möglich wäre daher allenfalls ein konkludentes Abweichen von § 1155 ABGB. Den Vorinstanzen ist zuzugestehen, dass sich für eine solche schlüssige Vereinbarung 461 durchaus Argumente finden lassen (Rz 9). Der OGH verweist aber zu Recht darauf, dass eine konkludente Vereinbarung nur anzunehmen ist, wenn kein vernünftiger Grund besteht, am entsprechenden Willen der Parteien zu zweifeln. Die von den Vorinstanzen ins Treffen geführten Umstände erscheinen hier nicht gewichtig genug, wenngleich eine fundierte Beurteilung allein auf Basis der Sachverhaltsangaben in der letztinstanzlichen Entscheidung nur eingeschränkt möglich ist.
Ein weiterer Umstand spricht gegen den Willen der Parteien, der Kl die Aufnahme einer neuen Beschäftigung ohne jegliche Anrechnung des dadurch verdienten Entgelts zu ermöglichen: Zwar haben die Parteien nach den Feststellungen entgegen der Behauptungen der bekl AG nicht vereinbart, dass die Kl ein neues Dienstverhältnis unverzüglich anzuzeigen hätte und mit Beginn des neuen Dienstverhältnisses das bisherige Dienstverhältnis zur Bekl automatisch ende (Rz 8, 9). Allerdings wurde vereinbart, dass die Kl das Arbeitsverhältnis mit einem Vorlauf von einer Woche vorzeitig beenden kann. In diesem Fall sollte die Kl das Gehalt nur bis zum vorzeitigen Beendigungszeitpunkt pro rata erhalten (Rz 3). Unter Berücksichtigung des erkennbaren Zwecks der Vereinbarung, der Kl genügend Zeit für die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz zu geben und ihr gleichzeitig eine finanzielle Absicherung zu gewährleisten (Rz 8, 14), spricht diese vorzeitige Beendigungsmöglichkeit eher dafür, dass der Kl nicht die Möglichkeit eines doppelten Bezugs eröffnet werden sollte. Angesichts der unwiderruflichen Dienstfreistellung hätte die Kl ohne Anrechnung anderweitigen Erwerbs keinerlei Anreiz, von der vorzeitigen Beendigung Gebrauch zu machen; das Lösungsrecht hätte dann praktisch keinen Anwendungsbereich.
Die Anwendung des § 1155 ABGB auf alle Fälle des Nichtzustandekommens der Dienstleistung durch Umstände auf Seiten des AG wird vor allem deshalb als problematisch wahrgenommen, weil die Anrechnungsregel in Abs 1 2. HS leg cit in manchen Fällen zu Wertungswidersprüchen führen würde (Risak, Besprechung zu OGH 30.1.1997, 8 ObA 2046/96, ZAS 1997, 168 [170]). Im Schrifttum finden sich daher zahlreiche Vorschläge für eine Beschränkung dieser Anrechnungsregel (vgl die Übersicht bei Eypeltauer, Anrechnung gem § 1155 ABGB bei Nichtzulassung des Arbeitnehmers zur Arbeit, DRdA 2005, 160 [163 f]). Die Kl des Ausgangsverfahrens stützt sich auf die Ausführungen Rebhahns, um eine Anrechnung in ihrem Fall abzuwenden. Damit konnte sie den OGH jedoch nicht überzeugen.
Zum einen fordert Rebhahn eine analoge Anwendung des § 1162b ABGB, sodass eine Anrechnung anderweitigen Erwerbs in jenen Fällen, in welchen der AG den AN sinnvoll beschäftigen hätte können, erst nach drei Monaten vorzunehmen wäre (in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 § 1155 ABGB Rz 57 [Stand 1.1.2018, rdb.at]). Dieser Ansicht ist der OGH aber schon früher nicht gefolgt (OGH 29.9.2010, 9 ObA 81/10t); es liege keine planwidrige Lücke vor (Rz 22; so auch Aichberger-Beig, 3DRdA 2018, 47 [477]). Außerdem fiel das strittige Einkommen der Kl ohnehin nicht in die ersten drei Monate der Freistellung (Rz 5 f), es wäre daher auch nach dieser Ansicht anzurechnen gewesen.
Zum anderen hegt Rebhahn Bedenken gegen die Anrechnung von Entgelt, welches der AN absichtlich zu erwerben verabsäumt hat, wenn der AG den AN sinnvoll hätte beschäftigen können. Auf diese Bedenken war im gegenständlichen Verfahren aber nicht einzugehen, weil strittig (nur) die Anrechnung tatsächlich verdienten Entgelts war. Gegen die Anrechnung tatsächlich erzielten Erwerbs hegt jedoch auch Rebhahn keine Bedenken (in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 § 1155 ABGB Rz 58 [Stand 1.1.2018, rdb.at]; vgl auch Felten in Rummel/Lukas/Geroldinger [Hrsg], ABGB4 § 1155 Rz 58 [Stand 1.8.2022, rdb.at]).
Rz 58 [Stand 1.8.2022, rdb.at]). Aus der Stellungnahme Rebhahns war für die Kl daher nichts zu gewinnen, andere Argumente hat sie offenbar nicht vorgetragen (Rz 22). Dies ist insofern überraschend, als es durchaus Stellungnahmen in der Literatur gibt, die einer Anrechnung in jenen Fällen, in denen der AG den AN sinnvoll beschäftigen hätte können, generell kritisch gegenüberstehen (so etwa Risak, ZAS 1997, 168 [170]; Windisch-Graetz, Arbeitsrecht II12 [2023] 216 f; Eypeltauer, DRdA 2005, 160 [165 f]). Es ist aber eher nicht davon auszugehen, dass entsprechende Ausführungen den OGH überzeugt hätten: Es entspricht stRsp, dass tatsächlich erworbenes Entgelt auch dann anzurechnen ist, wenn der AG den AN „vorsätzlich“ an der Leistung seiner Dienste hindert (OGH 5.9.2001, 9 ObA 24/01x; OGH 29.9.2010, 9 ObA 81/10t). Die Anrechnung hat nur dann zu unterbleiben, wenn die Berufung auf die Anrechnungsregel rechtsmissbräuchlich wäre. Das „vorsätzliche“ Nichtzulassen zur Arbeit allein stellt jedoch noch keinen Rechtsmissbrauch dar, der eine Anrechnung ausschließen würde (OGH 29.9.2010, 9 ObA 81/10t).
Nicht abschließend geklärt – und auch im gegenständlichen Verfahren nicht zu klären – ist die Anrechnung absichtlich zu erwerben versäumten Entgelts in jenen Fällen, in welchen der AG den AN sinnvoll beschäftigen hätte können. Der OGH hat die Anrechnung in der Vergangenheit auch für diese Konstellationen bereits zugelassen (vgl OGH4 Ob 18/81 ZAS 1983, 62 [Schrammel]). In einer jüngeren E hat der Gerichtshof die Frage hingegen ausdrücklich offengelassen (OGH 29.9.2010, 9 ObA 81/10t). Im Schrifttum wird verschiedentlich eine Differenzierung zwischen tatsächlich verdientem Entgelt und absichtlich zu erwerben versäumtem Entgelt gefordert (vgl etwa Pfeil in Schwimann/Kodek [Hrsg], ABGB5 [2021] § 1155 ABGB Rz 23; Gruber-Risak in Schwimann/Neumayr [Hrsg], ABGB: Taschenkommentar6 [2023] § 1155 Rz 14).
Auch wenn der OGH in der vorliegenden E zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Anrechnungsregel des § 1155 ABGB nicht abbedungen wurde, ist 462 für AG eine ausdrückliche Regelung zur Anrechnung empfehlenswert. In anders gelagerten Fällen könnten Gerichte sonst durchaus ein Abgehen von der Anrechnung nach § 1155 Abs 1 2. HS ABGB annehmen.
Da die Anrechnung von bloß versäumtem Entgelt bei Dienstfreistellung nicht abschließend geklärt ist, sollten AG dieses ausdrücklich in die Anrechnung miteinbeziehen. Dies sollte in den meisten Fällen möglich sein, weil § 1155 ABGB, wie bereits ausgeführt, dispositiv ist.
Bei der Gestaltung der Regelung zur Anrechnung sollten AG bedenken, dass sie für das Vorliegen der Anrechnungsvoraussetzungen behauptungs- und beweispflichtig sind. Eine Anrechnung hat nicht von Amts wegen zu erfolgen (Rebhahn in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 § 1155 ABGB Rz 49 [Stand 1.1.2018, rdb.at]). Den AN können zwar auch ohne gesonderte Vereinbarung Auskunftsobliegenheiten treffen, die Rsp ist hier aber hinsichtlich der Offenlegung anrechenbarer Einkünfte sehr zurückhaltend (vgl OGH 28.10.2013, 8 ObA 11/13w; näher dazu Kietaibl, Irrtum und Aufklärung im Arbeitsverhältnis, DRdA 2023, 439 [447]). Es ist daher empfehlenswert, entsprechende Informationspflichten ausdrücklich aufzunehmen. Zur Absicherung dieser Informationspflichten wäre auch eine Verpflichtung zur Vorlage betreffender Urkunden denkbar – etwa des Einkommensteuerbescheids.