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Beginn des Anspruchs auf Waisenpension bei verspäteter Antragstellung durch den Erwachsenenvertreter

ANGELAJULCHER (WIEN/SALZBURG)
  • Für einen bei Ablauf der Frist des § 86 Abs 3 Z 1 Satz 1 ASVG für die Beantragung einer Waisenpension in seiner Geschäftsfähigkeit beeinträchtigten Antragsteller beginnt die sechsmonatige Antragsfrist auch dann erst mit Wiedererlangung der vollen Geschäftsfähigkeit zu laufen, wenn für ihn ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter bestellt ist.

[1] Gegenstand des Verfahrens ist der Anspruch des 1994 geborenen Kl auf eine Waisenpension nach seinem am 23.2.2020 verstorbenen Vater.

[2] Im Revisionsverfahren ist nicht mehr strittig, dass beim Kl die Kindeseigenschaft nach § 252 Abs 2 Z 3 ASVG über das 18. Lebensjahr hinaus fortbesteht und er Anspruch auf die begehrte Pension hat. Offen ist nur, ob sie bereits mit dem dem Tod seines Vaters folgenden Tag oder erst ab Antragstellung (6.12.2021) zusteht (§ 86 Abs 3 Z 1 ASVG).

[3] Beim Kl wurden bereits im Alter von sechs Jahren ein ADHS-Syndrom, Konzentrationsstörungen sowie ein Schulleistungsdefizit diagnostiziert. Spätestens ab Ende 2011 war er nicht mehr in der Lage, einer Erwerbstätigkeit auf dem ersten Arbeitsmarkt nachzugehen. Im Jahr 2016 wurde sodann eine emotional instabile Persönlichkeitsstörung und im Jahr 2017 erstmals eine paranoide Schizophrenie beschrieben. Derzeit leidet er an einer paranoiden Schizophrenie und einer Polytoxikomanie (Cannabis, Opioide, Alkohol). Seit August 2021 befindet er sich in Strafhaft.

[4] Mit Bescheid vom 13.12.2021 lehnte die bekl Pensionsversicherungsanstalt (PVA) den Antrag des Kl vom 6.12.2021, ihm die Waisenpension nach seinem Vater zu gewähren, mangels Erwerbsunfähigkeit ab.

[5] Das Erstgericht erkannte die Bekl schuldig, dem Kl ab 6.12.2021 eine Waisenpension in gesetzlicher Höhe zu zahlen [...].

[6] Das nur vom Kl angerufene Berufungsgericht bestätigte das Ersturteil. Es stellte ergänzend fest, dass für den Kl mit Beschlüssen des Bezirksgerichts Graz-West vom 7.5.2019, 5.1.2021 und 7.5.2021 (zeitlich aufeinanderfolgend) ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter nach §§ 271, 272 ABGB, ua für die Vertretung vor Ämtern und Behörden, bestellt wurde. Daraus sowie den vom Erstgericht getroffenen Feststellungen leitete es ab, dass der Kl zumindest seit dem Tod seines Vaters in seiner Geschäftsfähigkeit eingeschränkt sei. Zwar seien in ihrer Entscheidungsunfähigkeit beeinträchtigte Erwachsene ebenso schutzbedürftig wie Minderjährige. Durch die Bestellung des gerichtlichen Erwachsenenvertreters habe der Kl jedoch am Rechtsverkehr teilnehmen können, was nach der Regelung des § 1494 Abs 1 ABGB einer Fristenhemmung entgegenstehe. Im Gleichklang damit sei auch § 86 Abs 3 Z 1 ASVG so auszulegen, dass die dort normierte Sechsmonatsfrist für die Antragstellung, bei deren Einhaltung die Waisenpension schon ab dem dem Tod des Elternteils folgenden Tag zustehe, auch dann zu laufen beginne, wenn für den Hinterbliebenen ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter bestellt sei, in dessen Aufgabenbereich die Antragstellung falle. Angesichts dessen sei die Frist des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG im Anlassfall spätestens mit der Bestellung des gerichtlichen Erwachsenenvertreters vom 5.1.2021 in Gang gesetzt worden, sodass das Erstgericht die Pension zu Recht erst ab dem Tag der Antragstellung zuerkannt habe.

[7] Die Revision ließ das Berufungsgericht zu, weil zur Frage, wann die Frist des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG beginne, wenn für den Antragsteller ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter bestellt sei, noch keine höchstgerichtliche Rsp vorliege.

[...]

[10] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig. Sie ist auch berechtigt.

[11] 1. Hinterbliebenenpensionen fallen grundsätzlich mit dem dem Todestag folgenden Tag an, wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach dem Todestag gestellt wird, bei späterer Antragstellung mit dem Tag der Antragstellung (§ 86 Abs 3 Z 1 463 Satz 1 und 2 ASVG). Ist die anspruchsberechtigte Person bei Ablauf dieser Frist minderjährig oder in ihrer Geschäftsfähigkeit eingeschränkt, so endet die Frist hingegen mit Ablauf von sechs Monaten nach Eintritt der Volljährigkeit oder dem Wiedererlangen der Geschäftsfähigkeit (§ 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG).

[12] 2. Wie der Kl zu Recht einwendet, hängt der Beginn des Fristenlaufs nach dem Wortlaut des § 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG nur davon ab, dass einerseits Minderjährige die Volljährigkeit und anderseits eingeschränkt Geschäftsfähige ihre volle Geschäftsfähigkeit wiedererlangen. In keinem der beiden Fälle stellt das Gesetz hingegen darauf ab, ob der Antragsteller über einen gesetzlichen Vertreter oder einen Erwachsenenvertreter verfügt, der den Antrag auf Gewährung der Waisenpension für ihn stellen kann, sodass er mit Hilfe des Vertreters am Rechtsverkehr teilnehmen kann.

[13] 3. Das Berufungsgericht und ihm folgend die Bekl stellen das zwar nicht in Frage. Sie gehen aus systematischen Erwägungen im Zusammenhang mit §§ 239 ff und § 1494 ABGB jedoch davon aus, dass die Regelung trotz des keine Einschränkungen in diese Richtung aufweisenden Wortlauts nur solche nicht voll geschäftsfähige Personen erfasse, die keinen gesetzlichen Vertreter haben.

[14] 4. Die dafür ins Treffen geführten Argumente überzeugen jedoch nicht.

[15] 4.1. Wie schon das Berufungsgericht ausgeführt hat, wurde die Möglichkeit der rückwirkenden Antragstellung erstmals mit dem SRÄG 1993 (BGBl 1993/335) geschaffen. Nach § 86 Abs 3 Z 1 ASVG idF des SRÄG 1993 fiel die Waisenpension im Fall einer nicht fristgerechten (dh innerhalb von sechs Monaten nach dem Tod des Elternteils) erfolgten Antragstellung mit dem Eintritt des Versicherungsfalls bzw dem darauf folgenden Monatsersten an, sofern der Antrag längstens bis zum Ablauf von sechs Monaten nach dem Eintritt der Volljährigkeit der Waise gestellt wurde. Zu dieser Rechtslage verwies der OGH wiederholt darauf, dass das erklärte Ziel dieser Regelung darin lag, minderjährige Waisen, die selbst keinen Antrag stellen können, vor Rechtsverlusten infolge einer verspäteten Antragstellung ihrer gesetzlichen Vertreter zu schützen (ErläutRV 932 BlgNR 28. GP 48; 10 ObS 91/06i SSV-NF 20/41; 10 ObS 92/97w SSVNF 11/156; 10 ObS 260/95 SSV-NF 10/6). Der OGH stellte auch mehrfach klar, dass diese Regelung nur Minderjährige, nicht aber Personen erfasste, die wegen einer geistigen Krankheit oder Behinderung nicht in der Lage waren, ihre Angelegenheiten selbst zu besorgen (RS0053931 [T1, T4]).

[16] 4.2. Mit Erkenntnis vom 4.12.2017, G 125/2017, VfSlg 20.224, hob der VfGH in § 86 Abs 3 Z 1 idF BGBl I 2015/2BGBl I 2015/2 im ersten Satz die Wortfolge „wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalls gestellt wird“ und den zweiten bis sechsten Satz (mit Wirkung vom 30.6.2018) als verfassungswidrig auf. Die Gleichheitswidrigkeit erkannte er darin, dass sich eine aufgrund einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung geschäfts- oder prozessunfähige (volljährige) Person in einer mit einer minderjährigen Person rechtlich vergleichbaren Lage befinde, weshalb kein sachlicher Grund dafür zu erkennen sei, dass der Gesetzgeber zwar weitreichende Schutzvorschriften für Minderjährige, nicht aber für den genannten Kreis von volljährigen Personen vorsehe. Da der Gesetzgeber bei der Ausnahmeregelung zum Beginn der Antragsfrist geschäftsunfähige Erwachsene unberücksichtigt gelassen habe, also eine insofern notwendige Ausnahme fehle, könne der verfassungsmäßige Zustand nur durch Beseitigung der Regel hergestellt werden (ausführlich dazu 10 ObS 73/20p SSV-NF 34/52).

[17] 4.3. Der Gesetzgeber reagierte darauf mit Schaffung des – seit 15.8.2018 geltenden – § 86 Abs 3 Z 1 ASVG durch das Erwachsenenschutz- Anpassungsgesetz für den Bereich des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Konsumentenschutz (ErwSchAG BMASGK), BGBl I 2018/59BGBl I 2018/59. Nach den Gesetzesmaterialien (Bericht des Ausschusses für Arbeit und Soziales) sollte dabei nur die vom VfGH aufgezeigte Ungleichbehandlung geschäftsunfähiger volljähriger Personen beseitigt, diese also gleich behandelt werden wie Minderjährige (AB 231 BlgNR 26. GP 2). Dafür, dass mit dem ErwSchAG BMASGK die zuvor ausschließlich für Minderjährige vorgesehene Ausnahmeregelung nicht nur auf eingeschränkt geschäftsfähige volljährige Personen ausgedehnt, sondern dass die Rechtslage im Vergleich zur vorherigen inhaltlich geändert werden sollte, finden sich keine Anhaltspunkte. Entgegen der Ansicht der Bekl spricht vor dem Hintergrund der eindeutigen Materialien nichts dafür, dass von der Neufassung des § 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG nur mehr unvertretene Personen erfasst sein sollten. Es gibt keine Hinweise darauf, dass der Gesetzgeber sein ursprüngliches Ziel, Minderjährige vor der Säumigkeit ihres gesetzlichen Vertreters zu schützen, aufgegeben haben soll. Vielmehr sollte die Sonderregel auf eingeschränkt geschäftsfähige volljährige Personen ausgedehnt werden, ohne dass in diesem Fall ein anderer Schutzgedanke ins Treffen geführt worden wäre.

[18] 4.4. Daran ändern auch die vom Berufungsgericht angestellten systematischen Überlegungen im Zusammenhang mit § 1494 Abs 1 ABGB nichts.

[19] Nach der, mit dem 2. Erwachsenenschutz- Gesetz (2. ErwSchG), BGBl I 2017/59BGBl I 2017/59, novellierten Bestimmung des § 1494 Abs 1 ABGB soll die Ersitzungs- und Verjährungszeit gegenüber einer volljährigen, in ihrer Entscheidungsfähigkeit beeinträchtigten Person nicht nur mit dem Wiedererlangen der Entscheidungsfähigkeit, sondern auch dann zu laufen beginnen, wenn ein gesetzlicher Vertreter die Rechte wahrnehmen kann. Der Gesetzgeber stellt in diesem Kontext also die Möglichkeit der Wahrnehmung von Rechten durch einen gesetzlichen Vertreter dem Wiedererlangen der Entscheidungsfähigkeit gleich. Daraus kann aber noch nicht auf eine (planwidrige) Unvollständigkeit des § 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG geschlossen werden. Mit dem ErwSchAG BMASGK – mit dem § 86 Abs 3 Z 1 ASVG novelliert wurde – sollten nämlich die Materiengesetze bloß an die durch das 2. ErwSchG eingeführten Vertretungsmodelle 464 und dessen Terminologie angepasst werden (AB 231 BlgNR 26. GP 2). Es kann daher davon ausgegangen werden, dass dem Gesetzgeber die mit dem 2. ErwSchG geschaffene Regelung des § 1494 Abs 1 ABGB bekannt war und er in § 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG bewusst keine gleichlautende Regelung geschaffen, sondern nur auf das Wiedererlangen der Geschäftsfähigkeit abgestellt hat. Die Voraussetzungen für eine Gesetzeslücke liegen daher nicht vor. Dass § 86 Abs 3 Z 1 ASVG eine über § 1494 ABGB hinausgehende Spezialnorm ist, nach der es nicht darauf ankommt, ob für den Anspruchsberechtigten ein gesetzlicher Vertreter bestellt ist, entspricht auch der bisherigen Rsp des OGH zu den beiden Vorgängerbestimmungen (10 ObS 92/97w SSV-NF 11/156).

[20] 5. Zusammenfassend folgt aus dem Wortlaut, der historischen Entwicklung und teleologischen Erwägungen, dass durch § 86 Abs 3 Z 1 Satz 3 ASVG Minderjährige und eingeschränkt geschäftsfähige Erwachsene vor denselben Gefahren geschützt werden sollen. Da dazu die Säumigkeit eines gesetzlichen Vertreters mit der Antragstellung zählt, besteht auch für durch einen Erwachsenenvertreter vertretene Erwachsene die(selbe) Möglichkeit einer rückwirkenden Antragstellung.

[21] Insgesamt lässt sich daher folgender Rechtssatz formulieren: Für einen bei Ablauf der Frist des § 86 Abs 3 Z 1 Satz 1 ASVG in seiner Geschäftsfähigkeit beeinträchtigten Antragsteller beginnt die sechsmonatige Antragsfrist auch dann erst mit Wiedererlangung der vollen Geschäftsfähigkeit zu laufen, wenn für ihn ein gerichtlicher Erwachsenenvertreter bestellt ist.

[22] 6. Der Revision ist daher Folge zu geben und dem Klagebegehren bereits ab 24.2.2020 stattzugeben. [...]

ANMERKUNG

Das wirklich Bemerkenswerte an der Klarstellung, die der OGH mit der vorliegenden E getroffen hat, ist, dass sie überhaupt nötig war.

Denn der Wortlaut des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG (namentlich auch des 3. Satzes), um den es hier geht, erscheint völlig klar. Er bestimmt, dass Hinterbliebenenpensionen mit dem dem Eintritt des Versicherungsfalles folgenden Tag anfallen, wenn der Antrag binnen sechs Monaten nach Eintritt des Versicherungsfalles gestellt wird. Wird der Antrag nach Ablauf dieser Frist gestellt, so fällt die Pension erst mit dem Tag der Antragstellung an. Ist die anspruchsberechtigte Person bei Ablauf dieser Frist minderjährig oder in ihrer Geschäftsfähigkeit eingeschränkt, so endet die Frist mit Ablauf von sechs Monaten nach dem Eintritt der Volljährigkeit oder dem Wiedererlangen der Geschäftsfähigkeit.

1.
Entwicklung der Rechtslage

Die Regelung betreffend das Hinausschieben des Laufs der Sechsmonatsfrist geht auf das SRÄG 1993, BGBl 335, zurück. Die Begünstigung wurde zunächst nur für Minderjährige (und nur in Bezug auf Waisenpensionen) eingeführt. Erläutert wurde das damit, dass für minderjährige Waisen keine Möglichkeit bestehe, bei Säumigkeit ihres gesetzlichen Vertreters selbst einen Antrag auf Waisenpension zu stellen. Die Volksanwaltschaft habe darauf hingewiesen, dass trotz der im Zuge der 49. Novelle erfolgten Lockerung des Antragsprinzips im Rahmen des Hinterbliebenenpensionsrechts zugunsten von Vollwaisen (nämlich in der Form, dass die Frist während des Verfahrens zur Bestellung eines Vormunds gehemmt wurde) nicht ausgeschlossen werden könne, dass nach wie vor Rechtsverluste infolge verspäteter Antragstellung bei waisenpensionsberechtigten Kindern eintreten; im zeitlichen Auseinanderklaffen zwischen der Entstehung des Anspruchs auf Waisenpension und dem Beginn der Auszahlung dieser Leistung bei verspäteter Antragstellung sehe die Volksanwaltschaft eine Gefährdung von sozialen Positionen und eine Schlechterstellung von Personen, für die der Gesetzgeber grundsätzlich die Leistungsverpflichtung anerkannt habe (vgl ErläutRV 832 BlgNR 18. GP 48).

Der VfGH erkannte die Bestimmung auf Antrag eines geschäftsunfähigen waisenpensionsberechtigten Erwachsenen mit Erk vom 4.12.2017, VfGH 2017/VfSlg 20.224, als verfassungswidrig, weil ein „auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung nicht Postulations- oder Geschäftsfähiger“ einer minderjährigen Person gleichzuhalten sei, soweit für die rückwirkende Gewährung von Waisenpensionen eine sechsmonatige Antragsfrist vorgesehen sei. Denn eine auf Grund einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung geschäfts- und prozessunfähige Person befinde sich mit einem Minderjährigen in einer rechtlich vergleichbaren Lage. Hinzu komme, dass gerade bei Waisenpensionen in besonderem Maß mit Anspruchsberechtigten aus dem Personenkreis geistig oder psychisch behinderter Personen gerechnet werden müsse, da die Gewährung einer Waisenpension an Erwachsene voraussetze, dass die betreffende Person seit der Vollendung des 18. Lebensjahres bzw seit dem Ablauf einer sich daran anschließenden Schul- oder Berufsausbildung spätestens seit dem 27. Lebensjahr infolge Krankheit oder Gebrechens erwerbsunfähig sei. Es sei daher nicht untypisch, wenn die Ursache einer derartigen, schon im jugendlichen Alter eintretenden, die Erwerbsunfähigkeit begründenden Erkrankung in einer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung liege.

Daraufhin erhielt § 86 Abs 3 Z 1 ASVG durch die Novelle BGBl I 2018/59BGBl I 2018/59 seine eingangs wiedergegebene, heute noch geltende Fassung, mit der geschäftsunfähige volljährige Personen den Minderjährigen gleichgestellt wurden und die Regelung auf alle Hinterbliebenenpensionen ausgedehnt wurde.

2.
Planwidrige Lücke?

Nach dem Wortlaut der Regelung gilt der Aufschub des Fristenlaufs unabhängig davon, ob ein gesetzlicher Vertreter vorhanden ist, der den Antrag stellen 465 könnte. Das ist nach § 1494 ABGB anders. Nach dieser Bestimmung, die in ihrem Kern noch auf die Stammfassung des ABGB zurückgeht und zuletzt mit dem 2. Erwachsenenschutz-Gesetz, BGBl I 2017/59BGBl I 2017/59, substantiell novelliert wurde, beginnt die Ersitzungs- oder Verjährungszeit gegenüber einer volljährigen Person, die aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer vergleichbaren Beeinträchtigung ihrer Entscheidungsfähigkeit an der Durchsetzung ihrer Rechte gehindert ist, erst zu laufen, wenn sie die Entscheidungsfähigkeit wieder erlangt oder ein gesetzlicher Vertreter die Rechte wahrnehmen kann (§ 1494 Abs 1 ABGB); gegen eine minderjährige Person beginnt die Ersitzungs- und Verjährungszeit so lange nicht zu laufen, als sie keinen gesetzlichen Vertreter hat oder ihr gesetzlicher Vertreter an der Wahrnehmung ihrer Rechte gehindert ist (§ 1494 Abs 2 ABGB).

Das Berufungsgericht war nun im gegenständlichen Verfahren der Ansicht, dass der Regelungsgedanke des § 1494 ABGB – wonach die besondere Schutzbedürftigkeit der geschäftsunfähigen Personen in Bezug auf den Lauf der Ersitzungs- und Verjährungsfrist nur besteht, solange kein gesetzlicher Vertreter ihre Rechte wahrnehmen kann – auf § 86 Abs 3 Z 1 ASVG zu übertragen sei. Zulässig wäre dieser Analogieschluss aber nur dann, wenn die mangelnde Bedachtnahme auf den Fall, dass ein gesetzlicher Vertreter vorhanden ist, in § 86 Abs 3 Z 1 ASVG eine planwidrige Lücke darstellte.

Dass davon keine Rede sein kann, hat der OGH richtig herausgearbeitet: Es ist davon auszugehen, dass dem Gesetzgeber die mit dem 2. Erwachsenenschutzgesetz getroffene Regelung des § 1494 Abs 1 ABGB bei der Neufassung des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG durch BGBl I 2018/59BGBl I 2018/59 bekannt war. Im Übrigen bestand schon vor den beiden genannten Novellen im Wesentlichen die gleiche Diskrepanz zwischen § 86 Abs 3 Z 1 ASVG und § 1494 ABGB: Während § 86 Abs 3 Z 1 ASVG für Minderjährige schlechthin – unabhängig vom Vorhandensein eines gesetzlichen Vertreters – den Fristenlauf aufschob, machte § 1494 ABGB (sowohl bei Minderjährigen als auch bei erwachsenen Geschäftsunfähigen) die Begünstigung davon abhängig, ob ein gesetzlicher Vertreter bestellt war.

Für die unterschiedliche Regelung lassen sich auch durchaus Gründe ins Treffen führen: So wirkt sich die Hemmung des Laufs der Ersitzungs- oder Verjährungsfrist des § 1494 Abs 1 ABGB zu Lasten anderer Privatrechtssubjekte aus; insoweit besteht daher die Notwendigkeit, die Begünstigung der geschäftsunfähigen Personen nur so weit wirken zu lassen, wie es ihre Schutzbedürftigkeit unbedingt erfordert. Im Anwendungsbereich des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG steht den geschäftsunfähigen Personen hingegen der Versicherungsträger als Behörde gegenüber. Wenngleich natürlich auch auf die Interessen der vom Versicherungsträger repräsentierten Versichertengemeinschaft als ganzer Bedacht zu nehmen ist, rechtfertigt diese Konstellation doch eine großzügigere Regelung der Fristhemmung. Dabei ist auch von Bedeutung, dass es um eine typischerweise zur Sicherung des Lebensunterhalts notwendige Leistung geht.

3.
Überlegungen de lege ferenda

Damit soll freilich nicht gesagt werden, dass eine Angleichung des § 86 Abs 3 Z 1 ASVG an § 1494 ABGB nicht zulässig wäre – auch dies läge im Gestaltungsspielraum der Gesetzgebung.

Ebenso wäre es wohl möglich, insoweit zwischen Minderjährigen und geschäftsunfähigen Volljährigen zu differenzieren. Nach dem Erkenntnis VfGH 2017/VfSlg 20.224 war zwar die ausschließliche Bedachtnahme auf Minderjährige in § 86 Abs 3 Z 1 ASVG verfassungswidrig, das heißt aber nicht, dass die Begünstigung in allen Aspekten gleich geregelt sein muss. So hat der OGH in seinem Urteil vom 16.12.1997, 10 ObS 92/97w, darauf hingewiesen, dass bei Erwachsenen (für die die Regelung damals noch nicht galt) der Endzeitpunkt der in § 86 Abs 1 Z 3 ASVG angeordneten Hemmung überhaupt nicht bestimmt werden könnte (außer man würde – so der OGH – den eher seltenen Fall unterstellen, dass eine bestehende geistige Behinderung in der Folge wieder wegfalle und der Betroffene wieder voll handlungsfähig werde). Bei minderjährigen Personen stehe der Zeitpunkt der letztmöglichen Antragstellung – welche den rückwirkenden Anfall der Leistung auszulösen vermag – datumsmäßig exakt fest (nämlich mit dem Erreichen der Volljährigkeit), bei geschäftsunfähigen Erwachsenen bliebe hingegen in der Regel die Antragstellung mit der Wirkung des rückwirkenden Anfalls der Waisenpension ohne zeitliche Begrenzung möglich. Eine Vermeidung dieser Rechtsfolge durch eine Regelung, die die sechsmonatige Frist des § 86 Abs 1 Z 3 ASVG gegenüber geschäftsunfähigen Erwachsenen schon dann (wieder) beginnen lässt, wenn ein gesetzlicher Vertreter zur Antragstellung in der Lage ist, wäre mE nicht unsachlich.

Umgekehrt könnte auch angedacht werden, im Fall des Fehlens sowie bei Säumigkeit eines gesetzlichen Vertreters oder einer gesetzlichen Vertreterin generell Rechtsbehelfe vorzusehen, die die Vertretenen vor dem Verlust sozialversicherungsrechtlicher Ansprüche wegen Fristversäumnissen bewahren. Denn letztlich erscheinen geschäftsunfähige Personen ebenso schützenswert, wenn es nicht um den Bezug einer Hinterbliebenenpension, sondern etwa einer Alterspension geht (vgl die Konstellation, die der soeben erwähnten OGH-E 16.12.1997, 10 ObS 92/97w, zugrunde lag).

4.
Fazit

Für richterliche Rechtsfortbildung entgegen dem klaren Gesetzeswortlaut bietet § 86 Abs 1 Z 3 ASVG nach allem Gesagten aber keinen Raum. Der OGH hat das mit einer ebenso prägnanten wie überzeugenden Begründung klargestellt. 466