145

Kinderbetreuungsgeld: Anwendbarkeit der VO 883/2004 auch bei Fehlen vergleichbarer Leistungen/Vorliegen einer „Scheinkarenz“ einzelfallbezogen zu prüfen

KrisztinaJuhasz

Gegenstand der beiden verbundenen Verfahren waren die Ansprüche der Kl auf das einkommensabhängige Kinderbetreuungsgeld für ihren *2018 in Wien geborenen Sohn L* und ihren *2019 in den Niederlanden geborenen Sohn P*.

Die Kl ist bosnische Staatsbürgerin. Sie lebte in Wien, wo ihr Sohn L* geboren wurde. Der Kindesvater ist niederländischer Staatsbürger. Er lebt in den Niederlanden und war dort erwerbstätig. Die Kl bezog für das Kind L* das Wochengeld, anschließend befand sie sich bis 13.4.2019 in Karenz. Ab 24.7.2018 lebte sie mit ihrem Kind und dem Kindesvater in den Niederlanden. Nach Ablauf der Karenzierung, somit im Zeitraum vom 14.4.9 bis 23.6.2019, war die bereits mit P* schwangere Kl wieder bei ihrem ursprünglichen DG in Österreich beschäftigt, wobei sie während dieser Zeit 28 Urlaubstage konsumierte und knapp einen Monat im Krankenstand war. Sie bezog das Wochengeld für P* und war bis 18.8.2020 erneut in Karenz. Die Kl wohnte zwar zwischen April und Oktober 2019 in Wien, P* war allerdings nie in Österreich gemeldet. Nach Ende der zweiten Karenz nahm die Kl ihre Erwerbstätigkeit in Österreich nicht wieder auf und nach Verbrauch der Resturlaubstage wurde das Dienstverhältnis gelöst.

Zum Zeitpunkt der beiden Karenzvereinbarungen für L* und P* hatte die Kl jeweils die Absicht, im Anschluss an die Karenz ihre Arbeit in Österreich wieder aufzunehmen. Ihr Dienstverhältnis in Österreich beendete sie, weil ihr DG für die Dauer der Covid-19-Pandemie sowohl eine Tätigkeit im Homeoffice als auch unbezahlten Urlaub ablehnte.

Das Erstgericht wies die auf Gewährung von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens für L* und P* gerichteten Klagen im dritten Rechtsgang ab. Das Berufungsgericht gab den Klagen dagegen statt. In ihrer außerordentlichen Revision zeigte die Bekl keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung auf.

In ihrer Rechtsrüge teilte die Bekl zwar die Ansicht des Berufungsgerichts, wonach die von der Kl in den Niederlanden für ihre Söhne bezogenen Leistungen („Kinderopvangtoeslag“ und Kindergeld „Kinderbijslag“) auch mit dem einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeld (zur Pauschalvariante vgl OGH 22.6.2023, 10 ObS 55/23w) nicht vergleichbar seien. Sie leitete daraus aber ab, dass die Voraussetzungen für eine Koordinierung nach Art 68 VO (EG) 883/2004 nicht vorliegen und folgerte, dass das Unionsrecht nicht zur Anwendung gelange und es somit auch die Voraussetzung des § 24 Abs 1 Z 1 iVm § 2 Abs 1 Z 4 KBGG, also den Mittelpunkt der Lebensinteressen des Elternteils und des Kindes in Österreich, nicht überlagern könne.

Der OGH hat in letzter Zeit mehrfach betont, dass die Ansicht, die VO (EG) 883/2004 sei nicht anzuwenden, wenn einander keine gleichartigen Leistungen 318 gegenüberstehen, nicht zutrifft. In diesem Fall scheidet mangels zu koordinierender Leistungen zwar die Anwendung der Prioritätsregeln des Art 68 VO (EG) 883/2004, nicht aber die Anwendung der VO (EG) 883/2004 an sich und vor allem nicht der Regelung über die Exportpflicht nach ihrem Art 67 aus (OGH 16.4.2024, 10 ObS 26/24g). In der hier vorliegenden Konstellation, wenn also keine vergleichbaren Leistungen gewährt werden, erfolgt die Anknüpfung nach den allgemeinen Bestimmungen der Art 11 ff VO (EG) 883/2004 und der Regelung über die Exportpflicht des Art 67 VO (EG) 883/2204.

Die notwendige lückenlose Aneinanderreihung von Zeiten der Beschäftigung und dieser gleichgestellter Zeiten iSd § 24 Abs 2 KBGG iVm Art 1 lit a VO (EG) 883/2004 bestritt die Bekl mit dem Argument, im Anlassfall sei von einer bloßen Scheinkarenz auszugehen (vgl zur „Gleichstellungskette“ OGH 16.1.2024, 10 ObS 64/23v).

Eine „Scheinkarenz“ iSd § 24 Abs 3 KBGG liegt dann vor, wenn die vorübergehende Unterbrechung der Erwerbstätigkeit zum Zweck der Kindererziehung nur vorgetäuscht wird, obwohl realiter von einer Beendigung der Tätigkeit auszugehen ist. Der OGH hat in seiner E 10 ObS 130/18t vom 22.1.2019 das Vorliegen einer Scheinkarenz in einem Fall verneint, in dem die Mutter bereits vor der Geburt zum Vater ihres Kindes nach Belgien verzogen war und bis zwei Monate vor dem Ende der Karenzzeit die Möglichkeit und auch die Absicht hatte, ihr Beschäftigungsverhältnis in Österreich wieder aufzunehmen, es dann aber noch vor Wiederaufnahme der Tätigkeit kündigte, weil ihr DG einen unbezahlten Urlaub in Anschluss an die Karenz ablehnte. Die einzelfallbezogene Beurteilung des Berufungsgerichts, wonach auch im vorliegenden Fall keine Scheinkarenz vorlag, entspricht den Grundsätzen dieser Rsp. Die Revision war daher zurückzuweisen.