Die zivilrechtliche Aufsichtspflicht im Lehrverhältnis

MarkusSchüller

Die Rechtsordnung enthält an unterschiedlichen Stellen Normen zur zivilrechtlichen Aufsichtspflicht im Lehrverhältnis, die erst in ihrer Zusammenschau ein rundes Bild ergeben. Der gegenständliche Beitrag soll eine Übersicht zu den einschlägigen Rechtsquellen und deren praktischer Bedeutung anhand ausgewählter Praxisbeispiele geben.

1..
Die Historie der Aufsichtspflicht in jüngerer Zeit

Art 1384 des französischen Code Civil aus 1804 beinhaltete erstmals eine Verschuldensvermutung, indem das Gesetz davon ausging, dass Eltern an der Tat eines Kindes ein Verschulden traf, weil sie diese nicht verhindert hatten, wobei es den Eltern jedoch freistand, diese Vermutung durch den Beweis einer ordnungsgemäßen Pflichterfüllung zu widerlegen; während das deutsche BGB aus 1900 eine dem Code Civil vergleichbare Beweislastumkehr einführte, sieht der seit 1811 unveränderte § 1309 ABGB selbst keine Beweislastumkehr vor.*

2..
Zur Aufsichtspflicht der Eltern und der Übertragung an den Lehrberechtigten

Primär kommt die Aufsichtspflicht aufgrund des Gesetzes den Eltern bzw den mit der Obsorge betrauten Personen zu.* Dritte dürfen gem § 139 Abs 1 ABGB in die elterlichen Rechte nur insoweit eingreifen, als das durch die Eltern selbst, unmittelbar aufgrund des Gesetzes oder durch behördliche Verfügung, gestattet ist. Im Falle eines Lehrverhältnisses wird durch den Abschluss des Lehrvertrages die Aufsichtspflicht notwendigerweise rechtsgeschäftlich auf den Lehrberechtigten übertragen, wie das beispielsweise auch bei einer Unterbringung eines Kindes in einem Kindergarten der Fall ist.* Eine ausdrückliche Erwähnung im Lehrvertrag ist dabei nicht nötig, da sich bei einem Lehrvertrag kein Zweifel ergibt, dass der Obsorgeberechtigte die Aufsichtspflicht übertragen hat und der Lehrberechtigte die Aufsichtspflicht auch übernimmt, da die Aufsichtspflicht während des Lehrverhältnisses faktisch nicht mehr von den Eltern, sondern nur mehr vom Lehrberechtigten ausgeübt werden kann.* Auch geht die Rsp zurecht von einer Aufsichtspflicht des Lehrberechtigten aus.* Die Eltern haben bezüglich der Übertragung der Aufsichtspflicht gem § 137 Abs 2 3. Satz ABGB zwar grundsätzlich Einvernehmen herzustellen. Da jedoch der Abschluss eines Lehrvertrages nicht unter § 167 Abs 2 ABGB fällt, sondern nur die vorzeitige Auflösung eines Lehrvertrages von dieser Norm erfasst wird, kann die Aufsichtspflicht auch von nur einem Elternteil allein an den Lehrberechtigten übertragen werden.*

Ab dem Zeitpunkt der rechtsgeschäftlichen Übertragung der Aufsichtspflicht sind vor allem die aus dem Lehrverhältnis resultierende Fürsorgepflicht sowie die einschlägigen Bestimmungen des Berufsausbildungsrechts zur Klärung von Fragen iZm der Aufsichtspflicht ergänzend zu den allgemeinzivilrechtlichen Normen heranzuziehen. Dabei sind vor allem die Pflichten des Lehrberechtigten nach dem BAG (sowie für den land- und forstwirtschaftlichen Bereich nach dem LAG 2021) zu beachten. Die Pflichten des Lehrberechtigten werden insb in § 9 BAG (sowie für den land- und forstwirtschaftlichen Bereich insb in § 270 LAG 2021) geregelt. Auch wenn diese Norm unabhängig vom Alter der betreffenden Lehrlinge zur Anwendung kommt, ist sie aber dennoch im Hinblick auf jugendliche Lehrlinge im Lichte einer erhöhten Fürsorgepflicht zu sehen.* Ebenso sind das KJBG, die KJBG-VO sowie die jeweils anzuwendenden Ausbildungsordnungen zu berücksichtigen.

3..
Zur Haftung der Eltern bzw der Lehrberechtigten
3.1..
Beginn der Aufsichtspflicht des Lehrberechtigten

Da die Fürsorge- und Aufsichtspflichten aufgrund ihres notwendigen Ineinandergreifens nicht isoliert voneinander betrachtet werden können, geht bei der betrieblichen Ausbildung die Aufsichtspflicht, aufgrund der rechtsgeschäftlichen Übertragung derselben durch den Abschluss des Lehrvertrages, von den Eltern auf den Lehrberechtigten spätestens mit dem ersten Tag der im Lehrvertrag festgelegten Lehrzeit über, da jedenfalls ab diesem Zeitpunkt nach hM* auch die Fürsorgepflicht vom Lehrberechtigten wahrzunehmen ist. Genauso wie die Fürsorgepflicht ist die Aufsichtspflicht innerhalb jenes Rahmens vom Lehrberechtigten wahrzunehmen, als ein Sachverhalt dem Einflussbereich dem Lehrberechtigten nicht entzogen ist.*325

3.2..
Haftung der Eltern vs Haftung des Lehrberechtigten

Eltern haften ab der Übertragung der Aufsichtspflicht nur mehr insoweit, als sie ein Auswahl- oder Überwachungsverschulden trifft.* Da die Begründung eines Lehrverhältnisses jedoch nur mit einem Lehrberechtigten, der ein verwaltungsrechtliches Feststellungsverfahren gem § 3a BAG durchlaufen hat, möglich ist, kann ein Auswahlverschulden der Eltern strenggenommen nur dann angenommen werden, wenn ihnen ein Sachverhalt erkennbar sein musste, der ein Verbot des Ausbildens von Lehrlingen nach § 4 BAG nach sich ziehen müsste. Das wird praktisch allerdings nur in den allerseltensten Fällen überhaupt in Betracht kommen und deshalb eine eher theoretische Ausnahme darstellen. Vielmehr wird im Hinblick auf ein Auswahlverschulden aufgrund des Feststellungsbescheides gem § 3a BAG und der Überwachung der betrieblichen Ausbildung durch die Lehrlingsstellen gem § 19 Abs 3 BAG davon auszugehen sein, dass Lehrberechtigte, die für die ordnungsgemäße Ausübung der Aufsichtspflicht erforderlichen Eigenschaften aufweisen, da es den Lehrlingsstellen im Rahmen der laufenden Überwachung der Lehrlingsausbildung gem § 19 Abs 3 BAG auch obliegt, festzustellen, ob die Voraussetzungen für die Ausbildung von Lehrlingen (weiterhin) gegeben sind. Das bedeutet im Ergebnis, dass eine Haftung der Eltern für jene Zeit, in der sich ein Lehrling im Einflussbereich eines Lehrberechtigten befindet, idR nicht in Frage kommt.

Hinsichtlich der Haftung des Lehrberechtigten sind grundsätzlich zwei Fallkonstellationen denkbar; einerseits kommt eine Haftung für die Schädigung eines Dritten durch den Lehrling und andererseits eine Haftung für die Selbstschädigung des Lehrlings in Betracht.* Denn obwohl sich der Wortlaut des § 1309 ABGB nur auf die Schädigung durch einen Aufsichtsbedürftigen bezieht, haftet der Aufsichtspflichtige auch für allfällige Selbstschädigungen des Aufsichtsbedürftigen.* Haftungsbegründend ist die schuldhafte Unterlassung der nötigen Aufsicht, wobei auf einen objektiven Sorgfaltsmaßstab abzustellen ist.*

Bezüglich der Schadensminderungspflicht ist nach der stRsp entscheidend, was verständige Menschen nach vernünftigen Anforderungen im konkreten Fall unternehmen müssen, um die Schädigung Dritter (bzw die Selbstschädigung) durch Kinder zu verhindern und welchen konkreten Anlass zu bestimmten Aufsichtsmaßnahmen sie hatten.* Eine Überwachung auf „Schritt und Tritt“ kann idR nicht verlangt werden.* Der Umfang der Aufsichtspflicht ist vielmehr einzelfallbezogen unterschiedlich zu beurteilen. Maßgeblich ist, was nach dem konkreten Einzelfall anhand des Alters des jugendlichen Lehrlings, seines Entwicklungsstandes und seiner Eigenschaften vom Aufsichtspflichtigen unter Berücksichtigung seiner Lebensverhältnisse vernünftigerweise erwartet werden darf; ob die Aufsichtspflicht von den Eltern selbst oder anderen Personen ausgeübt wird, ist im Hinblick auf das Ausmaß der Aufsichtspflicht irrelevant.* Um im konkreten Einzelfall beurteilen zu können, welche Tätigkeiten und Handlungen vom jugendlichen Lehrling idR selbständig wahrgenommen werden können, sind die für das Lehrverhältnis zu beachtenden Rechtsgrundlagen als Auslegungshilfe heranzuziehen. So enthalten vor allem die jeweiligen Ausbildungsordnungen Tätigkeiten, die auf bestimmte Lehrjahre bzw das Alter abstellen. Auch ist die KJBG-VO insb im Hinblick auf für bestimmte Altersgruppen verbotene Tätigkeit bzw Tätigkeiten, die erst nach einer gewissen Ausbildungszeit erlaubt sind, zu beachten. Allerdings bedeutet die Beachtung dieser altersrelevanten Rechtsquellen nicht automatisch, dass eine Haftung ausgeschlossen werden kann, da es im Einzelfall auch vorkommen kann, dass unabhängig davon eine besondere Aufsicht geboten erscheint.

Wurden demnach Maßnahmen nicht ergriffen, obwohl sie zu ergreifen gewesen wären, ist eine Verletzung der Aufsichtspflicht zu bejahen und der Lehrberechtigte haftet gem § 1309 ABGB, ohne sich an den Eltern regressieren zu können.* Welche Maßnahmen in concreto ergriffen werden hätten müssen, ist dabei ex ante zu beurteilen.* Dem Beschädigten obliegt der Nachweis der Vernachlässigung der Obsorge und der Aufsichtspflichtige hat seine Schuldlosigkeit zu beweisen, wobei die Rsp letzteres nicht unmittelbar mit § 1309 ABGB, sondern § 1298 ABGB begründet.* Bei Beurteilung der Schuldlosigkeit ist, aufgrund der Eigenschaft des Aufsichtspflichtigen als Lehrberechtigter und somit als durchschnittlicher Fachmann seines Fachgebietes, zudem der erhöhte Sorgfaltsmaßstab des § 1299 ABGB zu beachten.*326

4..
Ausgewählte praktische Fragen zur Aufsichtspflicht

Einschlägige Rsp, die sich unmittelbar mit der zivilrechtlichen Aufsichtspflicht des Lehrberechtigten beschäftigt, ist – so weit überblickbar – nicht vorhanden.*

4.1..
Die Ausbildung im Betrieb
4.1.1..
Der Zeitraum der Aufsichtspflicht

Für den Zeitpunkt des Beginns und Endes der Aufsichtspflicht des Lehrberechtigten an einem konkreten Arbeitstag ist eine ausschließliche Anknüpfung an Arbeitszeiten abzulehnen, da ansonsten beispielsweise niemand für einen jugendlichen Lehrling zwischen dem Betreten des Firmengeländes und dem Beginn der Arbeitszeit, sofern diese zwei Zeitpunkte auseinanderfallen, aufsichtspflichtig wäre. Vielmehr geht die Aufsichtspflicht von den Eltern auf den Lehrberechtigten über und hat dieser die Aufsichtspflicht auszuüben, sobald der minderjährige Lehrling seiner Sphäre iSe Einflusssphäre zuzurechnen ist.*

4.1.2..
Die konkret aufsichtspflichtige Person im Betrieb

Die Aufsichtspflicht wird zwar rechtsgeschäftlich für die Dauer des Lehrverhältnisses an den Lehrberechtigten übertragen. Dieser kann sie jedoch nur in Form einer konkreten Person tatsächlich ausüben. Sofern der Lehrberechtigte eine natürliche Person ist, die zur Gewerbeausübung keinen Geschäftsführer zu bestellen hat und selbst die Fachkenntnisse für die Ausbildung von Lehrlingen nachweisen kann, obliegt dieser Person grundsätzlich selbst die Ausübung der Aufsichtspflicht.* Ansonsten kommen für die Ausübung der Aufsichtspflicht primär die Ausbilder gem § 3 BAG praktisch in Frage. Möchte sich der Lehrberechtigte anderer Personen bedienen und sollen andere im Betrieb beschäftigte Personen mit der Wahrnehmung der Aufsichtspflicht betraut werden, wird es zwischen diesen Personen und dem Lehrberechtigten einer einzelvertraglichen Vereinbarung über die Ausübung der Aufsichtspflicht bedürfen, da die Wahrnehmung der Aufsichtspflicht idR nicht unter Arbeitsleistungen fallen wird, die im Rahmen eines Arbeitsvertrages üblicherweise zu erbringen sind, sondern vielmehr bedeutend darüber hinausgehen und eine derartige Tätigkeit über das Weisungsrecht des AG deshalb grundsätzlich nicht delegiert werden kann.* Für Abwesenheitszeiten der mit der Aufsichtspflicht betrauten Personen hat der Lehrberechtigte dafür Sorge zu tragen, dass die Aufsichtspflicht auch während dieser Zeiten weiterhin ausgeübt werden kann.*

4.2..
Der Weg vom Betrieb in die Berufsschule und der Weg von der Berufsschule in den Betrieb

In dieser Konstellation wird die Aufsichtspflicht zwischen dem Lehrberechtigten und der Berufsschule aufgeteilt; sofern keine gesetzliche Aufsichtspflicht der Berufsschule vorliegt, verbleibt die Aufsichtspflicht beim Lehrberechtigten.* Eine Rückübertragung der Aufsichtspflicht vom Lehrberechtigten an die Eltern für die Wegzeit vom Betrieb zur Berufsschule (und gegebenenfalls retour) kommt nicht in Betracht, da der Lehrberechtigte gem § 9 Abs 5 BAG dazu verpflichtet ist, den Lehrling zum regelmäßigen Berufsschulbesuch anzuhalten und gem § 9 Abs 5 BAG iVm § 11 Abs 4 KJBG dem Lehrling vom Lehrberechtigten die zur Erfüllung der Berufsschulpflicht erforderliche Zeit, zu der auch die Wegzeit zur Berufsschule (und gegebenenfalls retour) zählt, unter Fortzahlung des Lehrlingseinkommens freizugeben ist. Diese Wegzeit wird von der Rechtsordnung demnach, auch durch explizite Bezugnahme darauf in § 11 Abs 7 KJBG, als integraler Bestandteil des Lehrvertrages angesehen und geschieht nicht außerhalb desselben, weshalb diese Zeit in dieser Konstellation jedenfalls der Sphäre des Lehrberechtigten zuzurechnen ist. Eine Notwendigkeit zur Begleitung oder zum Transport des Minderjährigen zur Berufsschule ist unter normalen Umständen zwar grundsätzlich nicht zu vermuten, da zum Zeitpunkt des Beginns der Berufsschule Schulwege den Jugendlichen idR bereits vertraut sein werden. Dennoch können bestimmte Fälle jedoch abweichende Beurteilungen, die von der mit der Aufsichtspflicht betrauten Person zu treffen sind, geboten erscheinen lassen.*

4.3..
Der Weg vom Betrieb zu anderen Arbeitsorten (wie zB auf Baustellen) und der Weg von anderen Arbeitsorten zum Betrieb

Soll außerhalb des Betriebes gearbeitet werden, ist entscheidend, ob beim Abschluss des Lehrvertrages vereinbart wurde, ob Arbeiten zB auf Baustellen überhaupt zu verrichten sind, wenn im Berufsbild der betreffenden Ausbildungsordnung die Arbeit zB auf Baustellen nicht ohnehin ausdrücklich erwähnt wird. Nur wenn es entweder eine Bestimmung in der Ausbildungsordnung oder eine entsprechende Vereinbarung im Zuge des Lehrvertragsabschlusses gibt, wird der Lehrberechtigte im Rahmen seines Weisungsrechtes überhaupt die Möglichkeit haben, 327 einen Lehrling anzuweisen, Arbeitsleistungen zB auf Baustellen zu verrichten. Besteht diese Weisungsmöglichkeit jedoch und übt der Lehrberechtigte sein Weisungsrecht entsprechend aus, befindet sich der Lehrling durch die Ausübung des Weisungsrechts des Lehrberechtigten auch innerhalb dessen Einflusssphäre.

Wird der Weg vom Betrieb zu einem anderen Arbeitsort angetreten, ist dieser Fall einer Dienstreise mit dem Berufsschulweg zwar grundsätzlich vergleichbar. Berufsschulen sind idR für Minderjährige allerdings gut allein erreichbar. Bei Baustellen ist das naturgemäß nicht immer der Fall. Inwiefern einem Jugendlichen die Zurücklegung des Weges vollständig allein zugemutet werden kann, hängt deshalb von den Umständen des Einzelfalles ab. Dabei sind insb das Alter und der Entwicklungsstand maßgebliches Kriterium dafür, ob dem Lehrling die alleinige Zurücklegung eines konkreten Weges zugemutet werden kann oder ob der Einzelfall eine Begleitung bzw den Transport des Minderjährigen erforderlich erscheinen lässt. Dabei wird es zudem auch darauf ankommen, ob bzw mit welchen Verkehrsmitteln der andere Arbeitsort wie zB eine Baustelle erreichbar ist bzw ob mitunter ein nicht unwesentlicher Teil der Strecke gegebenenfalls zu Fuß zurückgelegt werden muss.

Ergeben sich im Einzelfall objektiv berechtigte Zweifel, dass der Weg vom Jugendlichen allein zurückgelegt werden kann, ist vom Lehrberechtigten, als Ausfluss einerseits der erhöhten Fürsorgepflicht und andererseits der gebotenen Schadensminderungspflicht, für eine adäquate Begleitung bzw einen adäquaten Transport Sorge zu tragen.

4.4..
Arbeitsantritt und Arbeitsende außerhalb des Betriebes (wie zB auf Baustellen)

Auch hier ist als Vorfrage zu klären, inwieweit der Lehrberechtigte den Lehrling überhaupt anweisen kann, Arbeitsleistungen außerhalb des Betriebes zu erbringen. Besteht diese Weisungsmöglichkeit jedoch und übt der Lehrberechtigte sein Weisungsrecht entsprechend aus, befindet sich der Lehrling (wie bei Pkt 4.3.) durch die Ausübung des Weisungsrechts des Lehrberechtigten auch innerhalb dessen Einflusssphäre.

In dieser Fallkonstellation ist, vergleichbar mit jener in Pkt 4.3., darauf abzustellen, ob dem Lehrling die alleinige Zurücklegung eines konkreten Weges zugemutet werden kann, oder ob der Einzelfall eine Begleitung bzw den Transport des Minderjährigen erforderlich erscheinen lässt. IdR wird hier die Frage zu stellen sein, welche Maßnahmen der Begleitung bzw des Transportes vom Lehrberechtigten ergriffen werden hätten müssen, falls der Lehrling seine Arbeit vom Betrieb aus angetreten hätte und von diesem zB zur Baustelle gefahren wäre. Diese Maßnahmen wird der Lehrberechtigte jedenfalls auch dann zu treffen haben, wenn der Arbeitsantritt bzw das Arbeitsende außerhalb des Betriebes erfolgen soll, sofern aus der Prüfung des Einzelfalles keine andere Bewertung resultiert (beispielsweise, wenn eine Baustelle vom Wohnort des Lehrlings in verhältnismäßig kurzer Zeit gefahrlos zu Fuß erreicht werden könnte).

4.5..
Der Weg von zu Hause in die Berufsschule und von der Berufsschule nach Hause

Findet an einem Tag keine betriebliche Ausbildung, sondern lediglich ein Berufsschulbesuch statt oder kommt es beispielsweise zum Blockunterricht in der Berufsschule, sind zwar auch diese Zeiten integraler Bestandteil eines Lehrverhältnisses; allerdings kommen Lehrlinge, im Unterschied zu Pkt 4.2., bei den Wegen in die Berufsschule in diesen Konstellationen einerseits mit der Einflusssphäre des Lehrberechtigten nicht in Berührung und andererseits stellen diese Wegzeiten auch keine vertraglichen Arbeitszeiten dar.

Falls somit keine Aufsichtspflicht der Berufsschule aufgrund der einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen besteht,* greift bei diesen Sachverhalten die Aufsichtspflicht der Eltern.

4.6..
Exkurs: „Aufsichtspflicht“ auch für volljährige Lehrlinge?

Eine Aufsichtspflicht wie für Minderjährige kommt bei Volljährigen zwar nicht mehr in Betracht; allerdings gilt es zu bedenken, dass volljährige Lehrlinge noch in Ausbildung stehen und deshalb, insb beim Einsatz dieser Personen Dritten gegenüber im Hinblick auf Haftungen des Lehrberechtigten gem §§ 1313a und 1315 ABGB, ein erhöhter Sorgfaltsmaßstab (gem § 1299 ABGB) vom Lehrberechtigten zu beachten ist.

5..
Conclusio

Die Lehrberechtigten haben aufgrund einzelvertraglicher Vereinbarung mittels Lehrvertrages die Aufsichtspflicht für jenen Zeitraum von den Eltern übernommen, für den sich die Lehrlinge in deren Einflusssphäre befinden. Ausschlaggebend für die durch die Lehrberechtigten konkret zu setzenden Maßnahmen sind die jeweils spezifischen Umstände des Einzelfalles sowie das Alter und der Entwicklungsstand der Jugendlichen, wobei der erhöhten Fürsorgepflicht besondere Beachtung zu schenken ist. Orientierungshilfen für konkret zu treffende Maßnahmen bieten neben dem BAG die jeweiligen Ausbildungsordnungen, das KJBG sowie die KJBG-VO. 328