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Ermessen über rückwirkende Zuerkennung von Arbeitslosengeld kann nicht erstmals im Beschwerdeverfahren durch BVwG ausgeübt werden

NicolePinter

Die Beschwerdeführerin erhielt, nachdem sie sich arbeitslos gemeldet hatte, am 2.4.2020 per Post vom Arbeitsmarktservice (AMS) ein Formular für den Antrag auf Arbeitslosengeld. Ein Begleitschreiben dazu enthielt Hinweise auf die damals herrschende Situation und Kontaktbeschränkungen auf Grund der Covid-19-Pandemie und, bezugnehmend darauf, ua die folgende Anmerkung: „Wir bitten Sie daher ausdrücklich, nicht persönlich beim AMS vorzusprechen! Alle Ihre Anliegen können von uns auch über Ihr eAMS-Konto, per E-Mail, telefonisch oder per Post erledigt werden. Sobald wir Ihren Antrag erhalten haben, schicken wir Ihnen einen Termin für eine persönliche Beratung zu. Dieser Termin ist verbindlich und pünktlich einzuhalten und findet frühestens Ende April/Anfang Mai 2020 statt.

Die Beschwerdeführerin warf ihren ausgefüllten und unterschriebenen Antrag auf Arbeitslosengeld am 2.4.2020 in den Postkasten des AMS. Im Antrag hatte sie ua angegeben, dass ihr aus der beendeten Beschäftigung noch eine Urlaubsersatzleistung zustehe. Das von ihr verwendete Antragsformular enthielt auf der letzten Seite folgenden Hinweis: „Bei Unterbrechenszeiträumen von länger als 62 Tagen besteht frühestens wieder ab dem Tag der elektronischen (über eAMS-Konto) oder persönlichen Beantragung ein Leistungsanspruch.“

Mit Bescheid vom 21.4.2020 sprach das AMS gem § 16 Abs 1 lit l AlVG aus, dass der Anspruch der Beschwerdeführerin auf Arbeitslosengeld „wegen Bestehen eines Anspruchs auf eine Urlaubsersatzleistung für den Zeitraum 01.04.2020 – 30.06.2020“ ruht.

Die Beschwerdeführerin versuchte am 9.8.2020 mit dem AMS Kontakt aufzunehmen. Am 2.9.2020 wurde ihr mitgeteilt, „dass sie nur mehr einen neuen Antrag auf Arbeitslosengeld für die Zeit ab 2.9.2020 stellen könne“. Sie stellte am gleichen Tag einen neuen Antrag. Nach Erhalt einer Leistungsmitteilung, 302 wonach ihr die Leistung beginnend ab 2.9.2020 bis voraussichtlich 1.6.2021 gebühre, beantragte die Beschwerdeführerin die Erlassung eines Bescheides über ihren Anspruch und machte geltend, sie sei der Meinung, dass sie einen Anspruch auf Arbeitslosengeld „seit 01.07.2020, und nicht erst seit 02.09.2020“ habe. Mit Bescheid vom 13.10.2020 sprach das AMS aus, dass der Beschwerdeführerin „gemäß § 17 iVm §§ 44 u 46 AlVG Arbeitslosengeld ab dem 02.09.2020“ gebühre. Gegen diesen Bescheid erhob die Beschwerdeführerin Beschwerde.

Mit dem nach Ergehen einer (beschwerdeabweisenden) Beschwerdevorentscheidung des AMS erlassenen angefochtenen Erkenntnis änderte das BVwG „den angefochtenen Bescheid“ (gemeint wohl: die Beschwerdevorentscheidung) insoweit ab, als der Spruch zu lauten hat: „Ihnen gebührt gem. § 17 iVm §§ 44 und 46 AlVG i.d.g.F. Arbeitslosengeld ab 1.7.2020“.

Die Revision erklärte das BVwG gem Art 133 Abs 4 B-VG für zulässig.

Die Beschwerdeführerin habe ihr erstes ausführliches telefonisches Beratungsgespräch am 2.9.2020 gehabt. Bis dahin sei ihr noch kein Berater/keine Beraterin zugeteilt gewesen. Unter Berücksichtigung dieses „Ausnahmeumstandes“ sei im vorliegenden Fall an das AMS ein „besonderer Sorgfaltsmaßstab betreffend ein klares Vorgehen im Sinne der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofs“ (Hinweis auf VwGH 28.6.2006, 2005/08/0201) zu stellen. Das BVwG begründete in weiterer Folge unter Bedachtnahme auf die näheren Umstände der Antragstellung (wie die Pandemiesituation) sowie auf den Aufbau und die Textierung des Bescheides vom 21.4.2020 und des Antragsformulars vom 2.4.2020, dass für die Mitbeteiligte nicht klar erkennbar gewesen sei, dass sie ab 1.4.2020 einen neuerlichen Antrag auf Arbeitslosengeld hätte stellen müssen. Die Beschwerdeführerin sei zu Recht davon ausgegangen, dass eine persönliche Vorsprache beim AMS nicht erwünscht gewesen sei und sie „sich bis zum Erstgespräch in Geduld üben möge“.

Im Anschluss an diese Überlegungen zitierte das BVwG den Wortlaut des § 17 Abs 4 AlVG. Diese Bestimmung ermöglicht es der zuständigen Landesgeschäftsstelle, die regionale Geschäftsstelle amtswegig unter Berücksichtigung der Zweckmäßigkeit und der Erfolgsaussichten in einem Amtshaftungsverfahren zu einer rückwirkenden Leistungszuerkennung zu ermächtigen, wenn die Unterlassung einer rechtzeitigen Antragstellung auf einen Fehler der Behörde, der Amtshaftungsfolgen auslösen kann, wie zB eine mangelnde oder unrichtige Auskunft, zurückzuführen ist. Das BVwG führte dazu aus, dass diese Bestimmung die Landesgeschäftsstelle zur Ermessensausübung ermächtige. Gem § 17 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG) seien auf das Verfahren über Beschwerden gem Art 130 Abs 1 B-VG, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt sei, jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte. Dies führe im vorliegenden Zusammenhang dazu, dass die Ermessensübung iSd § 17 Abs 4 AlVG im Beschwerdeverfahren dem BVwG zukomme. Es hat auf dieser Grundlage angenommen, dass im vorliegenden Beschwerdefall „ein Vorgehen iSd § 17 Abs 4 AlVG geboten“ und „im Sinne des Ermessens nach § 17 Abs 4 AlVG von einer Antragstellung auf Arbeitslosengeld ab Beginn [der] Arbeitslosigkeit [der Mitbeteiligten], somit ab 1.7.2020 auszugehen“ sei.

Das Erkenntnis des BVwG wurde vom VwGH wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit aufgehoben. Der VwGH begründet seine Entscheidung damit, dass eine Entscheidung nach § 17 Abs 4 AlVG nicht vom Gegenstand des beim BVwG angefochtenen Bescheides umfasst war, sodass sie auch nicht Gegenstand des Beschwerdeverfahrens werden konnte. In dem Umfang, in dem das BVwG auf diese Weise diese Befugnis in Anspruch genommen hat, hat es den Gegenstand des Beschwerdeverfahrens überschritten und das angefochtene Erkenntnis mit Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit belastet.

Für die Annahme, dass der Bescheidantrag der Beschwerdeführerin als ein (unzulässiges) Begehren auf ein Vorgehen nach § 17 Abs 4 AlVG zu verstehen gewesen wäre, hat das AMS im Bescheid vom 13.10.2020 – zu Recht – keinen Anlass gesehen. Soweit nach § 17 Abs 4 AlVG die regionale Geschäftsstelle des AMS unter näher geregelten Voraussetzungen „zu einer Zuerkennung des Arbeitslosengeldes ab einem früheren Zeitpunkt“ ermächtigt werden kann, handelt es sich bei der „Zuerkennung“ daher – schon angesichts der dafür normierten Voraussetzung der „Unterlassung einer rechtzeitigen Antragstellung“ – um einen ausschließlich von Amts wegen in Betracht kommenden Akt der Rechtsgestaltung. Ein auf eine solche rückwirkende „Zuerkennung“ abzielender Antrag wäre (mangels Antragsrechts und Rechtsanspruchs) zurückzuweisen. 303