21Keine Bindung des AMS an die Feststellung der (vorübergehenden) Invalidität bzw Berufsunfähigkeit in gerichtlichem Vergleich
Keine Bindung des AMS an die Feststellung der (vorübergehenden) Invalidität bzw Berufsunfähigkeit in gerichtlichem Vergleich
Zwischen der Revisionswerberin und der Pensionsversicherungsanstalt (PVA) wurde am 19.1.2021 ein gerichtlicher Vergleich abgeschlossen, wonach vorübergehende Berufsunfähigkeit vorliegt und für die Dauer der medizinischen Maßnahmen der Rehabilitation Anspruch auf Rehabilitationsgeld besteht. Mit Bescheid der PVA vom 1.2.2022 wurde das Rehabilitationsgeld mit 31.3.2022 entzogen, weil die Revisionswerberin an den notwendigen Maßnahmen der medizinischen Rehabilitation nicht mitgewirkt hat. Eine gegen den Entziehungsbescheid eingebrachte Klage wurde vom zuständigen Landesgericht mit Urteil vom 1.12.2022 abgewiesen.
Die Revisionswerberin beantragte am 3.4.2023 die Zuerkennung der Notstandshilfe. Mit Bescheid vom 9.6.2023 gab das Arbeitsmarktservice (AMS) dem Antrag keine Folge und begründete die Entscheidung damit, dass die Revisionswerberin nicht arbeitsfähig sei. Sie habe bis 31.3.2022 Rehabilitationsgeld bezogen, weil Arbeitsfähigkeit nicht gegeben gewesen sei. Die Revisionswerberin gelte weiterhin als arbeitsunfähig, weil in der Zwischenzeit kein Gutachten vorgelegt worden sei, dass der Revisionswerberin Arbeitsfähigkeit bescheinige. Daher sei das letzte vorhandene Gutachten, welches zur Zuerkennung des Rehabilitationsgeldes geführt habe, nach wie vor gültig. Im Übrigen seien auch sonst keine Beweismittel vorgelegt worden, die die Annahme von Arbeitsfähigkeit begründen könnten.
Gegen den Bescheid des AMS erhob die Revisionswerberin Beschwerde und brachte im Wesentlichen vor, dass sie zumindest für 20 Wochenstunden für leichte Arbeiten dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehe und daher arbeitsfähig sei. Dies haben die behandelnde Psychiaterin und der Umstand, dass am 1.5.2023 ein Dienstverhältnis begonnen und mit 31.5.2023 innerhalb der Probezeit seitens des DG beendet worden sei, bewiesen. Die Beendigung habe nichts mit dem gesundheitlichen Zustand der Revisionswerberin zu tun gehabt. Zudem sei in der Betreuungsvereinbarung des AMS vom 7.6.2023 von einer eingeschränkten Arbeitsfähigkeit die Rede gewesen.
Das BVwG wies die Beschwerde als unbegründet ab. Das AMS sei bei der Prüfung der Arbeitsfähigkeit iSd § 8 AlVG an eine positive rechtskräftige Feststellung der Invalidität bzw Berufsunfähigkeit gebunden. Im gegenständlichen Fall sei auf Grund des am 19.1.2021 geschlossenen gerichtlichen Vergleichs festgestellt worden, dass bei der Revisionswerberin vorübergehende Berufsunfähigkeit vorliege. „Somit“ sei gem § 367 Abs 4 ASVG festgestellt worden, dass eine vorübergehende Berufsunfähigkeit im Ausmaß von mindestens sechs Monaten vorliege und die Revisionswerberin seit 1.3.2020 vorübergehend berufsunfähig sei. Nach Auffassung des VwGH würden diese Feststellungen jedenfalls Bindungswirkung entfalten, wobei im „Ausmaß von mindestens sechs Monaten“ bedeuten würde, dass nach Ablauf von sechs Monaten weiterhin von einer Invalidität bzw Berufsunfähigkeit auszugehen sei, solange sich der Sachverhalt nicht wesentlich geändert habe. Dass sich jedoch der Gesundheitszustand der Revisionswerberin geändert hätte, sei im gesamten Verfahren nicht vorgebracht worden bzw würde sich nicht aus der vorgelegten ärztlichen Stellungnahme ergeben.
Die Revisionswerberin brachte gegen diese Entscheidung eine außerordentliche Revision ein und begründete die Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung damit, dass das BVwG keine nachvollziehbare Begründung dafür geliefert habe, warum die Revisionswerberin nicht arbeitsfähig sein solle. Laut VwGH trifft diese Begründung der Revisionswerberin im Ergebnis zu, weshalb sich die Revision als zulässig und berechtigt erwiesen hat.
Begründend führt der VwGH aus, dass das BVwG das Fehlen der Arbeitsfähigkeit damit begründet hat, dass im Vergleich vom 19.1.2021 eine vorübergehende Berufsunfähigkeit festgestellt worden und seither keine wesentliche Änderung des Gesundheitszustandes erfolgt sei. Nach der auch vom BVwG zitierten Rsp des VwGH (vgl VwGH 19.12.2017, Ro 2017/08/0010) folgt aus der Anknüpfung des § 8 Abs 1 AlVG an die Invalidität bzw Berufsunfähigkeit iSd ASVG, dass das AMS jedenfalls an eine positive rechtskräftige Feststellung der Invalidität bzw Berufsunfähigkeit – als maßgebliche Vorfragenbeurteilung durch die PVA bzw das Gericht – gebunden ist. Auch eine nur vorübergehende Invalidität bzw Berufsunfähigkeit bewirkt – solange sie vorliegt – Arbeitsunfähigkeit iSd § 8 AlVG, und eine diesbezügliche rechtskräftige Feststellung durch den Pensionsversicherungsträger oder das Gericht ist im Verfahren nach § 8 AlVG ebenfalls bindend.
Laut VwGH stellt allerdings ein gerichtlicher Vergleich keine Entscheidung über eine Vorfrage iSd § 38 AVG dar (vgl VwGH 11.3.2024, Ra 2022/08/0166, 0167, mwN). Wird die Invalidität bzw Berufsunfähigkeit nicht in einem rechtskräftigen Bescheid oder Urteil des Gerichts – sondern in einem gerichtlichen Vergleich – festgestellt, so ist das AMS und das BVwG nicht daran gebunden, sondern haben 34 die Arbeitsfähigkeit in einem Verfahren nach § 8 AlVG aus Eigenem zu überprüfen. Zudem konnte das vom BVwG in der Begründung zitierte Urteil vom 1.12.2022 (zum Entzug des Rehabilitationsgeldes) nicht zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit herangezogen werden, weil über das Vorliegen der Berufsunfähigkeit nicht als Hauptfrage abgesprochen wurde. Somit war das angefochtene Erkenntnis wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.