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Unterschiedliche Tätigkeiten in parallel ausgeübten geringfügigen Dienstverhältnissen begründen „eine Tätigkeit“ gemäß § 255 Abs 4 ASVG

ALEXANDERDE BRITO

Auch dann, wenn mehrere Tätigkeiten parallel ausgeübt werden, ist für die Charakterisierung der „einen Tätigkeit“ iSd § 255 Abs 4 ASVG die Gesamttätigkeit maßgeblich.

Ist ein Versicherter aufgrund mehrfacher geringfügiger Beschäftigungen nach dem ASVG (§ 5 Abs 1 Z 2) im betreffenden Zeitraum auch in der PV pflichtversichert, liegt die nötige Einbindung in das System der PV auch für diese Beitragszeiten vor, weshalb diese Zeiten nach § 255 Abs 4 ASVG zu berücksichtigen sind.

Sachverhalt

Gegenstand des Verfahrens war die Frage, ob der Kl unter Berücksichtigung von Zeiten als Vollversicherter aufgrund mehrfacher geringfügiger Beschäftigungen – jeweils als Tischler und Hausbetreuer nach dem ASVG – Anspruch auf eine Invaliditätspension nach § 255 Abs 4 ASVG hat.

Der Kl erwarb in den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag neun Versicherungsmonate als selbständiger Tischler nach dem GSVG, fünf Monate als unselbständiger Tischler nach dem ASVG, 15 Versicherungsmonate als Vollversicherter aufgrund mehrfacher geringfügiger Beschäftigung nach dem ASVG, nämlich aufgrund einer geringfügigen Beschäftigung als Tischler und aufgrund einer weiteren geringfügigen Beschäftigung als Hausbesorger. Zusätzlich erwarb er 104 Versicherungsmonate bis zum Stichtag bzw 107 Versicherungsmonate als ungelernter Haus- und Gebäudebetreuer, wobei etwa 10 % seiner Tätigkeit Tischlerarbeiten waren.

Dem Kl war die Tätigkeit als Hausbesorger nicht mehr zumutbar. Der Kl war unter der Annahme eines Tätigkeitsschutzes auch nicht mehr verweisbar. 51

Verfahren und Entscheidung

Mit Bescheid lehnte die Bekl den Antrag des Kl auf Gewährung einer Invaliditätspension ab und sprach weiters aus, dass kein Anspruch auf Maßnahmen der beruflichen Rehabilitation bestehe.

Mit seiner Klage begehrte der Kl die Gewährung einer Invaliditätspension im gesetzlichen Ausmaß. In den letzten 15 Jahren vor dem Stichtag habe er mehr als 120 Kalendermonate als Hausverwalter/Hausmeister gearbeitet, weshalb ein Tätigkeitsschutz gem § 255 Abs 4 ASVG bestehe.

Das Erstgericht wies die Klage ab. Es lägen keine 120 Versicherungsmonate einer Tätigkeit in den letzten 180 Monaten vor, weshalb § 255 Abs 4 ASVG nicht zum Tragen komme. Selbst wenn infolge der mehrfachen geringfügigen Beschäftigungen eine Beitragszeit für die PV erworben worden sei, habe der Kl die geringfügige Beschäftigung als Hausmeister nicht überwiegend ausgeübt.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass der Kl dem Grunde nach Anspruch auf Gewährung einer Invaliditätspension habe. Bei paralleler Ausübung mehrerer Tätigkeiten sei die Gesamttätigkeit maßgebend, sodass die geringfügigen Beschäftigungen als Hausbetreuer und Tischler einerseits und die Tätigkeit als Hausbetreuer, der auch Tischlerarbeiten verrichtete, andererseits als „eine Tätigkeit“ iSd § 255 Abs 4 ASVG anzusehen seien.

Dagegen richtet sich die ordentliche Revision der Bekl. Die Revision war zulässig, aber nicht berechtigt.

Originalzitate aus der Entscheidung

„[14] 1.1. Als invalid gilt gemäß § 255 Abs 4 Satz 1 ASVG der (die) Versicherte, der (die) das 60. Lebensjahr vollendet hat, wenn er (sie) infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner (ihrer) körperlichen oder geistigen Kräfte außer Stande ist, einer Tätigkeit, die er (sie) in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag mindestens 120 Kalendermonate hindurch ausgeübt hat, nachzugehen.

[15] […]

[16] 1.2. Die Rechtsprechung legt an das Kriterium der „einen Tätigkeit“ keine allzu strengen Maßstäbe an und versteht das Wort „eine“ nicht als Zahlwort. Vielmehr können mehrere […] sehr ähnliche Tätigkeiten zu „einer Tätigkeit“ zusammengefasst werden […].

[17] 1.3. Auch dann, wenn mehrere Tätigkeiten parallel ausgeübt werden, ist für die Charakterisierung der „einen Tätigkeit“ iSd § 255 Abs 4 ASVG die Gesamttätigkeit maßgeblich […].

[18] 2.1. Für die Erfüllung des im § 255 Abs 4 ASVG vorgesehenen Tätigkeitszeitraums von mindestens 120 Kalendermonaten in den letzten 180 Kalendermonaten vor dem Stichtag sind auch gleichartige, nach dem GSVG versicherte selbständige Tätigkeiten zu berücksichtigen […], wenn auch Zeiten einer unselbständigen Beschäftigung nach dem ASVG vorliegen […].

[19] […].

[20] 2.3. Der Gesetzgeber setzt aber auch im Anwendungsbereich des § 255 Abs 4 ASVG […] das Vorliegen einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit als selbstverständlich voraus […].

[21] 2.4. Im hier vorliegenden Fall war der Kläger […] aufgrund mehrfacher geringfügiger Beschäftigungen nach dem ASVG (§ 5 Abs 1 Z 2) im betreffenden Zeitraum auch in der Pensionsversicherung pflichtversichert. Die nötige Einbindung in das System der Pensionsversicherung liegt somit […] für diese Beitragszeiten vor, weshalb diese Zeiten nach § 255 Abs 4 ASVG zu berücksichtigen sind.

[22] 3.1. Die Rechtsprechung, wonach unter dem Begriff der „einen“ Tätigkeit nicht nur eine einzige (einheitliche) Tätigkeit zu verstehen ist, sondern auch bei mehreren ausgeübten Tätigkeiten […] sehr ähnliche Tätigkeiten zu einer Tätigkeit zusammengefasst werden können […], ist für den hier vorliegenden Fall, wo beide Tätigkeiten, nämlich sowohl die Tätigkeit als Tischler als auch jene als Hausbesorger, über den nötigen Zeitraum hinweg parallel ausgeübt wurden, nicht einschlägig. Es kommt somit auch entgegen der Ansicht der Revision nicht darauf an, ob die beiden Tätigkeiten miteinander vergleichbar sind oder die wesentlichen Tätigkeitselemente der verrichteten Tätigkeiten übereinstimmen […], wurden doch diese nicht nacheinander oder abwechselnd, sondern stets beide gleichzeitig ausgeübt und sind somit die Tätigkeit als Tischler und die Tätigkeit als Hausbesorger sowie in der Folge die Tätigkeit als Hausbesorger, der auch teilweise Tischlerarbeiten verrichtete, als eine Gesamttätigkeit iSd § 255 Abs 4 ASVG […] anzusehen.

[23] […]

[24] 3.3. Dem Kläger ist nach den Feststellungen die Tätigkeit als Hausbesorger nicht mehr zumutbar und ist er unter der Annahme eines Tätigkeitsschutzes auch nicht mehr verweisbar. Dass der Kläger noch auf Tätigkeiten als Tischler verweisbar wäre, behauptet die Revision nicht; zudem wäre Voraussetzung für die Verweisbarkeit auf eine […] Teiltätigkeit der bisherigen Tätigkeit, dass dieser Teiltätigkeit weder nach der Gewichtung im Arbeitsverlauf noch nach ihrem zeitlichen Umfang nur eine untergeordnete Bedeutung in der bisher ausgeübten „einen“ Tätigkeit zugekommen ist […]. Da die Tischlerarbeit seit 2011 nur etwa 10 % der gesamten Tätigkeit betrug, käme somit eine Verweisung in diesem Bereich ohnehin nicht in Frage.“

Erläuterung

Für Versicherte, die das 60. Lebensjahr vollendet haben, besteht bei Prüfung eines Anspruchs auf Invaliditätspension der sogenannte Tätigkeitsschutz. Dabei handelt es sich nicht um einen Arbeitsplatzschutz, sondern um eine – besondere – Form des 52Berufsschutzes (OGH 10.12.2002, 10 ObS 367/02x ua), dies eben iS eines „Tätigkeitsschutzes“. § 255 Abs 4 ASVG stellt nicht auf die Anforderungen an einem bestimmten Arbeitsplatz ab, sondern auf die „Tätigkeit“ mit dem am allgemeinen Arbeitsmarkt typischerweise gefragten Inhalt (RS0087658 [T2]; RS0087659 [T9]). § 255 Abs 4 ASVG differenziert nicht nach der Höhe des vom Versicherten für seine Tätigkeit erzielten Entgelts oder nach dem Ausmaß der Tages- oder Wochenarbeitszeit für diese Beschäftigung, somit ob diese in Vollzeit oder in Teilzeit ausgeübt wurde. Der Gesetzgeber setzt aber auch im Anwendungsbereich des § 255 Abs 4 ASVG – wie in jenem des § 255 Abs 3 ASVG – das Vorliegen einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit als selbstverständlich voraus.

Die bisherigen Entscheidungen des OGH zum Begriff „eine Tätigkeit“ und in Verbindung damit zur Kerntätigkeit von Tätigkeiten betrafen die Ausübung verschiedener Tätigkeiten in zeitlicher Abfolge. In diesem Sinne wären die Tätigkeiten des Kl als Tischler und Hausbesorger nicht als „eine Tätigkeit“ zu beurteilen, weil die Kernbereiche der Tätigkeiten verschieden sind. Werden die Tätigkeiten aber parallel ausgeübt, stellen sie „eine Tätigkeit“ dar. Dies gilt nach diesem Judikat auch dann, wenn beide Tätigkeiten in separaten geringfügigen Dienstverhältnissen ausgeübt wurden. Dass mehrere geringfügige Beschäftigungen für den Tätigkeitsschutz berücksichtigt werden, wenn sie zur Pflichtversicherung nach ASVG führen, entspricht der bisherigen Judikatur. Auch dass Versicherte nicht auf eine der Teiltätigkeiten „einer Tätigkeit“ verwiesen werden können, wenn diese nur zu etwa 10 % ausgeübt wurde, ist ein Verweis auf die ständige Judikatur.