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Kein Regressanspruch der Sozialversicherungsträger gegen den Dienstgeber mangels grob fahrlässiger Herbeiführung des Arbeitsunfalls

ELISABETHBISCHOFREITER

Am 14.5.2020 ereignete sich auf dem Betriebsgelände der V* GmbH & Co KG ein Arbeitsunfall, bei dem der AN D* durch einen Sturz verletzt wurde. An diesem Tag führte D* ungesichert Bohr- und Schweißarbeiten an der Oberseite eines zylinderförmigen Tanks in einer Höhe von etwa 3,5 bis 4 m durch. Aufgrund eines außergewöhnlichen Störfalls, nämlich einer plötzlich entweichenden Luft aus dem von D* gebohrten Loch im Tank und des damit verbundenen Pfeifgeräuschs, erschrak D*, verlor das Gleichgewicht und stürzte auf den Asphaltboden. Der Bekl, sein Vorgesetzter, hatte wahrgenommen, dass sich der Verletzte bei den Arbeiten nicht gegen einen Absturz gesichert hatte.

Die Vorinstanzen wiesen die gegen den Bekl als im Unfallzeitpunkt Vorgesetzten des Verletzten gerichteten Leistungs- und Feststellungsbegehren des klagenden Sozialversicherungsträgers nach § 334 Abs 1 iVm § 333 Abs 4 ASVG ab. Der Bekl habe den Arbeitsunfall nicht grob fahrlässig herbeigeführt.

Der OGH wies die außerordentliche Revision der Kl mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung iSd § 502 Abs 1 ZPO zurück.

Nach § 334 Abs 1 ASVG hat der DG oder ein ihm gem § 333 Abs 4 ASVG Gleichgestellter den Trägern der SV alle nach diesem Bundesgesetz zu gewährenden Leistungen zu ersetzen, wenn er den Arbeitsunfall oder die Berufskrankheit vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit verursacht hat.

Der OGH zitiert zunächst die einschlägige Judikatur, wonach grobe Fahrlässigkeit, die dem Begriff der auffallenden Sorglosigkeit iSd § 1324 ABGB gleichzusetzen ist, immer dann anzunehmen ist, wenn eine außergewöhnliche und auffallende Vernachlässigung einer Sorgfaltspflicht (Pflicht zur Unfallverhütung) vorliegt und der Eintritt des Schadens als wahrscheinlich und nicht bloß als möglich voraussehbar war. Ein einmaliger Verstoß gegen Schutzvorschriften kann dann grobe Fahrlässigkeit bewirken, wenn ein Schadenseintritt nach den gegebenen Umständen des Einzelfalls als wahrscheinlich voraussehbar ist. Bei der Beurteilung des Fahrlässigkeitsgrades ist nicht der Zahl der übertretenen Vorschriften, sondern der Schwere des Sorgfaltsverstoßes und der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts besondere Bedeutung beizumessen. Bei der Einschätzung der Schwere des Sorgfaltsverstoßes kommt es insb auch auf die Gefährlichkeit der Situation an. Bei der Bestimmung des jeweils nach Auffassung des Verkehrs als erforderlich zu erachtenden Maßes der Sorgfalt ist also die konkrete Situation zu berücksichtigen, sodass erhöhte Gefahr auch erhöhte Aufmerksamkeit erfordert. § 334 Abs 3 ASVG schließt nicht aus, dass bei der Beurteilung der Frage, ob der auf Ersatz in Anspruch Genommene grob fahrlässig gehandelt habe, das Verhalten des Versicherten mitberücksichtigt wird.

Das Berufungsgericht hat im konkreten Fall eine grobe Fahrlässigkeit verneint, weil D* auf der Oberseite des Tanks, die nach außen hin um etwa 20 bis 30 cm abgefallen ist, nur für etwa 10 bis 15 Minuten eine grundsätzlich statische Arbeit im Knien zu verrichten gehabt habe, sodass, außer am unmittelbaren Weg zum Arbeitsplatz, ein Stolpern, Ausrutschen und dergleichen auszuschließen gewesen sei. Ausgehend davon, dass das zum Unfall führende Erschrecken durch die – als außergewöhnlichen Störfall zu wertende – Druckentlastung hervorgerufen worden sei, sei der Absturz vom Tank und damit der Eintritt des Schadens trotz unterlassener Sicherung wenig wahrscheinlich gewesen. 54

Der OGH erachtet die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass das Risiko eines Absturzes vom Tank gering gewesen sei, als nicht zu beanstanden. Die Oberfläche des Tanks war nicht rutschig und der Verletzte hatte mit seinen Sicherheitsschuhen mit trittsicheren festen Sohlen auch einen festen Stand. Richtig sei, dass bei Arbeiten in einer absturzgefährdeten Höhe auch mit einem ungewissen Ereignis (Erschrecken, Stolpern etc) gerechnet werden müsse. Abgesehen von der geringen Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts durch die unterlassene Absturzsicherung wiege der Sorgfaltsverstoß des Bekl nicht so schwer. Dies begründet der OGH damit, dass im Betrieb des Bekl und des Verletzten großer Wert auf die Einhaltung der laufend erfolgten Sicherheitsanweisungen und -unterweisungen gelegt worden sei und der Verletzte sich bis zum Arbeitsunfall auch immer wieder daran gehalten und sich verlässlich und selbständig um die erforderliche Sicherheitsausrüstung gekümmert habe. Der Vorwurf, der Bekl hätte sich über den dem Arbeitsunfall vorangehenden Versuch, die noch im Tank befindliche Masse durch das Einblasen von Druckluft aus dem Tank zu leiten, informieren müssen, übergeht die – nicht angefochtene – Feststellungen, dass die im Tank befindliche Masse kein brennbarer Arbeitsstoff und die Reaktion im Tankinneren ein außergewöhnlicher Störfall gewesen sei. Welche iSd der Rsp „einfachen und naheliegenden Überlegungen“ zur Vermeidung des Unfalls der Bekl bei Einholung der geforderten Informationen anstellen hätte sollen, legen die Revisionswerber nicht dar.