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Kinderbetreuungsgeld: Auswirkungen einer Meldung nach dem ungarischen Melderecht

KRISZTINAJUHASZ
§ 2 Abs 1 Z 2 iVm Abs 6 KBGG;
VO (EG) 883/2004

Aus den zum ungarischen Registergesetz getroffenen Feststellungen geht hervor, dass der Aufenthaltsort eines Bürgers die Adresse jener Wohnung ist, in der er sich – ohne die Absicht, seinen Wohnsitz endgültig zu verlassen – für einen über drei Monate hinausgehenden Zeitraum aufhält (§ 5 Abs 3 Nytv [Ungarisches Meldegesetz]). Von einem Aufenthaltsort kann dann gesprochen werden, wenn sich der Bürger neben seinem Wohnsitz auch an einer anderen Adresse dauerhaft (also über drei Monate hinaus), jedoch lediglich provisorisch aufhält.

SACHVERHALT

Anfang 2014 lernte die Kl ihren späteren Ehegatten kennen. 2015 zog sie zu ihm in dessen Eigentumswohnung an der Adresse *, Vö*, und meldete dort ihren Aufenthaltsort („tartózkodási hely“). Die Meldung des Wohnsitzes („lakóhely“) an der Adresse *, Vá*, behielt die Kl bei. Seit der Geburt der Kinder wohnen die Kl, ihr Ehemann und die gemeinsamen Kinder an der Adresse *, Vö*, die Wohnung an dieser Adresse dient der gesamten Familie als lebensführungsmäßiges Zuhause. Seit die Kl aus ihrer Eigentumswohnung an der Adresse *, Vá*, ausgezogen ist, bewohnt diese Wohnung eine Freundin der Kl. Im klagsgegenständlichen Zeitraum hatte die Kl nicht die Absicht, wieder an dieser Adresse zu wohnen. Die Kl behielt ihre Eigentumswohnung und die Meldung als Wohnsitz für den Fall, dass ihre Ehe scheitern sollte und sie dann eine Unterkunft benötigen würde.

Mit Bescheid lehnte die bekl Österreichische Gesundheitskasse den Antrag auf Zuerkennung des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes für die Zwillinge der Kl für den Zeitraum von 28.10.2015 bis 27.6.2017 ab.56

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

In der Klage brachte die Kl zusammengefasst vor, der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen habe sich an ihrer Aufenthaltsadresse befunden. Im ungarischen Meldesystem gebe es den angemeldeten Wohnsitz („lakóhely“) und den Aufenthaltsort („tartózkodási hely“). Wohne ein Bürger nicht an seinem angemeldeten Wohnsitz, müsse er sich am tatsächlichen dauernden Aufenthaltsort anmelden, wo er für fünf Jahre – immer wieder verlängerbar – angemeldet bleiben könne. Die Bekl wendete ein, von den nach ungarischem Recht zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Anmeldung entspreche die Anmeldung am Wohnsitz am ehesten der Definition des Hauptwohnsitzes gem § 1 Abs 7 MeldeG.

Im ersten und im zweiten Rechtsgang hob der OGH (8.8.2019, 10 ObS 41/19f; 28.7.2022, 10 ObS 11/22y) die Entscheidungen der Vorinstanzen jeweils auf und verwies die Sozialrechtssache an das Erstgericht zurück, weil es an Feststellungen zu den ungarischen Meldevorschriften fehlte. Im dritten Rechtsgang gab das Erstgericht dem Klagebegehren statt. Es folgerte in rechtlicher Hinsicht, dass es der Kl freigestanden sei, zwischen einer Meldung des Wohnsitzes und einer des Aufenthaltsorts zu wählen, sodass die Meldung als Aufenthaltsort dem Erfordernis einer hauptwohnsitzlichen Meldung gem § 2 Abs 6 KBGG entspreche. Das Berufungsgericht gab der Berufung der Bekl nicht Folge.

Dagegen richtet sich die Revision der Bekl. Die Revision war zulässig und auch berechtigt, weil dem Berufungsgericht bei der Anwendung des fremden Rechts ein grober Subsumtionsfehler unterlief.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„2. Der Oberste Gerichtshof ist zwar nicht dazu berufen, für die Einheitlichkeit oder Rechtsfortbildung fremden Rechts Sorge zu tragen (RS0042940 [T8]; RS0042948 [T20]). Die Zulässigkeit der Revision ist aber aus Gründen der Rechtssicherheit dann zulässig, wenn bei der Anwendung fremden Rechts grobe Subsumtionsfehler unterliefen, die aus Gründen der Rechtssicherheit richtiggestellt werden müssen (RS0042940 [T9]; RS0042948 [T21]). Ein solcher Subsumtionsfehler liegt hier vor.

2.1. Aus den zum ungarischen Registergesetz getroffenen Feststellungen geht hervor, dass der Aufenthaltsort eines Bürgers die Adresse jener Wohnung ist, in der er sich – ohne die Absicht, seinen Wohnsitz endgültig zu verlassen – für einen über drei Monate hinausgehenden Zeitraum aufhält (§ 5 Abs 3 Nytv). Von einem Aufenthaltsort kann […] dann gesprochen werden, wenn sich der Bürger neben seinem Wohnsitz auch an einer anderen Adresse dauerhaft (also über drei Monate hinaus), jedoch lediglich provisorisch aufhält. Gemäß den festgestellten erläuternden Bestimmungen des Nytv kann nur dann von einem Aufenthaltsort die Rede sein, wenn der Bürger über einen gemeldeten und gültigen Wohnsitz verfügt, an den er zu einem späteren Zeitpunkt zurückkehren will; eben darauf bezieht sich auch die Wendung „ohne die Absicht, den Wohnsitz endgültig zu verlassen“.

2.2. Entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanzen sind die Voraussetzungen der Meldung des Aufenthaltsorts angesichts der im dritten Rechtsgang getroffenen Feststellungen nicht erfüllt. Für die Frage, ob der Aufenthalt im Sinn des § 5 Abs 3 Nytv ohne die Absicht, den Wohnsitz endgültig zu verlassen, genommen wurde, ist nämlich nicht allein der Wortlaut der genannten Bestimmung entscheidend; bei der Auslegung sind vielmehr auch die Erhebungsergebnisse des Erstgerichts zum Verständnis der Bestimmung in seinem Anwendungsbereich zu berücksichtigen.

2.2.1. Dabei ist zunächst zu bemerken, dass die Klägerin die Wohnimmobilie, an der sie die Meldung des Wohnsitzes im relevanten Zeitraum beibehielt, nicht (mehr) als lebensführungsmäßiges Zuhause nutzte. Diesem Zweck diente ab dem Umzug in die dem Ehegatten gehörige Wohnung vielmehr (nur) diese Wohnung, an der sie lediglich den Aufenthaltsort gemeldet hatte. Der Aufenthalt an diesem Ort war in diesem Sinn aber nicht lediglich provisorisch, weil die Klägerin nach den nunmehr getroffenen Feststellungen in der Wohnung, an der sie die Meldung ihres Wohnsitzes beibehielt, nicht wieder wohnen wollte. Damit handelte es sich bei der Wohnsitzadresse nicht mehr um einen – nach den Erhebungen für die Subsumtion aber maßgeblichen – Wohnsitz, an den die Klägerin zu einem späteren Zeitpunkt zurückkehren wollte. Die Voraussetzung einer Meldung des Aufenthaltsorts nach § 5 Abs 3 Nytv, dass keine Absicht besteht, den Wohnsitz endgültig zu verlassen, war somit im relevanten Zeitraum nicht erfüllt.

2.2.2. Entgegen der Rechtsansicht der Vorinstanzen ändert der festgestellte Umstand, dass die Klägerin die Meldung als Wohnsitz an der Wohnsitzadresse nur für den Fall behielt, dass ihre Ehe scheitern sollte und sie dann eine Unterkunft benötigen würde, nichts daran, dass sie im maßgeblichen Zeitraum nicht (auch nicht zu einem späteren Zeitpunkt) wieder dort wohnen wollte. Ob sie bei Eintritt bestimmter Umstände einen Willen bilden würde oder wird, in dieser Adresse wieder zu wohnen, ist hingegen irrelevant. Von einem bloß provisorischen Aufenthalt der Klägerin in der Wohnung, in der sie den Aufenthaltsort gemeldet hat, kann daher keine Rede sein.

2.2.3. Dem steht nach dem vom Erstgericht ermittelten ungarischen Recht nicht entgegen, dass es die Entscheidung der Klägerin war, welche Liegenschaft sie als Wohnsitz oder Aufenthaltsort betrachtet. Diese Entscheidung hat sie nach den getroffenen Feststellungen vielmehr getroffen und sie trug daher die Verantwortung, die Anmeldung entsprechend dieser Entscheidung unter Bedachtnahme auf die geschilderten Vorgaben zu tätigen.

2.3. Aufgrund ihrer konkreten Lebensbeziehungen zu den beiden Wohnungen schied eine Meldung mit einem Aufenthaltsort im Sinn des § 5 Abs 3 Nytv („tartózkodási hely“) an der Adresse *, Vö*, nach ungarischem 57 Recht somit aus, sodass ihr auch eine Wahl zwischen der Meldung des Wohnsitzes und des Aufenthaltsorts nicht zukam. Die durchgeführte und im relevanten Zeitraum nicht den gesetzlichen Bestimmungen entsprechende Meldung kann folglich nicht als hauptwohnsitzliche Meldung im Sinn des § 2 Abs 6 KBGG qualifiziert werden. Mangels Erfüllung dieser Anspruchsvoraussetzung besteht kein Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld.“

ERLÄUTERUNG

Gegenstand des Revisionsverfahrens war der Anspruch der Kl auf das pauschale Kinderbetreuungsgeld und die strittige Frage, ob die für die Kl im fraglichen Zeitraum bestehende Anmeldung an der Adresse in Vö* als Aufenthaltsort („tartózkodási hely“) als hauptwohnsitzliche Meldung iSd § 2 Abs 6 KBGG zu qualifizieren ist. Nach dieser Bestimmung liegt ein gemeinsamer Haushalt iSd KBGG nur dann vor, wenn der Elternteil und das Kind in einer dauerhaften (mindestens 91 Tage durchgehend) Wohn- und Wirtschaftsgemeinschaft an derselben Wohnadresse leben und beide an dieser Adresse auch hauptwohnsitzlich gemeldet sind.

Soweit eine unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts nicht möglich ist, hat das nationale Gericht die der vollen Wirksamkeit des Unionsrechts entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechtes unangewendet zu lassen. Im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 hat daher bei Fehlen eines dem österreichischen Melderecht vergleichbaren Systems im Wohnsitzmitgliedstaat die Anspruchsvoraussetzung der gemeinsamen hauptwohnsitzlichen Meldung unangewendet zu bleiben. Existiert dagegen im jeweils zu betrachtenden Mitgliedstaat ein derartiges System, ist die Vornahme einer hauptwohnsitzlichen Meldung entsprechend der Ausgestaltung des jeweiligen Systems Voraussetzung für den Bezug des Kinderbetreuungsgeldes. Die Frage, welche Art der Anmeldung nach dem Rechtssystem eines anderen Mitgliedstaats der hauptwohnsitzlichen Meldung iSd § 2 Abs 6 KBGG entspricht, ist rechtlich zu beurteilen und einer Feststellung nicht zugänglich.

Im hier vorliegenden Fall hat der OGH im dritten Rechtsgang die klagsstattgebenden Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben, einen groben Subsumtionsfehler des fremden Rechts festgestellt und das ungarische Meldegesetz (Nytv) abschließend interpretiert.

Der OGH führt in seiner E aus, dass eine Anmeldung mit einem Aufenthaltsort dann erforderlich ist, wenn keine Absicht besteht, den bereits bestehenden Wohnsitz endgültig zu verlassen.

Für die Vorinstanzen war zwar die Absicht der Kl, ihren Wohnsitz in Vá* endgültig zu verlassen nicht ersichtlich (da die Kl Eigentümerin dieser Wohnung blieb und zudem geplant hatte, im Fall, dass ihre Ehe scheitern sollte, diese als Unterkunft zu nutzen), handelt es sich dennoch – nach der Interpretation des OGH – bei der Wohnsitzadresse in Vá* nicht mehr um einen Wohnsitz, an den die Kl zurückkehren wollte. Dass die Kl bei Eintritt bestimmter Umstände (zB Auflösung der Ehe) einen Rückkehrwillen bilden wird oder würde, ist nach Ausführungen des OGH irrelevant. Weiters kam der OGH zur Erkenntnis, dass aufgrund der konkreten Lebensbeziehungen zu beiden Wohnungen eine Meldung mit einem Aufenthaltsort an der Adresse Vö* ohnehin ausscheidet. Insofern bestand für die Kl auch keine Wahlmöglichkeit zwischen der Meldung als Wohnsitz oder als Aufenthaltsort. Die durchgeführte Meldung der Kl als Aufenthaltsort in Vö* wurde daher vom OGH nicht als hauptwohnsitzliche Meldung iSd § 2 Abs 6 KBGG qualifiziert.

Der OGH bestätigte diese Rechtsansicht in einer weiteren E zu einem vergleichbaren Sachverhalt (vgl OGH 8.10.2024, 10 ObS 89/24x). Die Meldung als Aufenthaltsort bedeutet demnach einen bloß provisorischen Aufenthalt. Die Absicht, eventuell unter bestimmten Bedingungen wieder zum Wohnsitz zurückzukehren, genügt hingegen nicht, von einem provisorischen Aufenthalt zu sprechen. Die spätere Fassung einer zunächst nicht konkret vorliegenden Rückkehrabsicht zu einer Wohnung ändert daran nichts.

Hätte sich also die Kl in Vö* mit einem Wohnsitz („lakóhely“) gemeldet, wären die Anspruchsvoraussetzungen gem § 2 Abs 6 KBGG erfüllt. Allerdings wäre eine weitere Meldung in der Eigentumswohnung der Kl in Vá* nach dem ungarischen Meldegesetz bloß mit einem Aufenthaltsort („tartózkodási hely“) möglich gewesen. Diese Meldung hätte aber der Lebenssituation der Kl nicht entsprochen, da sie im klagsgegenständlichen Zeitraum an der Adresse in Vá* nicht aufhältig war.