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Keine mittelbare Drittwirkung für „Grundsätze“ der GRC

MICHAELHOLOUBEK (WIEN)
Art 27, 52 Abs 5 GRC; RL 2002/14 zur Festlegung Eines allgemeinen Rahmens für die Unterrichtung und Anhörung der AN in der Union
EuGH 15.1.2014 C-176/12Association de médiation sociale
  1. Art 27 Grundrechtecharta (GRC) – Recht auf Unterrichtung und Anhörung der AN in Unternehmen – muss, damit er seine volle Wirksamkeit entfaltet, durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden.

  2. Art 27 GRC kann daher in einem Rechtsstreit zwischen Privaten nicht geltend gemacht werden, und zwar auch nicht dahingehend, dass dieser Artikel für sich genommen oder iVm den Bestimmungen der RL 2002/14 dahin auszulegen ist, dass er, wenn eine nationale Bestimmung zur Umsetzung dieser RL mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, geltend gemacht werden kann, um diese nationale Bestimmung unangewendet zu lassen.

[...] Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

13 Die Association de médiation sociale ist eine Vereinigung gemäß dem Gesetz vom 1.7.1901 über den Gründungsvertrag von Vereinigungen. Sie beteiligt sich an der Durchführung von Maßnahmen der sozialen Mediation und der Kriminalitätsprävention in der Stadt Marseille (Frankreich). Eine weitere Aufgabe ist die berufliche Wiedereingliederung von Arbeitslosen oder Personen, die aus sozialen oder beruflichen Gründen Schwierigkeiten haben, einen Arbeitsplatz zu finden. Ihnen bietet die Association de médiation sociale an, über eine individuelle Berufsbildungsmaßnahme eine Berufsausbildung im Bereich der sozialen Mediation zu erwerben.

14 Am 4.6.2010 ernannte die Union départementale CGT des Bouches-du-Rhône Herrn Laboubi zum Vertreter der innerhalb der Association de médiation sociale geschaffenen Gewerkschaftssektion.

15 Die Association de médiation sociale widersprach dieser Ernennung. Sie ist der Ansicht, dass sie weniger als elf und erst recht weniger als 50 Beschäftigte habe und daher nach der einschlägigen nationalen Regelung nicht verpflichtet sei, Maßnahmen im Hinblick auf die AN-Vertretung, wie die Wahl eines Personalvertreters, zu ergreifen.

16 Um zu ermitteln, ob die Vereinigung diese Schwellenwerte von elf oder 50 Beschäftigten erreiche, blieben bei der Berechnung ihrer Beschäftigtenzahl nach Art L 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs nämlich Lehrlinge, im Rahmen eines Beschäftigungsinitiativvertrags oder eines beschäftigungsbegleitenden Vertrags sowie im Rahmen eines Berufsbildungsvertrags beschäftigte AN (im Folgenden: AN, die im Rahmen eines bezuschussten Vertrags beschäftigt sind) unberücksichtigt.

17 Das Tribunal d‘instance de Marseille, bei dem eine Klage der Association de médiation sociale auf Nichtigerklärung der Ernennung von Herrn Laboubi zum Vertreter der CGT-Gewerkschaftssektion und eine Widerklage dieser Gewerkschaft, der Association de médiation sociale aufzugeben, Wahlen zur Einsetzung von Personalvertretungsorganen durchzuführen, anhängig war, übermittelte der Cour de cassation eine vorrangige Frage nach der Verfassungsmäßigkeit von Art L 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs.

18 Die Cour de cassation legte diese Frage dem Conseil constitutionnel vor. Dieser stellte am 29.4.2011 fest, dass Art L 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs verfassungsgemäß sei.21

19 Vor dem Tribunal d‘instance de Marseille machten Herr Laboubi und die Union locale des syndicats CGT des Quartiers Nord – denen sich die Union départementale CGT des Bouches-du-Rhône und die CGT freiwillig anschlossen – geltend, dass Art L 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs gleichwohl weder mit dem Unionsrecht noch mit den internationalen Verpflichtungen der Französischen Republik vereinbar sei.

20 Mit einer neuen E vom 7.7.2011 folgte das Tribunal d‘instance de Marseille dieser Argumentation und schloss eine Anwendung der Bestimmungen des Art L 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs aus, da diese nicht mit dem Unionsrecht vereinbar seien. Dementsprechend erklärte es die Ernennung von Herrn Laboubi zum Vertreter der Gewerkschaftssektion mit der Feststellung für gültig, dass die Beschäftigtenzahl der fraglichen Vereinigung ohne eine Anwendung der Ausschlussbestimmungen in Art L 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs den Schwellenwert von 50 Beschäftigten weit überschreite.

21 Gegen dieses Urteil legte die Association de médiation sociale Rechtsmittel bei der Cour de cassation ein.

22 Unter diesen Umständen hat die Cour de cassation das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt: [...]

Zu den Vorlagefragen

23 Das vorlegende Gericht möchte mit seinen Fragen, die zusammen zu behandeln sind, im Wesentlichen wissen, ob Art 27 der Charta für sich genommen oder iVm den Bestimmungen der RL 2002/14 dahin auszulegen ist, dass er, wenn eine nationale Bestimmung zur Umsetzung dieser RL, wie Art L 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs, mit dem Unionsrecht unvereinbar ist, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten geltend gemacht werden kann, um diese nationale Bestimmung unangewendet zu lassen.

24 Hierzu ist erstens festzustellen, dass der Gerichtshof bereits entschieden hat, dass, da die RL 2002/14 in Art 2 Buchst d den Personenkreis definiert hat, der bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl des Unternehmens zu berücksichtigen ist, die Mitgliedstaaten nicht eine bestimmte Gruppe von Personen, die ursprünglich zu diesem Kreis gehörte, bei dieser Berechnung unberücksichtigt lassen dürfen (vgl Urteil vom 18.1.2007, Confédération générale du travail ua, C-385/05, Slg 2007, I-611, Rn 34).

25 Eine nationale Regelung, wie die im Ausgangsverfahren streitige, die bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl eines Unternehmens eine bestimmte Gruppe von AN unberücksichtigt lässt, hat nämlich zur Folge, dass bestimmte AG von den in der RL 2002/14 vorgesehenen Verpflichtungen ausgenommen und ihren AN die von dieser RL zuerkannten Rechte vorenthalten werden. Sie ist daher geeignet, diese Rechte auszuhöhlen, und nimmt so dieser RL ihre praktische Wirksamkeit (vgl Urteil Confédération générale du travail ua, Rn 38).

26 Zwar entspricht es stRsp, dass die von der französischen Regierung im Ausgangsverfahren vorgebrachte Förderung der Beschäftigung ein legitimes Ziel der Sozialpolitik darstellt und dass die Mitgliedstaaten bei der Wahl der zur Verwirklichung ihrer sozialpolitischen Ziele geeigneten Maßnahmen über einen weiten Ermessensspielraum verfügen (vgl Urteil Confédération générale du travail ua, Rn 28 und die dort angeführte Rsp).

27 Jedoch darf dieser Ermessensspielraum, über den die Mitgliedstaaten im Bereich der Sozialpolitik verfügen, nicht dazu führen, dass ein tragender Grundsatz des Unionsrechts oder eine Vorschrift des Unionsrechts ausgehöhlt wird (vgl Urteil Confédération générale du travail ua, Rn 29).

28 Eine Auslegung der RL 2002/14, wonach deren Art 3 Abs 1 es den Mitgliedstaaten erlaubt, bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl des Unternehmens aus Gründen, wie den von der französischen Regierung im Ausgangsverfahren vorgebrachten, eine bestimmte Gruppe von AN nicht zu berücksichtigen, wäre mit Art 11 dieser RL, der vorsieht, dass die Mitgliedstaaten alle notwendigen Maßnahmen zu treffen haben, um gewährleisten zu können, dass die in der RL 2002/14 vorgeschriebenen Ergebnisse erreicht werden, insofern unvereinbar, als damit impliziert würde, dass es den Mitgliedstaaten erlaubt wäre, sich dieser klar und eindeutig durch das Unionsrecht festgelegten Ergebnispflicht zu entziehen (vgl Urteil Confédération générale du travail ua, Rn 40 und die dort angeführte Rsp).

29 Nach alledem ist daher festzustellen, dass Art 3 Abs 1 der RL 2002/14 dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Bestimmung wie Art L 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs entgegensteht, die bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl des Unternehmens zur Ermittlung der gesetzlichen Schwellenwerte für die Einsetzung von Personalvertretungsorganen AN unberücksichtigt lässt, die im Rahmen eines bezuschussten Vertrags beschäftigt sind.

30 Zweitens ist zu prüfen, ob die RL 2002/14, insb Art 3 Abs 1, die Voraussetzungen erfüllt, um unmittelbare Wirkung zu entfalten, und ob sich die Bekl des Ausgangsverfahrens, falls dies der Fall sein sollte, gegenüber der Association de médiation sociale darauf berufen können.

31 Insoweit ist daran zu erinnern, dass sich der Einzelne nach der stRsp des Gerichtshofs in all den Fällen, in denen die Bestimmungen einer RL inhaltlich unbedingt und hinreichend genau sind, vor nationalen Gerichten gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen berufen kann, wenn dieser die RL nicht fristgemäß oder nur unzulänglich in das nationale Recht umgesetzt hat (vgl Urteil vom 5.10.2004, Pfeiffer ua, C-397/01 bis C-403/01, Slg 2004, I-8835, Rn 103 und die dort angeführte Rsp).

32 Im vorliegenden Fall sieht Art 3 Abs 1 der RL 2002/14 vor, dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, zu bestimmen, nach welcher Methode die Schwellenwerte für die Beschäftigtenzahl errechnet werden.

33 Art 3 Abs 1 der RL 2002/14 lässt den Mitgliedstaaten zwar einen bestimmten Gestaltungsspielraum beim Erlass der für die Umsetzung der RL erforderlichen Maßnahmen, doch beeinträchtigt dies nicht die Genauigkeit und Unbedingtheit der in diesem Artikel vorgesehenen Verpflichtung, alle AN zu berücksichtigen.

34 Der Gerichtshof hat nämlich, wie in Rn 24 des vorliegenden Urteils ausgeführt, bereits festgestellt, dass die Mitgliedstaaten, da die RL 2002/14 den Personenkreis definiert hat, der bei dieser Berechnung zu berücksichtigen ist, nicht eine bestimmte Gruppe von Personen, die ursprünglich zu diesem Kreis gehörte, bei dieser Berechnung unberücksichtigt lassen dürfen. Diese RL schreibt den Mitgliedstaaten zwar nicht vor,22 auf welche Weise sie die in ihren Anwendungsbereich fallenden AN bei der Berechnung der Schwellenwerte für die Beschäftigtenzahl berücksichtigen müssen, wohl aber, dass sie sie berücksichtigen müssen (vgl Urteil Confédération générale du travail ua, Rn 34).

35 Aus dieser Rsp zu Art 3 Abs 1 der RL 2002/14 (vgl Urteil Confédération générale du travail ua, Rn 40) folgt, dass diese Bestimmung die Voraussetzungen erfüllt, um unmittelbare Wirkung zu entfalten.

36 Jedoch kann nach stRsp sogar eine klare, genaue und unbedingte Richtlinienbestimmung, mit der dem Einzelnen Rechte gewährt oder Verpflichtungen auferlegt werden sollen, im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, nicht als solche Anwendung finden (vgl Urteile Pfeiffer ua, Rn 109, und vom 19.1.2010, Kücükdeveci, C-555/07, Slg 2010, I-365, Rn 46).

37 Hierzu ist in Rn 13 des vorliegenden Urteils festgestellt worden, dass die Association de médiation sociale eine Vereinigung privaten Rechts ist, auch wenn sie eine soziale Zielsetzung hat. Daraus ergibt sich, dass sich die Bekl des Ausgangsverfahrens aufgrund der Rechtsnatur der Association de médiation sociale dieser Vereinigung gegenüber nicht auf die Bestimmungen der RL 2002/14 als solche berufen können (vgl in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 24.1.2012, Dominguez, C-282/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn 42).

38 Gleichwohl hat der Gerichtshof entschieden, dass ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit zwischen Privatpersonen anhängig ist, bei der Anwendung der Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, die zur Umsetzung der in einer RL vorgesehenen Verpflichtungen erlassen worden sind, das gesamte nationale Recht berücksichtigen und es so weit wie möglich anhand des Wortlauts und des Zweckes der RL auslegen muss, um zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem von der RL verfolgten Ziel vereinbar ist (vgl Urteile vom 4.7.2006, Adeneler ua, C-212/04, Slg 2006, I-6057, Rn 111, sowie Pfeiffer ua, Rn 119, und Dominguez, Rn 27).

39 Der Gerichtshof hat jedoch festgestellt, dass der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts bestimmten Schranken unterliegt. So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer RL heranzuziehen, in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen ihre Schranken und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (vgl Urteile vom 15.4.2008, Impact, C-268/06, Slg 2008, I-2483, Rn 100, und Dominguez, Rn 25).

40 Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass die Cour de Cassation meint, im Ausgangsverfahren einer solchen Schranke gegenüberzustehen, so dass Art L 1111-3 des Code du travail einer mit der RL 2002/14 vereinbaren Auslegung nicht zugänglich sei.

41 Unter diesen Umständen ist drittens zu prüfen, ob der Sachverhalt des Ausgangsverfahrens mit dem der Rs Kücükdeveci zugrunde liegenden vergleichbar ist, so dass Art 27 der Charta für sich genommen oder iVm den Bestimmungen der RL 2002/14 in einem Rechtsstreit zwischen Privaten geltend gemacht werden kann, um gegebenenfalls die Anwendung der nicht richtlinienkonformen nationalen Bestimmung auszuschließen.

42 Im Hinblick auf Art 27 der Charta als solchem ist darauf hinzuweisen, dass nach stRsp die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung finden (vgl Urteil vom 26.2.2013, Åkerberg Fransson, C-617/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Rn 19).

43 Da die im Ausgangsverfahren fragliche nationale Regelung die Umsetzung der RL 2002/14 darstellt, findet Art 27 der Charta auf die vorliegende Rechtssache Anwendung.

44 Weiter ist festzustellen, dass Art 27 („Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Unternehmen“) der Charta bestimmt, dass für die AN auf verschiedenen Ebenen eine Unterrichtung und Anhörung in den Fällen und unter den Voraussetzungen gewährleistet sein muss, die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen sind.

45 Aus dem Wortlaut von Art 27 der Charta geht somit klar hervor, dass er, damit er seine volle Wirksamkeit entfaltet, durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss.

46 Das in Art 3 Abs 1 der RL 2002/14 enthaltene und an die Mitgliedstaaten gerichtete Verbot, bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl des Unternehmens eine bestimmte Gruppe von AN, die ursprünglich zu dem Kreis der bei dieser Berechnung zu berücksichtigenden Personen gehörte, auszuschließen, lässt sich nämlich als unmittelbar anwendbare Rechtsnorm weder aus dem Wortlaut des Art 27 der Charta noch aus den Erläuterungen zu diesem Artikel herleiten.

47 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich die Umstände des Ausgangsverfahrens von denen unterscheiden, die zum Urteil Kücükdeveci geführt haben, da das in Art 21 Abs 1 der Charta niedergelegte Verbot der Diskriminierung wegen des Alters, um das es in jener Rechtssache ging, schon für sich allein dem Einzelnen ein subjektives Recht verleiht, das er als solches geltend machen kann.

48 Demnach kann Art 27 der Charta als solcher in einem Rechtsstreit wie dem des Ausgangsverfahrens nicht geltend gemacht werden, um zu der Schlussfolgerung zu gelangen, dass die mit der RL 2002/14 nicht konforme nationale Bestimmung unangewendet zu lassen ist.

49 Diese Feststellung kann nicht dadurch entkräftet werden, dass Art 27 der Charta im Zusammenhang mit den Bestimmungen der RL 2002/14 betrachtet wird. Da dieser Artikel nämlich für sich allein nicht ausreicht, um dem Einzelnen ein Recht zu verleihen, das dieser als solches geltend machen kann, kann bei einer solchen Zusammenschau nichts anderes gelten.

50 Die durch die Unvereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht geschädigte Partei kann sich jedoch auf die mit dem Urteil vom 19.11.1991, Francovich ua (C-6/90 und C-9/90, Slg 1991, I-5357), begründete Rsp berufen, um gegebenenfalls Ersatz des entstandenen Schadens zu erlangen (vgl Urteil Dominguez, Rn 43)

51 Aus alledem ergibt sich, dass Art 27 der Charta für sich genommen oder iVm den Bestimmungen der RL 2002/14 dahin auszulegen ist, dass er, wenn eine nationale Bestimmung zur Umsetzung dieser RL, wie Art L 1111-3 des Arbeitsgesetzbuchs, mit dem Unionsrecht23 unvereinbar ist, in einem Rechtsstreit zwischen Privaten nicht geltend gemacht werden kann, um diese nationale Bestimmung unangewendet zu lassen. [...]

ANMERKUNG

In allgemeiner Hinsicht sind zwei Aussagen des EuGH bemerkenswert: Art 27 GRC ist – ob es sich dabei um einen „Grundsatz“ handelt, lässt der EuGH offen –, um für den Einzelnen Wirksamkeit zu entfalten, darauf angewiesen, dass er durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert wird. Art 27 GRC kann daher auch nicht dazu führen, dass eine Richtlinienbestimmung im Verhältnis zwischen Privaten unmittelbare Anwendbarkeit entfaltet. Zu beiden Aspekten einige Bemerkungen:

1. Die GRC unterscheidet bekanntlich zwischen Rechten und Grundsätzen. So achtet die Union gem Art 51 Abs 1 GRC „die Rechte“ und hält sich an die „Grundsätze“ und fördert deren Anwendung. Art 52 Abs 5 GRC zufolge können „Grundsätze“ durch Akte der Gesetzgebung und der Ausführung der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union sowie durch Akte der Mitgliedstaaten zur Durchführung des Rechts der Union in Ausübung ihrer jeweiligen Zuständigkeiten umgesetzt werden. Sie können vor Gericht nur bei der Auslegung dieser Akte und bei Entscheidungen über deren Rechtmäßigkeit herangezogen werden. Der EuGH schließt aus dem Wortlaut des Art 27 GRC – demzufolge für die AN auf verschiedenen Ebenen eine Unterrichtung und Anhörung in den Fällen und unter den Voraussetzungen gewährleistet sein muss, „die nach dem Unionsrecht und den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten vorgesehen sind“ – ohne Weiteres darauf, dass dieser Artikel durch Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts konkretisiert werden muss, um seine volle Wirksamkeit zu entfalten (Rz 44 f des vorliegenden Urteils). Anders als Generalanwalt Cruz Villalon in seinen Schlussanträgen (Schlussanträge vom 18.7.2013, Rs C-176/12, Rz 43 ff) vermeidet der EuGH, Art 27 GRC ausdrücklich als „Grundsatz“ zu bezeichnen. Man wird aber davon ausgehen können, dass der EuGH diese Zuordnung des Art 27 GRC zu einem „Grundsatz“ iSd Art 52 Abs 5 GRC vor Augen hatte. Die Zurückhaltung des EuGH, hier nähere Ausführungen zu treffen, mag vor dem Hintergrund der ausführlichen Auseinandersetzung in den Schlussanträgen des Generalanwalts, der sich detailliert sowohl mit der Frage auseinandersetzt, was einen „Grundsatz“ iSd GRC kennzeichnet, wie auch Überlegungen darüber anstellt, ob allenfalls für bestimmte Gruppen von Bestimmungen der GRC wie insb denjenigen des Titels IV „Solidarität“ eine (widerlegliche) Vermutung dahingehend besteht, dass es sich dabei um „Grundsätze“ iSd Art 52 Abs 5 GRC handelt, darauf schließen lassen, dass diese Diskussion – immerhin handelt es sich bei dem vorliegenden Urteil um eine Entscheidung der großen Kammer – auch innerhalb des EuGH noch nicht abgeschlossen ist.

Nur ergänzend sei an dieser Stelle noch darauf hingewiesen, dass der EuGH die Anwendbarkeit des Art 27 GRC auf den vorliegenden Sachverhalt kurz und bündig mit Verweis auf seine sogenannte „Akerberg-Rechtsprechung“ begründet, derzufolge die in der Unionsrechtsordnung garantierten Grundrechte in allen unionsrechtlich geregelten Fallgestaltungen Anwendung finden (EuGH 26.2.2013, C-617/10, Akerberg Fransson). Das könnte ein weiteres Indiz dafür sein, dass der EuGH diese weite „Akerberg-Formel“ vor allem auf „Umsetzungskonstellationen“ bezieht, während er in Konstellationen, in denen es etwa um die Eröffnung des Anwendungsbereichs der GRC deswegen geht, weil mitgliedstaatliche Rechtsvorschriften Grundfreiheiten beschränken, mit differenzierteren Kriterien arbeitet (siehe bspw EuGH 6.3.2014, C-206/13, Siragusa, Rz 25 und näher dazu Holoubek/Lechner/Oswald, Art 51 GRC, in

Holoubek/Lienbacher
[Hrsg], GRC-Kommentar [2014] insb Rz 27 ff).

2. Die entscheidende Frage, die der EuGH im vorliegenden Urteil zu beantworten hatte, war diejenige, ob Art 27 GRC, wenn er durch eine RL konkretisiert wird, in Beziehungen zwischen Privaten mit der Konsequenz geltend gemacht werden kann, dass sich der eine Teil des Rechtsstreits auf eine Richtlinienbestimmung beruft, um eine entgegenstehende Bestimmung nationalen Rechts unangewendet zu lassen. Wie der EuGH näher ausführt, ist die Ausgangskonstellation so gestaltet, dass erstens die in Rede stehende französische Rechtsvorschrift der RL 2004/14 widerspricht (weil sie AN bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl eines Unternehmens nicht berücksichtigt, die sie nach der RL berücksichtigen müsste) und dass zweitens Art 3 Abs 1 der RL 2002/14 die Voraussetzungen erfüllt, um unmittelbare Wirkung zu entfalten (Rz 29 und 35 des vorliegenden Urteils). Der unmittelbaren Anwendung dieser Richtlinienbestimmung steht jedoch die stRsp des EuGH entgegen, derzufolge auch eine an sich klare, genaue und unbedingte Richtlinienbestimmung, mit der dem einzelnen Rechte gewährt werden sollen, im Rahmen eines Rechtsstreits, in dem sich ausschließlich Private gegenüberstehen, nicht als solche Anwendung findet (siehe die in Rz 36 des vorliegenden Urteils genannten Entscheidungen des EuGH). Das schließt, so der EuGH, auch im vorliegenden Fall eine unmittelbare Anwendung der genannten Richtlinienbestimmung und damit deren Vorrangwirkung gegenüber der entgegenstehenden Regelung des innerstaatlichen Rechts auf die Association de médiation sociale aus (Rz 37 des vorliegenden Urteils).

Bemerkenswert ist, dass der EuGH diese Schlussfolgerung zieht, indem er (nur) darauf abstellt, dass es sich bei der Association de médiation sociale um eine Vereinigung privaten Rechts handelt und nicht näher darauf eingeht, wer Träger dieser Vereinigung ist bzw darauf, dass diese im öffentlichen Interesse liegende Aufgaben sozialer Mediation und der Kriminalprävention erfüllt. Überlegungen, wie sie der EuGH im Zusammenhang mit Grundfreiheiten des Öfteren angestellt hat, nämlich dass private Vereinigungen dann an die Grundfreiheiten gebunden sind, wenn ihnen eine staatlichen Einrichtungen vergleichbare Machtstellung zukommt (siehe nur mwN Holoubek in

Schwarze
[Hrsg], EU-Kommentar3 [2012] Art 56, 57 AEUV Rz 65 ff), stellt der EuGH im vorliegenden Fall nicht an.

Nun hat der EuGH insb in der Rs Kücükdeveci (EuGH 19.1.2010, C-555/04, siehe dazu Eilmannsberger, Die Anwendung der EU-Grundrechte durch nationale Gerichte [und Behörden], ecolex 2010, 1024 [1025]) ausgesprochen, dass in concreto das in Art 21 Abs 1 GRC enthaltene Verbot der Diskriminierung wegen des Alters, das dem Einzelnen ein entsprechendes Recht24 verleiht, dazu führt, dass die allgemeine Gleichbehandlungs- RL iVm Art 21 Abs 1 GRC in einem Rechtsstreit zwischen Privaten geltend gemacht werden kann, womit auch eine (ältere, also nicht auf Umsetzung der RL gerichtete) innerstaatliche Bestimmung unangewendet zu lassen war. Eine solche mittelbare Horizontalwirkung verneint der EuGH für Art 27 GRC (wohl wegen seines Charakters als Grundsatz). Dabei weist er ausdrücklich auf den Unterschied zur Rs Kücükdeveci und damit zu Art 21 Abs 1 GRC hin: Während Art 27 GRC zwingend auf gesetzliche Konkretisierung angewiesen ist, würde Art 21 Abs 1 GRC schon für sich allein dem Einzelnen ein subjektives Recht verleihen, dass er als solches geltend machen kann (Rz 47 des vorliegenden Urteils).

Das vorliegende Urteil tut damit zweierlei: Es bekräftigt die mit der Rs Mangold begründete und der Rs Kücükdeveci fortgeführte Rsp, wonach „Rechte“ der GRC insoweit Rechtswirkungen zwischen Privaten entfalten können, als der Einzelne sich auf ein Recht der GRC dahingehend berufen kann, dass dieses bewirkt, dass eine an sich zur unmittelbaren Anwendbarkeit geeignete Richtlinienbestimmung entgegen dem allgemeinen Grundsatz wegen des Gewährleistungsgehalts des Grundrechts auch im Verhältnis zwischen Privaten dazu führen kann, dass dieser Richtlinienbestimmung entgegenstehende nationale Rechtsvorschriften unangewendet zu bleiben haben. Eine derartige Wirkung schließt der EuGH aber für „Grundsätze“ der GRC, und für einen solchen erachtet er offenbar Art 27 GRC, aus.

Offen lässt der EuGH im vorliegenden Urteil die vom Generalanwalt angesprochene Frage, welche Regelungen als „Umsetzungsvorschriften“ in concreto im Hinblick auf Art 27 GRC anzusehen sind: nur solche, die ihrer Regelungsintention nach tatsächlich der Umsetzung des Gewährleistungsgehalts dieser Bestimmung dienen, oder auch solche, die, wenn auch nicht ihrer Intention oder Entstehungsgeschichte nach, so doch aufgrund ihres Inhalts im Zusammenhang mit dem Gewährleistungsgehalt der Chartabestimmung stehen. In dieser Hinsicht und in der Folge auch dahingehend, wie weit für diese oder jene Gruppe von Bestimmungen eine im Hinblick auf Art 27 GRC grundrechtskonforme Auslegung stattzufinden hat, bleibt die weitere Rechtsprechungsentwicklung jedenfalls spannend.