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Adipositas ist nicht das Ende!

WOLFGANGKOZAK (WIEN)
Art 1, 10 RL 2000/78/EG
  1. Das Unionsrecht enthält kein allgemeines Diskriminierungsverbot wegen Adipositas.

  2. Adipositas kann jedoch den Behindertenbegriff des Unionsrechtes erfüllen, wenn diese aufgrund psychischer und physischer Beeinträchtigungen dauerhafte Einschränkungen bei der vollen Teilhabe am Berufsleben bewirkt.

[…]

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

16 Am 1.11.1996 stellte die Billund Kommune, die Teil der dänischen öffentlichen Verwaltung ist, Herrn Kaltoft mit befristetem Vertrag als Tagesvater ein, der Kinder im eigenen Heim betreut.

17 Die Billund Kommune stellte Herrn Kaltoft sodann mit unbefristetem Vertrag zum 1.1.1998 als Tagesvater ein. Herr Kaltoft übte diese Tätigkeit etwa 15 Jahre aus.

18 Zwischen den Parteien des Ausgangsverfahrens ist unstreitig, dass Herr Kaltoft während der gesamten Zeit seiner Beschäftigung bei der Billund Kommune „adipös“ iSd Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) war. […]

19 Herr Kaltoft versuchte, Gewicht zu verlieren, und die Billund Kommune gewährte ihm im Rahmen ihrer Gesundheitspolitik von Januar 2008 bis Januar 2009 einen finanziellen Zuschuss für die Teilnahme an Sportkursen und anderen körperlichen Aktivitäten. Er verlor zwar Gewicht, nahm dann aber wie bei früheren Versuchen wieder zu.

20 Im März 2010 nahm Herr Kaltoft seine Arbeit als Tagesvater wieder auf, nachdem er ein Jahr Urlaub aus familiären Gründen genommen hatte. In der Folge wurde er mehrmals unangekündigt von der für die Tagesbetreuer Verantwortlichen besucht, die sich nach seinem Gewichtsverlust erkundigte. Bei diesen Besuchen wurde festgestellt, dass das Gewicht von Herrn Kaltoft nahezu unverändert geblieben war.316

21 Wegen des Rückgangs der Kinderzahl in der Billund Kommune hatte Herr Kaltoft ab der 38. Kalenderwoche 2010 nur drei statt der vier Kinder zu betreuen, für die er eine Zulassung erhalten hatte.

22 Der Vorlageentscheidung zufolge wurden die pädagogischen Beauftragten der Billund Kommune um Vorschläge dazu gebeten, welcher der Tagesbetreuer entlassen werden solle. Die für die Tagesbetreuer Verantwortliche entschied auf der Grundlage dieser Vorschläge, dass es Herr Kaltoft sein solle.

23 Am 1.11.2010 wurde Herrn Kaltoft telefonisch mitgeteilt, dass die Billund Kommune in Betracht ziehe, ihn zu entlassen. Daraufhin wurde das bei der Entlassung eines Angestellten des öffentlichen Dienstes geltende Anhörungsverfahren eingeleitet.

24 Am selben Tag erkundigte sich Herr Kaltoft bei einem Gespräch mit der für die Tagesbetreuer Verantwortlichen in Anwesenheit der Personalvertreterin nach dem Grund dafür, dass er als einziger der Tagesbetreuer entlassen werde. Die Parteien des Ausgangsverfahrens sind sich darüber einig, dass die Adipositas von Herrn Kaltoft bei diesem Treffen erörtert wurde. Dagegen besteht keine Einigkeit darüber, wie die Adipositas von Herrn Kaltoft bei diesem Treffen zur Sprache gekommen und inwieweit sie ein Gesichtspunkt gewesen war, der in den zu seiner Entlassung führenden Entscheidungsprozess Eingang fand.

25 Mit Schreiben vom 4.11.2010 teilte die Billund Kommune Herrn Kaltoft förmlich mit, dass sie beabsichtige, ihn zu entlassen, und forderte ihn auf, gegebenenfalls dazu Stellung zu nehmen. In diesem Schreiben wurde dargelegt, dass die ins Auge gefasste Entlassung „nach einer konkreten Prüfung vor dem Hintergrund eines Rückgangs der Kinderzahl und damit der Arbeitslast [erfolgt], mit dem erhebliche finanzielle Auswirkungen auf den Kinderbetreuungsdienst und dessen Organisation verbunden sind“.

26 Herr Kaltoft konnte keinen Aufschluss über die genauen Gründe erlangen, aus denen gerade er entlassen wurde. Er war der einzige Tagesbetreuer, der wegen des geltend gemachten Rückgangs der Arbeitslast entlassen wurde.

27 Da die Billund Kommune Herrn Kaltoft eine Frist zur Stellungnahme gesetzt hatte, teilte dieser mit Schreiben vom 10.11.2010 mit, er habe den Eindruck, er sei wegen seiner Adipositas entlassen worden.

28 Mit Schreiben vom 22.11.2010 kündigte die Billund Kommune Herrn Kaltoft und führte aus, dass diese Kündigung nach einer „konkreten Prüfung vor dem Hintergrund eines Rückgangs der Kinderzahl“ erfolgt sei. Die Billund Kommune ging auf die Ausführungen von Herrn Kaltoft zu dem von ihm vermuteten wirklichen Grund für seine Entlassung in seinem Schreiben vom 10.11.2010 nicht ein.

29 Die FOA, die für Herrn Kaltoft handelt, erhob Klage beim Ret i Kolding (Gericht in Kolding) und macht geltend, dass Herr Kaltoft Opfer einer Diskriminierung wegen Adipositas geworden sei und ihm dafür Schadensersatz zu leisten sei.

30 Unter diesen Umständen hat das Ret i Kolding das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

  1. Verstößt eine Diskriminierung wegen Adipositas auf dem Arbeitsmarkt im Allgemeinen oder durch einen öffentlichen AG im Besonderen gegen das Unionsrecht, wie es zB in der Grundrechte betreffenden Bestimmung des Art 6 EUV zum Ausdruck kommt?

  2. Ist ein etwaiges unionsrechtliches Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas unmittelbar auf das Verhältnis zwischen einem dänischen Staatsangehörigen und seinem AG, der eine Behörde ist, anwendbar?

  3. Hat, sofern der Gerichtshof der Auffassung ist, dass in der Union ein Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas auf dem Arbeitsmarkt im Allgemeinen oder durch einen öffentlichen AG im Besonderen besteht, die Prüfung, ob gegen ein eventuelles Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas verstoßen wurde, gegebenenfalls gemäß der verteilten Beweislast zu erfolgen, so dass zur wirksamen Umsetzung des Verbots in Fällen, in denen der Anschein einer Diskriminierung besteht, die Beweislast auf den bekl AG zu verlagern ist?

  4. Kann Adipositas als eine vom Schutz der RL 2000/78 umfasste Behinderung betrachtet werden, und welche Kriterien sind gegebenenfalls ausschlaggebend dafür, dass die Adipositas einer Person konkret den Schutz dieser Person durch das in dieser RL enthaltene Verbot der Diskriminierung wegen einer Behinderung beinhaltet?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

31 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es ein allgemeines Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas als solcher in Beschäftigung und Beruf enthält.

32 Nach der Rsp des Gerichtshofs gehört zu den Grundrechten als integraler Bestandteil der allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts ua das allgemeine Diskriminierungsverbot, das für die Mitgliedstaaten somit verbindlich ist, wenn die im Ausgangsverfahren in Rede stehende innerstaatliche Situation in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt (vgl in diesem Sinne Urteil Chacón Navas, C 13/05, EU:C:2006:456, Rn 56).

33 Hierzu ist festzustellen, dass weder der EU-Vertrag noch der AEU-Vertrag eine Bestimmung enthält, die eine Diskriminierung wegen Adipositas als solcher verbietet. Insb wird weder in Art 10 AEUV noch in Art 19 AEUV auf Adipositas Bezug genommen.

34 Im Einzelnen ergibt sich zu Art 19 AEUV aus der Rsp des Gerichtshofs, dass dieser Artikel lediglich eine Regelung der Zuständigkeiten der Union enthält und, da er nicht die Diskriminierung wegen Adipositas als solcher betrifft, keine Rechtsgrundlage für Maßnahmen des Rates der EU zur Bekämpfung einer solchen Diskriminierung sein kann (vgl entsprechend Urteil Chacón Navas, EU:C:2006:456, Rn 55).317

35 Ebenso wenig enthält das abgeleitete Unionsrecht ein Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas in Beschäftigung und Beruf. Insb ist Adipositas nicht in der RL 2000/78 als Diskriminierungsgrund aufgeführt.

36 Nach der Rsp des Gerichtshofs darf der Geltungsbereich der RL 2000/78 nicht in entsprechender Anwendung über die Diskriminierungen wegen der in Art 1 dieser RL abschließend aufgezählten Gründe hinaus ausgedehnt werden (vgl Urteile Chacón Navas, EU:C:2006:456, Rn 56, und Coleman, C 303/06, EU:C:2008:415, Rn 46).

37 Daher kann Adipositas als solche nicht als ein weiterer Grund neben denen angesehen werden, derentwegen Personen zu diskriminieren nach der RL 2000/78 verboten ist (vgl entsprechend Urteil Chacón Navas, EU:C:2006:456, Rn 57). […]

39 In diesem Zusammenhang finden auch die Bestimmungen der Charta der Grundrechte der EU keine Anwendung auf einen solchen Sachverhalt (vgl in diesem Sinne Urteil Åkerberg Fransson, C 617/10, EU:C:2013:105, Rn 21 und 22).

40 In Anbetracht dieser Erwägungen ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass das Unionsrecht dahin auszulegen ist, dass es kein allgemeines Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas als solcher in Beschäftigung und Beruf enthält. […]

Zur vierten Frage

42 Mit seiner vierten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die RL 2000/78 dahin auszulegen ist, dass die Adipositas eines AN eine „Behinderung“ iS dieser RL darstellen kann und, falls ja, welche Kriterien ausschlaggebend dafür sind, dass dem Betreffenden der durch die RL gewährte Schutz gegen Diskriminierung wegen einer Behinderung zugutekommt.

Zur Zulässigkeit

43 Die dänische Regierung trägt vor, dass die vierte Frage unzulässig sei, da sie hypothetisch sei. Aus den vom vorlegenden Gericht dargelegten tatsächlichen Umständen ergebe sich nämlich nicht, dass Herr Kaltoft während seiner Beschäftigung bei der Billund Kommune nicht in der Lage gewesen wäre, seine Tätigkeit auszuüben, und erst recht nicht, dass davon ausgegangen worden wäre, dass er unter einer „Behinderung“ iSd RL 2000/78 leide. Die Beantwortung dieser Frage wäre daher der Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits nicht sachdienlich.

44 Außerdem lasse die Antwort auf die vierte Frage keinen Raum für vernünftige Zweifel, da sie klar aus der Rsp des Gerichtshofs abgeleitet werden könne. Denn im Lichte von Rn 47 des Urteils HK Danmark (C 335/11 und C 337/11, EU:C:2013:222) könne das vorlegende Gericht im Ausgangsverfahren selbst über die Definition des Begriffs „Behinderung“ iSd RL 2000/78 entscheiden.

45 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass im Rahmen des Verfahrens nach Art 267 AEUV nur das nationale Gericht, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende E fällt, im Hinblick auf die Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der dem Gerichtshof von ihm vorgelegten Fragen zu beurteilen hat. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn sie die Auslegung des Unionsrechts betreffen. Die Vermutung der Erheblichkeit der von den nationalen Gerichten zur Vorabentscheidung vorgelegten Fragen kann nur ausnahmsweise widerlegt werden, und zwar dann, wenn die erbetene Auslegung des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (vgl ua Urteile Åkerberg Fransson, EU:C:2013:105, Rn 39 und 40, sowie B., C 394/13, EU:C:2014:2199, Rn 19).

46 Im vorliegenden Fall ist sich das vorlegende Gericht nicht sicher, wie der Begriff „Behinderung“ iSd RL 2000/78 auszulegen ist, und möchte mit seiner vierten Frage wissen, ob dieser Begriff auf einen adipösen AN anwendbar ist, der entlassen wurde.

47 Unter diesen Umständen ist nicht offensichtlich, dass das vorlegende Gericht die von ihm erbetene Auslegung des Unionsrechts für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits nicht benötigt.

48 Es ist ferner einem nationalen Gericht keineswegs untersagt, dem Gerichtshof eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen, deren Beantwortung keinen Raum für vernünftige Zweifel lässt (vgl Urteil Painer, C 145/10, EU:C:2011:798, Rn 64 und die dort angeführte Rsp).

49 Daher ist die vierte Frage als zulässig anzusehen.

Beantwortung der Frage

50 Vorab ist festzustellen, dass die RL 2000/78 nach ihrem Art 1 die Schaffung eines allgemeinen Rahmens zur Bekämpfung von Diskriminierungen in Beschäftigung und Beruf aus einem der in diesem Artikel genannten Gründe bezweckt, zu denen die Behinderung zählt (vgl Urteil Chacón Navas, Rn 41).

51 Nach Art 2 Abs 2 Buchst a dieser RL liegt eine unmittelbare Diskriminierung vor, wenn eine Person wegen eines der in Art 1 dieser RL genannten Gründe in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung erfährt als eine andere Person.

52 Gem ihrem Art 3 Abs 1 Buchst c gilt die RL 2000/78 im Rahmen der auf die Union übertragenen Zuständigkeiten für alle Personen in öffentlichen und privaten Bereichen, einschließlich öffentlicher Stellen, ua in Bezug auf die Entlassungsbedingungen.

53 Nach der Ratifizierung des Übereinkommens der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das mit dem Beschluss 2010/48/EG des Rates vom 26.11.2009 (ABl 2010, L 23, S 35) im Namen der Europäischen Gemeinschaft genehmigt wurde, hat der Gerichtshof festgestellt, dass der Begriff „Behinderung“ iSd318 RL 2000/78 so zu verstehen ist, dass er eine Einschränkung erfasst, die ua auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von Dauer zurückzuführen ist, die in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren den Betreffenden an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen AN, hindern können (vgl Urteile HK Danmark, EU:C:2013:222, Rn 37 bis 39; EuGHZ., C 363/12, EU:C:2014:159, Rn 76, und Glatzel, C 356/12, EU:C:2014:350, Rn 45).

54 Dieser Begriff „Behinderung“ ist so zu verstehen, dass er nicht nur die Unmöglichkeit erfasst, eine berufliche Tätigkeit auszuüben, sondern auch eine Beeinträchtigung der Ausübung einer solchen Tätigkeit. Eine andere Auslegung wäre mit dem Ziel dieser RL unvereinbar, die insb Menschen mit Behinderung Zugang zur Beschäftigung oder die Ausübung eines Berufs ermöglichen soll (vgl Urteil Z., EU:C:2014:159, Rn 77 und die dort angeführte Rsp).

55 Für den Anwendungsbereich dieser RL je nach Ursache der Behinderung zu differenzieren, würde außerdem ihrem Ziel selbst, die Gleichbehandlung zu verwirklichen, widersprechen (vgl Urteil HK Danmark, EU:C:2013:222, Rn 40).

56 Der Begriff „Behinderung“ iSd RL 2000/78 hängt nämlich nicht davon ab, inwieweit der Betreffende gegebenenfalls zum Auftreten seiner Behinderung beigetragen hat.

57 Darüber hinaus geht die Definition des Begriffs „Behinderung“ iSv Art 1 der RL 2000/78 der Bestimmung und Beurteilung der in Art 5 der RL ins Auge gefassten geeigneten Vorkehrungsmaßnahmen voraus. Gem dem 16. Erwägungsgrund dieser RL soll mit solchen Maßnahmen nämlich den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung Rechnung getragen werden, und sie sind daher Folge und nicht Tatbestandsmerkmal der Behinderung (vgl in diesem Sinne Urteil HK Danmark, EU:C:2013:222, Rn 45 und 46). Daher kann nicht allein deshalb, weil Herrn Kaltoft gegenüber keine solchen Vorkehrungsmaßnahmen getroffen wurden, davon ausgegangen werden, dass er nicht behindert iSd RL sein kann.

57 Darüber hinaus geht die Definition des Begriffs „Behinderung“ iSv Art 1 der RL 2000/78 der Bestimmung und Beurteilung der in Art 5 der RL ins Auge gefassten geeigneten Vorkehrungsmaßnahmen voraus. Gem dem 16. Erwägungsgrund dieser RL soll mit solchen Maßnahmen nämlich den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderung Rechnung getragen werden, und sie sind daher Folge und nicht Tatbestandsmerkmal der Behinderung (vgl in diesem Sinne Urteil HK Danmark, EU:C:2013:222, Rn 45 und 46). Daher kann nicht allein deshalb, weil Herrn Kaltoft gegenüber keine solchen Vorkehrungsmaßnahmen getroffen wurden, davon ausgegangen werden, dass er nicht behindert iSd RL sein kann.

58 Es ist festzustellen, dass Adipositas als solche keine „Behinderung“ iSd RL 2000/78 ist, da sie ihrem Wesen nach nicht zwangsläufig eine Einschränkung wie die in Rn 53 des vorliegenden Urteils beschriebene zur Folge hat.

59 Dagegen fällt die Adipositas eines AN, wenn sie unter bestimmten Umständen eine Einschränkung mit sich bringt, die insb auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen zurückzuführen ist, die ihn in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen AN, hindern können, und wenn diese Einschränkung von langer Dauer ist, unter den Begriff „Behinderung“ iSd RL 2000/78 (vgl in diesem Sinne Urteil HK Danmark, EU:C:2013:222, Rn 41).

60 Dies wäre insb dann der Fall, wenn der AN aufgrund seiner Adipositas an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen AN, gehindert wäre, und zwar aufgrund eingeschränkter Mobilität oder dem Auftreten von Krankheitsbildern, die ihn an der Verrichtung seiner Arbeit hindern oder zu einer Beeinträchtigung der Ausübung seiner beruflichen Tätigkeit führen. […]

62 Es ist Sache des vorlegenden Gerichts, zu prüfen, ob im Ausgangsrechtsstreit die Adipositas von Herrn Kaltoft trotz des Umstands, dass er – wie in Rn 17 des vorliegenden Urteils ausgeführt – seine Arbeit etwa 15 Jahre lang verrichtet hat, zu einer Einschränkung geführt hat, die die in Rn 53 des vorliegenden Urteils genannten Voraussetzungen erfüllt.

63 […] ist bezüglich der Beweislast darauf hinzuweisen, […] wenn Personen, die sich durch die Nichtanwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes für verletzt halten und bei einem Gericht oder einer anderen zuständigen Stelle Tatsachen glaubhaft machen, die das Vorliegen einer unmittelbaren oder mittelbaren Diskriminierung vermuten lassen, es dem Bekl obliegt zu beweisen, dass keine Verletzung des Gleichbehandlungsgrundsatzes vorgelegen hat. Nach Art 10 Abs 2 lässt Abs 1 das Recht der Mitgliedstaaten, eine für den Kl günstigere Beweislastregelung vorzusehen, unberührt.

64 Nach alledem ist auf die vierte Frage zu antworten, dass die RL 2000/78 dahin auszulegen ist, dass die Adipositas eines AN eine „Behinderung“ iS dieser RL darstellt, wenn sie eine Einschränkung mit sich bringt, die ua auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von Dauer zurückzuführen ist, die ihn in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen AN, hindern können. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob diese Voraussetzungen im Ausgangsverfahren erfüllt sind. […]

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:

  1. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass es kein allgemeines Verbot der Diskriminierung wegen Adipositas als solcher in Beschäftigung und Beruf enthält.

  2. Die RL 2000/78/EG des Rates vom 27.11.2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf ist dahin auszulegen, dass die Adipositas eines AN eine „Behinderung“ iS dieser RL darstellt, wenn sie eine Einschränkung mit sich bringt, die ua auf physische, geistige oder psychische Beeinträchtigungen von Dauer zurückzuführen ist, die ihn in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben, gleichberechtigt mit den anderen AN, hindern können. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu prüfen, ob diese Voraussetzungen im Ausgangsverfahren erfüllt sind.

ANMERKUNG

Vorliegende E fand in den Tageszeitungen, wenn auch verkürzt, einige Beachtung. Der EuGH setzt aber mE nicht wirklich überraschend seine Betrachtungsweise hinsichtlich des Behin-319derungsbegriffes, welche er in der Rs Navas (C 13/05, ECLI:EU:C:2006:456) sowie Ring und Werge (C-335/11 und C-337/11 ECLI:EU:C:2013:222) bereits darlegte, fort. Die E auf Adipositas einzuengen, wie dies in den Medienberichten geschah, ist aber verfehlt.

1.
Keine direkte Anwendung der Grundrechtecharta

Bemerkenswerter ist, dass vorliegende E eine weitere Versagung des Erfolges einer Berufung auf die Grundrechtecharta (GRC) beinhaltet.

Art 21 GRC, welcher ein Diskriminierungsverbot enthält, ist demonstrativ gefasst: Diskriminierungsgeschützte Merkmale werden („insbesondere“) nur beispielhaft erwähnt. Der Gedanke liegt daher nahe, dass eine Diskriminierung – aufgrund welchen Merkmals auch immer -durch die GRC verpönt ist. Eine direkte Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der Charta ist jedoch ausschließlich bei der Durchführung des Rechts der Union gegeben (Borowsky in

Meyer
[Hrsg], Charta der Grundrechte der Europäischen Union3 [2011] Art 51 Rz 24). Diese Rsp, mit einem judicial self restraint vergleichbar (Borowsky in
Meyer
[Hrsg], Charta der Grundrechte3 Art 51 Rz 24), wurde durch gegenständliche E verfestigt. Zu seinem Schluss kommt der EuGH aufgrund von – verglichen mit seinen sonstigen großzügigen Interpretationstechniken sehr formellen – Wortinterpretation (vgl auch die inhaltlich gleichlaufende Argumentation in der E C-117/14 ECLI:EU:C:2015:60). Als mögliche Rechtsquellen des Unionsrechtes sind Art 19 und Art 10 AEUV zu prüfen. Art 19 AEUV behandelt, wie der EuGH richtigerweise anführt, lediglich die Kompetenz der Union durch den Rat Maßnahmen zur Bekämpfung von Diskriminierungen zu erlassen (vgl Holoubek in
Schwarze
[Hrsg], EU-Kommentar3 [2012] Art 19 AEUV Rz 3), gegenständliche Norm erwähnt aber Adipositas als Diskriminierungsverbot nicht ausdrücklich. Ebenso wenig ist dies bei Art 10 AEUV der Fall, der als Zielbestimmung mit einer sogenannten Querschnittsklausel „lediglich“ die „klassischen“ Diskriminierungsverbote enthält. Durch Art 10 AEUV werden keine neue Kompetenzen der Union geschaffen, sie beeinflusst aber die Handlungsmöglichkeiten im Rahmen dieser Kompetenz (Rebhahn in
Schwarze
[Hrsg], EU-Kommentar3 Art 10 AEUV Rz 1 f). Beide Rechtsquellen können daher nach der insoweit zustimmbaren Rechtsmeinung des EuGH nicht als Grundlage für die Argumentation der „Durchführung des Unionsrechtes“ herangezogen werden. Art 21 GRC entwickelt daher keine unmittelbare Bindung der Unionsstaaten. Eine unmittelbare Drittwirkung für Privatpersonen ist in der Folge nicht anzunehmen (vgl Borowsky in
Meyer
[Hrsg], Charta der Grundrechte3 Art 51 Rz 31). Da aber nur die GRC ein demonstratives Diskriminierungsverbot enthält und die sonstigen EU-Rechtsquellen Diskriminierungsverbote taxativ normieren, legt der EuGH in seiner E nun grundlegend dar, dass eine Ausweitung der Diskriminierungsverbote über die in der RL 2000/78/EG (im Folgenden: Gleichbehandlungs-RL) genannten Tatbestände der Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexuellen Ausrichtung in Beschäftigung und Beruf nicht möglich ist. Diese restriktive Judikaturlinie ist aus Gründen der Rechtssicherheit jedenfalls zu begrüßen, da – wie im Folgenden zu sehen ist – bereits die Anwendung der bestehenden Verbote komplexe Erhebungs- und Beurteilungsschritte notwendig machen kann.

2.
Der Begriff der Behinderung
2.1.
Einschränkungserfordernis

Eine Begriffsdefinition der Behinderung selbst findet sich in der Gleichbehandlungs-RL nicht. Vielmehr findet sich diese nun im Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung des Europarates, das Bestandteil der EU-Rechtsordnung geworden ist (Schlussanträge des GA Jääskinen zur gegenständlichen E, Rz 29). Richtigerweise prüfte der EuGH daher nach der Feststellung, dass kein ausdrückliches Diskriminierungsverbot bei Adipositas besteht, ob durch die Krankheit bzw Krankheitsfolgen der Behinderungsbegriff der Gleichbehandlungs-RL erfüllt ist.

Hier ist jedenfalls festzuhalten, dass eine Behinderung nicht nur angeboren oder Folge eines Unfalls sein kann, sondern auch Krankheit eine Behinderung begründen kann (Stiebert, Vorlagen an den EuGH – Diskriminierung/Fettleibigkeit, Zesar 03.14, 129). Ebenso wenig hängt die Beurteilung, ob eine Behinderung im unionsrechtlichen Sinn vorliegt, davon ab, ob bzw inwieweit der/die Betroffene zum Auftreten der Behinderung beigetragen hat (E Rz 56). Gerade dieser Grundsatz bekommt in Zeiten, in denen über Bonus-/Malussysteme in der Gesundheitsversorgung bezüglich der Lebensführung diskutiert wird, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Ebenso betont der EuGH, dass Maßnahmen und Vorkehrungen, die als Folge einer Behinderung den Bedürfnissen der betroffenen Personen Rechnung tragen, keinen Einfluss auf die Beurteilung, ob eine Behinderung vorliegt, haben kann (E Rz 57). Eine Behinderung liegt jedoch erst dann vor, wenn eine Einschränkung von Dauer den/die Betreffende/n an der vollen und wirksamen Teilhabe am Berufsleben hindern kann, wobei nicht nur die Unmöglichkeit, sondern auch die Beeinträchtigung der Ausübung einer Tätigkeit – gleichberechtigt mit anderen AN – den Begriff erfüllt. Nach den Ausführungen von GA Jääskinen (Schlussanträge Rz 38 f) ist die Beurteilung der Einschränkung im Allgemeinen und nicht im Zusammenhang mit der aktuellen beruflichen Tätigkeit der Person zu beurteilen. Daher sind Krankheiten allein, solange sie keine Einschränkungen an der Teilhabe am Berufsleben begründen, nicht als Behinderung iSd RL aufzufassen.

Aus der Umkehrung dieser Konsequenz folgt jedoch, dass eine Überprüfungspflicht für AG besteht, ob eine Krankheit bzw sonstige Einschränkung mit einer zeitlichen Ausdehnung die volle und wirksame Teilhabe am allgemeinen Berufsleben hindert.320

So ist also in der Folge Adipositas alleine nicht als Behinderung aufzufassen. Wenn diese Krankheit aber physische Einschränkungen, wie Überbelastung des Stütz- und Gelenkapparates, das Hinzukommen sonstiger Krankheitsbilder wie Diabetes oder psychische Beeinträchtigungen zur Folge hat, dann kann in der Betrachtung des Gesundheitszustandes des Menschen als „Gesamtpaket“ sehr wohl eine Behinderung vorliegen. Der GA geht in diesem Punkt sogar soweit, dass Einschränkungen am Arbeitsmarkt, die sich aufgrund des körperlichen Erscheinungsbildes eines Adipösen ergeben können, in der Beurteilung der Behinderung zu berücksichtigen sind (Jääskinen, Schlussanträge, Rz 52).

2.2.
Dauerhaftigkeit

Fraglich ist, wie das Kriterium der Dauerhaftigkeit aufzufassen ist. Österreich befindet sich in diesem Bezug in der komfortablen Lage, dass das Element der Dauerhaftigkeit in § 3 BEinstG vom Gesetzgeber mit einem Zeitraum von mehr als sechs Monaten der Dauer der Beeinträchtigung definiert wurde (vgl Mayr in

Neumayr/Reissner
[Hrsg], ZellKomm2 [2011] § 3 BEinstG Rz 3). Keinesfalls kann das Kriterium der Dauerhaftigkeit dazu genutzt werden, das Element des Heilungs- oder Änderungswillens als zusätzliches Abwägungskriterium bei der Beurteilung des Vorliegens der Behinderung einzuführen. Stiebert (Zesar 03.14, 130) hingegen sieht bereits in der Möglichkeit der Beseitigung der Einschränkung einen Entfall der Schutzbedürftigkeit und in der Folge den Verlust des Diskriminierungsschutzes. Die Folge von Stieberts Rechtsmeinung wäre, dass sich die Ungewissheit eines Heilungserfolges als Hinderungsgrund der Zuerkennung der Behinderteneigenschaft und somit der Versagung des besonderen Schutzes darstellen würde. Nur ab ovo unheilbare Krankheiten bzw Behinderungen würden daher einen unionsrechtlichen Behinderungsbegriff erfüllen. Diese Argumentation schließt aber mE in ihrer Logik nahtlos an jene Rechtsmeinungen an, die ein Vorliegen einer Behinderung bei ausreichenden Vorkehrungsmaßnahmen gegen die Auswirkungen derselben verneint. Vorliegende E des EuGH folgt aber der gegenteiligen Rechtsansicht, dass die Beurteilung des Vorliegens einer Behinderung unabhängig von möglichen Vorkehrungen zu erfolgen hat. Da überdies bei der Beurteilung des Vorliegens einer Behinderung nicht auf ein eventuelles Beitragen der Person zum Auftreten der Behinderung abzustellen ist, muss gleiches auch in Bezug auf den persönlichen Beitrag zur Heilung gelten. Auf die Heilbarkeit einer Krankheit kann es daher im Rahmen der Beurteilung nicht ankommen (Selzer, Krankheit und Behinderung im Diskriminierungsrecht, EuZA 1/2014, 101). Stieberts Ansatz vernachlässigt auch, dass gerade Therapien (zB Chemotherapien bei Krebs) jene Auswirkungen begründen können, die als behinderungsbegründende Einschränkungen zu werten sind. Der Begriff der Dauerhaftigkeit ist daher in Abgrenzung zu einer vorübergehenden Krankheit zu verstehen, die zwar ebenfalls Einschränkungen an der gleichen Teilhabe am Arbeitsmarkt bewirken kann, diese jedoch nur für kurze und absehbare Zeit bestehen. Gegenständliche Abgrenzung ist in der Folge notwendig, da Krankheit und Behinderung eben nicht in einem Gegensatz stehen (Selzer, Krankheit und Behinderung, EuZA 1/2014, 99). Unter dem Element der Dauerhaftigkeit ist also die notwendige zeitliche Ausdehnung wirksamer – zumindest krankheitsbedingter – Einschränkungen an der gleichen Teilhabe am Berufsleben zu verstehen.

3.
Drogensucht und Behinderung

Die E der vierten Kammer enthält keine Ausführungen zu der Beurteilung von Suchtkrankheiten (zB Nikotin-, Alkoholsucht) als Behinderung, da dies für die Klärung gegenständlicher Vorlagefrage nicht notwendig war. Der GA (Schlussanträge Rz 59) streift dieses nicht unerhebliche Thema aber kurz. So führt Kettemann (Rauchen und Recht. Erlaubt das Gemeinschaftsrecht die Diskriminierung von Rauchenden auf Arbeitssuche?juridikum 2007, 67 [70]) richtigerweise bereits aus, dass Rauchen selbst nicht als Behinderung zu sehen ist, sondern nur die Auswirkungen (zB Folgeerkrankungen), die Einschränkungen an der Teilhabe begründen, den Behindertenbegriff erfüllen können. Diese, die nunmehrige E des EuGH vorwegnehmende Rechtsansicht, ist auf alle Suchterkrankungen anzuwenden. Wie GA Jääskinen richtigerweise bemerkt, umfasst der unionsrechtliche Diskriminierungsschutz aber keine Besserstellung der Betroffenen bei (wenn auch unverschuldeten) Pflichtverstößen aus dem Arbeitsvertrag.

4.
Zusammenfassung

Bei der Beurteilung, ob eine Behinderung im unionsrechtlichen Sinne vorliegt, ist nicht nur auf angeborene bzw unfallbedingte Einschränkungen abzustellen. Bei langdauernden Krankheiten müssen zur Beurteilung der Erfüllung des Behindertenbegriffes auch die Auswirkungen dieser Krankheit erfasst werden, um prüfen zu können, ob am allgemeinen Beschäftigungsmarkt durch diese Auswirkungen Einschränkungen an der gleichen Teilhabe gegeben sind. Liegen solche vor, ist es irrelevant, dass die Einschränkungen im Betrieb des AG keine Auswirkungen haben.

Der E des EuGH ist uneingeschränkt zuzustimmen. Vorliegende Wertungs- und Beurteilungspflicht wird zwar vielfach als mühsamer gegenüber einfachen Schwarz-/Weiß-Lösungen empfunden werden, ist aber ohne Zweifel sachgerechter als das Abstellen auf einen reinen Schwellenwert, wie dies bei der Erfüllung des Begriffes des begünstigten Behinderten der Fall ist.321