Zugehörigkeit in der sozialen Sicherheit: Ändern sich die Zugehörigkeitskonzepte in Europa?
Zugehörigkeit in der sozialen Sicherheit: Ändern sich die Zugehörigkeitskonzepte in Europa?
Zugehörigkeitskonzepte in den Mitgliedstaaten
Zugehörigkeitskonzepte im EU-Recht
Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit
Rs Bosmann und die Folgerechtsprechung
Rs Brey und die Folgerechtsprechung
Politische Entwicklungen
Schlussfolgerungen
Systeme der sozialen Sicherheit, seien es nun Sozialversicherungen – bspw gegen das Risiko des Alters – oder Sozialhilfesysteme gegen das Risiko der Bedürftigkeit, erfordern eine Abgrenzung, wer durch diese Systeme erfasst ist. Dh, wer Schutz genießen soll bzw im Falle einer Beitragsfinanzierung, wer diese Systeme (mit)finanzieren soll. Sozialgesetze definieren daher einen persönlichen Anwendungsbereich – die Zuständigkeit ratione personae. Damit wird festgelegt, wer Teil der Solidargemeinschaft ist.
Diese Abgrenzung kann anhand verschiedener Merkmale erfolgen. Mit der Entstehung von Nationalstaaten in Europa und deren Konfrontation mit den sozialen Folgen der Industrialisierung bildeten sich unterschiedliche Zugänge zum Sozialstaat heraus.* Im Deutschen Reich wurden durch Reichskanzler Bismarck eine KV, UV und PV in396 den 1890er-Jahren eingeführt. Diese Maßnahmen richteten sich an die Arbeiterschaft. Entsprechend knüpfte die Zugehörigkeit zu dieser SV an Formen der Erwerbstätigkeit an. In Großbritannien wurden, aufbauend auf Empfehlungen im sogenannten Beveridge-Report, in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg Sozialversicherungssysteme etabliert, die einheitliche Leistungen für die gesamte Bevölkerung bieten sollten. Hier knüpfte man an den Wohnsitz an.
Esping-Andersen hat 1990 in seinem Werk „The Three Worlds of Welfare Capitalism“ diese Zugänge in einen liberal-angelsächsischen, einen konservativ-kontinentaleuropäischen und einen sozialdemokratisch-skandinavischen Weg eingeteilt.* Der liberal-angelsächsische Wohlfahrtsstaat verfolgt die Armutsvermeidung und definiert den persönlichen Anwendungsbereich der Sozialgesetzgebung grundsätzlich über den Wohnsitz. Das konservativ-kontinentaleuropäische Modell hingegen dient primär der Aufrechterhaltung des Lebensstandards der Erwerbstätigen und stellt somit auf die Erwerbstätigkeit ab. Der sozialdemokratisch-skandinavische Wohlfahrtsstaat zielt auf die soziale Teilhabe an der Gesellschaft und eine Gleichheit höchsten Standards ab und umfasst alle Mitglieder der Gesellschaft, primär ausgedrückt durch Wohnsitz.
Bereits Esping-Andersen hat festgehalten, dass keiner dieser Wohlfahrtsstaattypen in seiner reinen Form auftritt.* Das gilt etwa auch für Österreich, wo in bestimmten Zweigen des Sozialstaats nicht oder nicht mehr auf die Aufrechterhaltung des Lebensstandards der Erwerbstätigen abgezielt wird – mit entsprechenden Konsequenzen für die Frage der Zugehörigkeit. Beispielsweise wurde mit Inkrafttreten 1.1.2002 das Karenzgeld durch das Kinderbetreuungsgeld abgelöst. Dadurch wollte man familienpolitisch das System des Lastenausgleichs zu einem des Leistungsausgleichs weiterentwickeln.* Entsprechend änderte sich der Zugehörigkeitskreis, dh der Kreis der Anspruchsberechtigten: Hatten davor nur unselbständig Erwerbstätige Anspruch auf Karenzgeld,* knüpft das Kinderbetreuungsgeld an den Anspruch auf Familienbeihilfe und somit an den Wohnsitz an.*
Die dargestellten Anknüpfungspunkte „Erwerbstätigkeit“ und „Wohnsitz“ sind die beiden wichtigsten, wenn es um Zugehörigkeit in der sozialen Sicherheit geht. Daneben gibt es aber noch weitere Anknüpfungskriterien, wie bspw Staatsbürgerschaft, Aufenthaltstitel bei Drittstaatsangehörigen, bloßer Aufenthalt oder Steuerpflicht. Meistens treten diese Anknüpfungspunkte allerdings kumulativ oder alternativ auf. Ein Beispiel der Kumulation wäre ein Staatsbürgerschaftserfordernis/Aufenthaltstitel zusammen mit einem Wohnsitzerfordernis. Ein Beispiel der Alternative wäre ein Wohnsitzerfordernis und alternativ ein Steuerpflichterfordernis. Staatsbürgerschaft als alleiniges Kriterium für die Zugehörigkeit zu einem System der sozialen Sicherheit ist in den Mitgliedstaaten nicht vorhanden. Sehr selten, aber vorkommend ist der alleinige Anknüpfungspunkt des Aufenthalts. Belgien hat ein zweischichtiges Sozialhilfesystem für Bedürftige und spannt das unterste Sozialhilfenetz mit sehr eingeschränkten Leistungen für alle Personen – ungeachtet der Staatsbürgerschaft und des Aufenthaltstitels – die ihren faktischen Aufenthalt in Belgien haben.* Diese Regelung leitet sich aus der belgischen Verfassung ab, die jedem das Recht einräumt, ein Leben im Einklang mit der Menschenwürde zu leben.* Dadurch haben auch irregulär aufhältige Personen einen Anspruch auf dringend medizinische Versorgung.*
Den beiden wichtigsten Anknüpfungskriterien für die Zugehörigkeit in der sozialen Sicherheit „Erwerbstätigkeit“ und „Wohnsitz“, aber auch den anderen Anknüpfungskriterien, ist gemeinsam, dass mit ihnen eine ausreichende Verbindung zum Wohlfahrtsstaat unterstellt wird. Insofern sind sowohl Erwerbstätigkeit als auch Wohnsitz bloß Mittel zum Zweck. Der Zweck ist, Personen in die Solidargemeinschaft aufzunehmen, die ein genügend starkes Band zum Wohlfahrtsstaat aufweisen.
Im Europäischen Sozialrecht schafft man Zugehörigkeit zu mitgliedstaatlicher sozialer Sicherheit über zwei Techniken: die Bestimmung des anwendbaren Rechts und den Grundsatz der Gleichbehandlung. Die Technik der Bestimmung des anwendbaren Rechts findet sich als Prinzip in der europäischen Sozialrechtskoordinierung wieder. Dabei wird bei grenzüberschreitenden Sachverhalten und der damit auftretenden Frage, welche Rechtsvorschriften zur Anwendung kommen, bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen die Einbeziehung in die soziale Sicherheit eines Mitgliedstaates bestimmt. Damit erfolgt gleichzeitig der Ausschluss von der sozialen Sicherheit des oder der anderen Mitgliedstaates/n – zur jüngeren Entwicklung aufgrund der Rs Bosmann und der Folgerechtsprechung später.
Durch den Grundsatz der Gleichbehandlung, wie er etwa in der Freizügigkeits-RL 492/2011* oder der Aufenthalts-RL 2004/38* enthalten ist, wird ebenso eine Einbeziehung in die soziale Sicherheit vorgegeben; wobei ein Ausschluss aus der sozialen397 Sicherheit eines anderen Mitgliedstaates nicht festgelegt wird.
Im Folgenden sehen wir uns diese beiden Prinzipien, deren Ausgestaltung und rechtliche Verankerung an.
Das europäische Koordinierungsrecht der sozialen Sicherheit beruht seit dem Vertrag von Lissabon auf Art 48 AEUV und findet in der Koordinierungs-VO 883/2004 seinen Ausdruck.* Es bestimmt bei grenzüberschreitenden Sachverhalten ua das anwendbare Recht;* dh welchem Mitgliedstaat die Person im Hinblick auf ihre soziale Sicherheit unterliegt. In Art 3 VO 883/2004 werden jene Zweige der sozialen Sicherheit definiert, auf die die VO Anwendung findet. Die klassische Sozialhilfe ist nicht Teil dieser Koordinierung.*
Grundsätzlich unterliegen nach dem europäischen Koordinierungsrecht Unionsbürger/innen* in grenzüberschreitenden Situationen dem Recht jenes Staates, in dem sie erwerbstätig sind.* Der europäische Gesetzgeber hat sich also für den Anknüpfungspunkt der Erwerbstätigkeit und nicht für jenen des Wohnsitzes entschieden. Seinen Ursprung hat diese Entscheidung in den Römer Verträgen von 1957 und den darauf beruhenden Verordnungen 3 und 4 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.* Das Sozialrechtskoordinierungsrecht dient seit Anbeginn der effektiven Umsetzung der AN-Freizügigkeit in den Unionsmitgliedstaaten. Dennoch: Man hätte sich auch im Hinblick auf AN für den Wohnsitz als Anknüpfungskriterium entscheiden können – so wie dies etwa in einigen Zweigen der sozialen Sicherheit im Gründungsmitgliedstaat Niederlande der Fall war und nach wie vor ist, wie in den zu dieser Zeit bestehenden multilateralen Abkommen zur Sozialen Sicherheit auf Wohnsitz abgestellt wurde* oder wie im internationalen Steuerrecht zur Vermeidung von Doppelbesteuerung das Kriterium Wohnsitz zur Anwendung kommt.
Wie dem auch sei, für Mitgliedstaaten, wie etwa die angesprochenen Niederlande, die für die Zugehörigkeit zu Zweigen der sozialen Sicherheit auf den Wohnsitz abstellen, bedeutet dies, dass die Zugehörigkeit zu nationalen Sozialrechtsregimen durch die europäische Koordinierungs-VO aufgrund der Erwerbstätigkeit und nicht des Wohnsitzes definiert wird.* Diese europäische Zugehörigkeitsdefinition ist für die Mitgliedstaaten bindend.
Ursprünglich adressierte die europäische Sozialrechtskoordinierung nur AN, um der AN-Freizügigkeit zum Durchbruch zu verhelfen. Im Laufe der Zeit wurde der Personenkreis, der unter das Koordinierungsregime fiel, ausgeweitet. So kamen in den 1980er- und 1990er-Jahren etwa Selbständige* und Beamte/innen* hinzu. Anknüpfungspunkt war auch hier die Erwerbstätigkeit – als Mitgliedstaat, in dem die selbständige Tätigkeit ausgeübt wird bzw in dessen Behörde sie beschäftigt sind.*
Wander-AN wurde darüber hinaus der Zugang zur Sozialhilfe und anderen sozialen Vergünstigungen des Beschäftigungsstaates eingeräumt. Diese Bestimmung zur Gleichbehandlung findet sich in Art 7 Abs 2 der FreizügigkeitsVO 492/2011. Sie schafft somit auch eine durch europäisches Recht vorgegebene Zugehörigkeit in Zweigen der mitgliedstaatlichen sozialen Sicherheit.
Mit der primärrechtlichen Einführung der Unionsbürger/innen-Freizügigkeit durch den Vertrag von Maastricht 1992* wurde auch die VO 883/2004 entsprechend erweitert. Gem Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 gelten subsidiär für alle Personen, die nicht aufgrund ihrer Erwerbstätigkeit – die Sonderregelungen für Arbeitslosenleistungsempfänger/innen, Wehr- und Zivildiener beiseite lassend – dem Beschäftigungsstaat zugewiesen sind, die Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Wohnmitgliedstaats. Dieser Wohnort bestimmt sich – im Falle von Uneinigkeit zwischen Mitgliedstaaten – gem Art 11 der DurchführungsVO 987/2009 anhand der faktischen Gegebenheiten, wie etwa der Dauer und Kontinuität des Aufent-398halts, familiärer Bindungen und bezahlter und unbezahlter Tätigkeiten.*
Der Einführung der Unionsbürger/innen-Freizügigkeit stellten sich auch Fragen des Zugangs von nicht-erwerbstätigen Unionsbürger/innen zu Sozialhilfe und anderen sozialen Vergünstigungen. Vor Verabschiedung der Aufenthalts-RL 2004/38 gab es einige auf Primärrecht basierende EuGH-Erkenntnisse, die allerdings keine einheitliche Linie erkennen ließen. Zwar kennzeichnet all diese Erkenntnisse, dass ein rechtmäßiger Aufenthalt für den Zugang zu Sozialhilfe und ähnlichen Leis tungen im Aufnahmemitgliedstaat verlangt wird; daneben wird allerdings einmal kumulativ, dann wieder als Einzelerfordernis ein bestimmter Grad der Integration in den Aufnahmemitgliedstaat und/oder keine ungebührliche Belastung für das Sozialhilfesystem gefordert.* Mit Inkrafttreten der Aufenthalts-RL 2004/38 wurde grundsätzlich ein abgestuftes System der Gleichbehandlung eingeführt, wonach bei einem Aufenthalt von bis zu drei Monaten Mitgliedstaaten keine Gleichbehandlung mit eigenen Staatbürger/innen im Hinblick auf die Sozialhilfe gewähren müssen.* Bei einem Aufenthalt von über fünf Jahren erfolgt eine Gleichstellung und somit ein uneingeschränkter Zugang zur Sozialhilfe.* In der Zeit dazwischen, dh bei einem Aufenthalt zwischen drei Monaten und fünf Jahren, ist es Mitgliedstaaten unter bestimmten Umständen erlaubt, den Zugang zur Sozialhilfe für nicht-erwerbstätige Unionsbürger/innen zu beschränken.*
Im Folgenden soll die jüngere Entwicklung in europäischer Rsp und Politik im Hinblick auf mögliche Veränderungen in der Zugehörigkeit zur sozialen Sicherheit analysiert werden.
Beginnend mit der Rs Bosmann hat der EuGH einige bemerkenswerte Erkenntnisse gefällt, die die Frage des anwendbaren Rechts vor dem Hintergrund der AN-Freizügigkeit zum Gegenstand hatten. Uns interessiert hier die Frage, ob es durch diese Rsp zu Veränderungen bei der Zugehörigkeit zur sozialen Sicherheit kam. Dazu kann man festhalten, dass die Erkenntnisse Folgendes bewirkt haben:
Frau Bosmann fällt in den Anwendungsbereich des Sozialrechts des Beschäftigungsstaates Niederlande; durch das EuGH-Erk kann im Hinblick auf Familienleistungen aber aufgrund des Wohnsitzes (auch)* eine Zugehörigkeit zum deutschen System gegeben sein.
Herr Hudzinski und Herr Wawrzyniak* fallen in den Anwendungsbereich des Sozialrechts des Beschäftigungsstaates Polen; durch das EuGH-Erk ist im Hinblick auf Familienleistungen aber aufgrund der Steuerpflicht auch eine Zugehörigkeit zum deutschen System gegeben.*
Frau Franzen* fällt nur teilweise (UV) in den Anwendungsbereich des Sozialrechts des Beschäftigungsstaates Deutschland; durch das EuGH-Erk ist im Hinblick auf Familienleistungen aber aufgrund des Wohnsitzes eine Zugehörigkeit zum niederländischen System gegeben.* Die Ehefrau von Herrn Giesen fiel in den Anwendungsbereich des Sozialrechts des Beschäftigungsstaates Deutschland; durch das EuGH-Erk ist im Hinblick auf Pensionsleistungen aber aufgrund des Wohnsitzes auch eine Zugehörigkeit zum niederländischen System gegeben. Herrn van den Berg fällt teilweise in den Anwendungsbereich des Sozialrechts des Beschäftigungsstaates Deutschland; durch das EuGH-Erk ist im Hinblick auf Pensionsleistungen aber aufgrund des Wohnsitzes auch eine Zugehörigkeit zum niederländischen System gegeben.
Daraus lässt sich Folgendes erkennen:
Der in der europäischen Sozialrechtskoordinierung festgelegte Grundsatz der Einheitlichkeit, dh dass ein Mitgliedstaat exklusiv für die soziale Sicherheit von wandernden Unionsbürger/innen zuständig ist, wird aufgegeben.*
Im Vergleich zum bisherigen Unionsrecht werden neue Zugehörigkeiten und somit mehr Zugehörigkeiten geschaffen. Bspw kann für Frau Bosmann eine Zugehörigkeit zum Familienleistungssystem des Nicht-Beschäftigungsstaates bestehen.
Dies führt im Vergleich zum bisherigen Unionsrecht in jedem Fall zu einem Mehr an sozialen Rechten. Bspw hat Frau Franzen die Möglichkeit, Familienleistungen zu beziehen.
Bei einem Teil der Fälle kommt es in ein und demselben Zweig der sozialen Sicherheit zu einer Zugehörigkeit in zwei Mitgliedstaaten. Bspw besteht für die Herren Huzinski und Wawrzyniak eine Zugehörigkeit sowohl zum System der Familienleistungen im Beschäftigungsstaat als auch im Staat, in dem sie unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sind.
Der Grundsatz, dass bei Wander-AN die Erwerbstätigkeit bei Vorliegen der sonstigen Vorausset-399zungen die Zugehörigkeit schafft, wird um Anknüpfungskriterien des nationalen Rechts erweitert: Wohnsitz in Bosmann und Franzen und unbeschränkte Steuerpflicht in Hudzinski und Wawrzyniak. Diese Anknüpfungskriterien nationalen Rechts lässt der EuGH unmittelbar durchwirken – ohne das Korrektiv des EU-Koordinierungsrechts. Damit werden für Wander-AN Zugehörigkeiten aufgrund von Kriterien geschaffen, die dem Unionsrecht eigentlich fremd sind: Wohnsitz nach nationaler Definition, unbeschränkte Steuerpflicht nach nationaler Definition. Aufgrund der Erfüllung dieser nationalen Anknüpfungskriterien kommt in einem bestimmten Zweig der sozialen Sicherheit das Recht eines Mitgliedstaates zur Anwendung – so wie es aufgrund von Art 11 VO 883/2004 bei Erfüllung des Kriteriums selbständige oder unselbständige Erwerbstätigkeit der Fall ist. De facto passiert hier eine Zuweisung zu nationalem Recht auf nationaler Ebene – und aufgrund von nationalen Zugehörigkeitskriterien.
Der EuGH begründet diese Erweiterung von Anknüpfungskriterien und Zugehörigkeiten damit, dass diese „
zur Verbesserung des Lebensstandards und der Arbeitsbedingungen der Wanderarbeitnehmer beizutragen vermag, indem diesen ein weiter gehender sozialer Schutz gewährt wird, als sich aus der Anwendung dieser Verordnung ergibt, und sie somit am Zweck dieser Vorschriften teilhat, der darin besteht, die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zu erleichtern
“.*
Bei Nicht-Erwerbstätigen, die von ihrer Unionsbürger/innen-Freizügigkeit Gebrauch gemacht haben, ist es etwas schwerer der Frage nachzugehen, ob sich Zugehörigkeitskonzepte im Hinblick auf Sozialhilfe und andere soziale Vergünstigungen, wie etwa Studienbeihilfen, verändert haben. Dies liegt daran, dass es nie den einen Grundsatz, wie im Koordinierungsrecht, gab, von dem man in jüngerer Zeit, wie oben dargestellt, abgewichen ist.
Der Frage, wann eine Gleichbehandlung im Bereich der Sozialhilfe mit eigenen Staatsbürger/innen zu erfolgen hat, hat sich der EuGH zunächst auf der Basis von Primärrecht genähert und danach auf Grundlage der Aufenthalts-RL 2004/38. Diese Rsp war, wie oben dargestellt, nicht ganz einheitlich, was die Erfordernisse für den Zugang zu Sozialleistungen betrifft, und hat zu einiger Rechtsunsicherheit geführt.* Mit der E in der Rs Brey ging der EuGH im Hinblick auf diese Erfordernisse wiederum neue Wege und stellte auf eine Einzelfallprüfung zur Beurteilung, ob eine unangemessene Belastung des nationalen Sozialhilfesystems vorliege, ab. Von dieser Einzelfallprüfung wich der EuGH in seiner Folge-Rsp allerdings wieder ab.*
Der EuGH nähert sich demnach erst der Frage an, unter welchen Bedingungen eine Gleichbehandlung bei der Sozialhilfe erfolgen muss und Zugehörigkeit zum System des Aufnahmemitgliedstaates die Folge ist. Eine Aussage, ob sich Zugehörigkeitskonzepte in diesem Bereich verändern, kann daher grundsätzlich nicht getroffen werden. Für einen bestimmten Bereich ist allerdings sehr wohl eine Veränderung beobachtbar, denn hier gibt es durch die VO 883/2004 einen Grundsatz, von dem abgewichen wurde: für jene Sozialleistungen, die sowohl eine Sozialhilfe iSd Aufenthalts-RL 2004/38, als auch eine besondere beitragsunabhängige Geldleistung iSd KoordinierungsVO 883/2004 darstellen.
Für besondere beitragsunabhängige Geldleistungen sieht die VO 883/2004 den Grundsatz der Gleichbehandlung vor.* Nicht-erwerbstätige Unionsbürger/innen haben demnach Anspruch auf Gleichbehandlung im Wohnmitgliedstaat.* Der Wohnort bestimmt sich, wie oben bereits dargestellt, anhand von faktischen Kriterien, wie etwa Dauer und Kontinuität des Aufenthalts oder familiärer Bindungen. Mit der Rs Brey beginnend, war der EuGH erstens mit der Frage konfrontiert, ob besondere beitragsunabhängige Geldleistungen nach der VO 883/2004 gleichzeitig Sozialhilfeleistungen iSd RL 2004/38 sein können und zweitens, wie sich die beiden Rechtsakte zueinander verhalten. Die erste Frage wurde bejahend beantwortet. Dh, dass Leistungen wie die österreichische Ausgleichszulage oder die deutschen Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach den §§ 19 ff SGB II (kurz: Hartz IV) sowohl unter die VO als auch unter die RL fallen. Die zweite Frage hat der EuGH mit einem de facto-Vorrang für die RL 2004/38 beantwortet. Demnach „spricht nichts dagegen, die Gewährung solcher Leistungen an nicht erwerbstätige Unionsbürger/innen von dem Erfordernis abhängig zu machen, dass sie die Voraussetzungen der Richtlinie 2004/38 für ein Recht auf Aufenthalt im Aufnahmemitgliedstaat erfüllen
“.* MaW, um das Recht auf Gleichbehandlung nach Art 4 VO 883/2004 geltend zu machen, genügt nicht notwendigerweise, wie in der VO vorgesehen, der faktische Wohnsitz, sondern kann zusätzlich ein rechtmäßiger Aufenthalt vorausgesetzt werden. Darüber hinaus kann das Kriterium der „nicht unangemessenen Belastung für das Sozialhilfesystem“ eine Rolle spielen.
Hier kam es somit zu einer Änderung von Zugehörigkeitskonzepten. Das Anknüpfungskriterium „Wohnsitz“ kann um die nationalen Kriterien rechtmäßiger Aufenthalte erweitert werden. Erst wenn diese Voraussetzung erfüllt ist, erfolgt eine Zugehörigkeit zum System der Sozialhilfe bzw der besonderen beitragsunabhängigen Geldleistung des Aufnahmemitgliedstaates.
So sinnvoll es sein mag, Mitgliedstaaten die Möglichkeit einzuräumen, den Anspruch auf diese Sozialleistungen für Nicht-Erwerbstätige von einem400 rechtmäßigen Aufenthalt abhängig zu machen, schafft es doch Probleme. Denn durch VO 883/2004 erfolgt ein Ausschluss des/der migrierenden Unionsbürgers/Unionsbürgerin aus seinem/ihrem früheren Wohnmitgliedstaat, während durch die Interpretation des Zusammenspiels von VO und RL durch den EuGH noch kein Einschluss im neuen Wohnmitgliedstaat erfolgen muss. Aufgrund dessen, dass beitragsunabhängige Sonderleistungen seit dem politischen Kompromiss von 1992 nicht mehr exportiert werden müssen,* ist hier auch der nicht mehr zuständige Mitgliedstaat nicht in der Pflicht. Als Konsequenz ist der/die Unionsbürger/in im Hinblick auf diese Leistungen keinem nationalen System zugehörig.
In den letzten Jahren gab es in einigen Mitgliedstaaten eine Debatte zur Ausübung von Freizügigkeitsrechten zur Inanspruchnahme von Sozialleistungen. Diese unter dem Schlagwort „Sozialtourismus“ geführte Debatte bekam besondere politische Brisanz, als im April 2013 die Innenminister Deutschlands, Großbritanniens, der Niederlande und Österreichs einen gemeinsamen Brief an den Europäischen Rat verfassten.* Darin warben sie um Unterstützung für die Bekämpfung des Missbrauchs von Freizügigkeitsrechten, der die Sozialsysteme der vier zeichnenden Staaten belaste.*
Nachdem Großbritannien ein Referendum über den Austritt aus der EU ankündigte, kam es beim Europäischen Rat des 18./19.2.2016 zu einem Beschluss, der Großbritannien Entgegenkommen für dessen Anliegen signalisieren sollte.* Dieser Beschluss war eine politische Willenserklärung in vier Bereichen, der im Falle eines Verbleibs Großbritanniens bei der Union wirksam werden sollte. Einer dieser Bereiche betraf das Thema Sozialleistungen und Freizügigkeit. Die in diesem Beschluss getroffenen Regelungen waren auf die besondere Situation in Großbritannien zugeschnitten, sollten aber bei Wirksamwerden des Beschlusses für alle EU-Länder gelten.
Wie bekannt, votierte die britische Bevölkerung am 23.6.2016 für den Austritt aus der Union. Nicht zuletzt, da Stimmen laut werden, die Teile des Beschlusses, insb den Bereich Sozialleistungen und Freizügigkeit, dennoch umgesetzt sehen wollen,* lohnt sich eine Auseinandersetzung damit. Zwei Regelungen des Beschlussentwurfes sind für diese Abhandlung relevant: die Indexierung von Familienleistungen und die Einschränkungen zum Zugang zu Lohnergänzungsleistungen.
Abschnitt D Abs 2 lit a der Anlage I sowie Anlage V sehen eine Änderung der VO 883/2004 vor, die Mitgliedstaaten die Möglichkeit geben soll, Leistungen für Kinder, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, als jenem, in dem der/die AN wohnt,* zu indexieren. Dh, dass die Familienleistungen des zuständigen Staates an den Lebensstandard und die Höhe der Familienleistungen im Wohnmitgliedstaat des Kindes gekoppelt werden dürfen. Das bedeutet noch keine Veränderung von Zugehörigkeiten. Der zuständige Staat scheint sich nach dem Willen der Staats- und Regierungschefs nicht zu ändern. Der zuständige Staat ist es auch weiterhin, der Familienleistungen zu erbringen hat und allenfalls Beiträge dahingehend einhebt. Allerdings soll nach diesem Beschlussentwurf das Lebensstandards- und Leistungsniveau des Wohnmitgliedstaates des Kindes Berücksichtigung finden. Das ändert noch keine Zuständigkeiten, bedeutet aber erstens eine höhere Relevanz des Anknüpfungspunktes Wohnmitgliedstaat des Kindes* und zweitens kann man zumindest davon sprechen, dass bei der Höhe der Leistung keine Zugehörigkeit zum zuständigen Mitgliedstaat vorliegt, sondern Maß am Wohnmitgliedstaat des Kindes genommen wird. Somit liegt zwar keine Veränderung von Zugehörigkeiten vor, ein wenig berührt werden die Zugehörigkeiten durch diese Regelungsentwürfe aber dennoch.
Abschnitt D Abs 2 lit b der Anlage I sowie Anlage VI enthalten eine Änderung der Freizügigkeits-VO 492/2011. Demnach soll ein Warn- und Schutzmechanismus eingerichtet werden, der es Mitgliedstaaten erlaubt – bei einem außergewöhnlich großen Zustrom von AN aus anderen Mitgliedstaaten, der über einen längeren Zeitraum anhält und wichtige Aspekte seines Systems der sozialen Sicherheit, darunter den Hauptzweck seines Systems der Lohnergänzungsleistungen, beeinträchtigt oder erhebliche und voraussichtlich anhaltende Schwierigkeiten auf seinem Arbeitsmarkt verursacht oder dazu führt, dass das ordnungsgemäße Funktionieren seiner öffentlichen Dienste übermäßigen Belastungen ausgesetzt ist* –, Sozialleistungen einzuschränken. Konkret sollen Mitgliedstaaten nach einer Ermächtigung des Rates den Zugang zu nicht durch Beiträge finanzierten Lohnergänzungsleistungen für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren ab Aufnahme der Beschäftigung beschränken können. Dabei ist ein abgestuftes Verfahren vorgesehen, wonach zu Beginn gar kein Zugang bestehen muss und mit wachsender Bindung an den Arbeitsmarkt der schrittweise Zugang erfolgt. Dies würde eine Veränderung von Zugehörigkeiten mit sich bringen. Wander-AN müssten im Hinblick auf Lohnergänzungsleistungen nicht mehr von Beschäftigungsbeginn an gleichbehandelt werden, sondern dürften davon ausgeschlossen werden. Damit kann entgegen dem bisherigen Unionsrecht das nationale Recht die Zugehörigkeit verwehren.401
Dazu passend ist das jüngst ergangene EuGH-Erk EC vs. UK* zu erwähnen. Die Kommission klagte Großbritannien, da der Mitgliedstaat seit vielen Jahren den Zugang zu Familienleistungen – die weder Sozialhilfeleistungen noch besondere beitragsunabhängige Sonderleistungen iSd VO 883/2004 darstellen – von dem Erfordernis abhängig macht, dass die Voraussetzungen für einen rechtmäßigen Aufenthalt erfüllt werden. Gem Art 11 Abs 3 lit 3 VO 883/2004 müsste der Wohnsitz in Großbritannien, der sich nach faktischen Kriterien richtet, genügen, um entsprechend dem Gleichbehandlungsgebot nach Art 4 VO 883/2004 unter den gleichen Voraussetzungen wie britische Staatsbürger/innen, somit ohne das Zusatzerfordernis der Rechtmäßigkeit des Wohnsitzes, Anspruch auf das britische Kindergeld (child benefit) und die Steuergutschrift für Kinder (child tax credit) zu haben. Der EuGH bestätigte zwar, dass es sich um klassische Familienleistungen iSd Art 3 Abs 1 lit j iVm Art 1 lit z VO 883/2004 handle,* sah aber in der Bestimmung des anwendbaren Rechts unter der VO 883/2004 eine bloße Kollisionsnorm,* die einer nationalen Bestimmung, die den Anspruch von der Voraussetzung eines rechtmäßigen Aufenthalts abhängig macht, nicht entgegenstehe.* Der EuGH betonte, dass die VO 883/2004 nationale Systeme „nur koordinieren“ solle, und das Kriterium des rechtmäßigen Aufenthalts danach auf nationaler Ebene einen Bestandteil der Anspruchsvoraussetzungen darstelle.* Darüber hinaus bestätigte der EuGH, dass es sich beim Erfordernis des rechtmäßigen Aufenthalts um eine Diskriminierung handle, allerdings nur um eine mittelbare, die aufgrund der Wahrung der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt sei.*
Dieses Urteil wirft einige Fragen auf. Nur die wichtigste kurz aufgegriffen: Wenn der EuGH es zulässt, dass ein Rechtmäßigkeitserfordernis zu dem Wohnsitzerfordernis für Leistungen der sozialen Sicherheit nach Art 3 Abs 1 VO 883/2004 hinzutritt, riskiert er – wie schon in Brey bei Leistungen nach Art 3 Abs 3 VO 883/2004 –, dass ein negativer Rechtskonflikt, sprich gar kein Schutz in einem bestimmten Zweig der sozialen Sicherheit, entsteht.* Somit kann die VO 883/2004 ihrem Zweck und Anspruch nicht mehr gerecht werden. Wenn man es zulässt, dass dieses zusätzliche Erfordernis die rechtliche Qualität des Wohnsitzes betreffend verlangt werden darf, was kann dann Mitgliedstaaten davon abhalten, bei auf den Wohnsitz abstellenden Systemen der sozialen Sicherheit einen Wohnsitz, wenn auch bloß einen faktischen, zu verlangen, wo doch Art 11 Abs 3 lit a die Erwerbstätigkeit für den Anschluss zur sozialen Sicherheit in dem Mitgliedstaat genügen lässt?
Was die Frage dieses Beitrags nach Veränderungen im Hinblick auf Zugehörigkeiten betrifft, ist hier jedenfalls auch eine Veränderung festzustellen: Mitgliedstaaten wird erlaubt, das Kriterium der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts dem bestehenden europäischen Kriterium des Wohnsitzes hinzuzufügen. Das führt zu Möglichkeiten des Ausschlusses und somit zu einem Erschwernis, was die Zugehörigkeit zu Systemen der sozialen Sicherheit im Aufnahmemitgliedstaat betrifft. Die Schaffung von Zugehörigkeiten, etwa im Herkunftsmitgliedstaat, geht mit dieser Entscheidung nicht einher.
In diesem Beitrag bin ich der Frage nachgegangen, ob sich aufgrund der jüngeren EuGH-Rsp und politischer Debatten Zugehörigkeitskonzepte auf europäischer Ebene verändern. Dabei bin ich von der Annahme ausgegangen, dass im europäischen Sozialrecht Zugehörigkeit zu mitgliedstaatlicher sozialer Sicherheit über zwei Techniken geschaffen wird: über die Bestimmung des anwendbaren Rechts und über den Grundsatz der Gleichbehandlung.
Der Beitrag hat deutlich gezeigt, dass europäische Regelungen, die Einfluss auf Zugehörigkeit zu mitgliedstaatlicher sozialer Sicherheit ausüben, sich verändern oder im Verändern begriffen sind. Diese Veränderungen verlaufen nicht richtungsgleich. Es kam sowohl zur Ermöglichung von Einschränkungen von nationalen Zugehörigkeiten als auch zur Ausweitung von Zugehörigkeiten. Die Einschränkungen spielen sich vor dem Hintergrund der unter dem Schlagwort „Sozialtourismus“ laufenden Debatte ab. Die Ausweitungen haben ihre Ursache in der Erleichterung der AN-Freizügigkeit.
Deutlich wurde ebenso, dass diese Veränderungen zu nicht unwesentlichen Problemen führen. Allgemein lässt sich feststellen, dass Einheitlichkeit, Verständlichkeit und leichte Administration der Regeln verloren gehen:
Nicht der aufgrund der Kollisionsnormen zugewiesene Mitgliedstaat ist exklusiv für die soziale Sicherheit zuständig, auch ein anderer Mitgliedstaat kann aufgrund nationaler Anknüpfungskriterien zuständig werden, wenn die AN-Freizügigkeit dadurch erleichtert werden kann – was entsprechend von Sozialversicherungsverwaltungen zu beurteilen ist.
Der Zugang von nicht-erwerbstätigen, aber auch erwerbstätigen Unionsbürger/innen zu Sozialleistungen im Aufnahmestaat wird zunehmend in einer fragmentierten, uneinheitlichen und undeutlichen Rsp geregelt und von dieser durch Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgrundsatz oder dem Erlauben von die Kollisionsnormen einschränkenden Anspruchsvoraussetzungen auf die nationale Ebene delegiert. In eine ähnliche Richtung gehen die politischen Diskussionen, die Ausnahmen vom Gleichbehandlungsgrundsatz oder von der Regelung zur Höhe von Leistungen auf nationaler Ebene zugestehen.
Abgesehen von diesen Problemen ergibt sich bei den auf europäischer Ebene ermöglichten Einschränkungen zum Zugang zu nationalen Sozialleis tungen noch ein besonderes Problem: das Risiko, in einem402 bestimmten Zweig der sozialen Sicherheit keinem System zugehörig zu sein. Denn der ermöglichte Ausschluss in einem Mitgliedstaat bedeutet noch keine Aufnahme in das System eines anderen Mitgliedstaates. Wenn etwa der gem Koordinierungs-VO zuständige Wohnsitzmitgliedstaat aufgrund der Rsp keine Zuständigkeit für besondere beitragsunabhängige Geldleistungen wahrnehmen muss, schafft das das Problem, dass der Herkunftsmitgliedstaat oder ein anderer Mitgliedstaat durch europäische Regeln auch nicht in der Pflicht sind und daher ein negativer Rechtskonflikt entsteht.
Diese Analyse legt nahe, dass primär- und sekundärrechtliche Änderungen notwendig sind, die Abhilfe bei den oben geschilderten Problemen schaffen. ME sollten diese neuen Regelungen auf folgenden Eckpfeilern beruhen:
Für Leistungen der sozialen Sicherheit iSd Art 3 Abs 1 VO 883/2004 sollte der Grundsatz der Einheitlichkeit, dh dass ein Mitgliedstaat exklusiv für die soziale Sicherheit von wandernden Unionsbürger/innen zuständig ist, wiederhergestellt werden. Wenn etwa ein/e Wander-AN in einem anderen Mitgliedstaat eine geringfügige Beschäftigung aufnimmt, nach der er/sie nur unfallversichert ist, garantiert ihm/ihr der Gleichbehandlungsgrundsatz, dass ihm/ihr dieselbe soziale Sicherheit zuteil wird wie allen anderen geringfügig Beschäftigten dieses Aufnahmemitgliedstaates. Es ist nicht Aufgabe des Europarechts, das Beste aus beiden Welten zu garantieren und diesem/dieser AN über das Günstigkeitsprinzip auch noch Leistungen aus einem anderen Mitgliedstaat zuteil werden zu lassen. Für die Verwaltung würde die Rückkehr zum Grundsatz der Einheitlichkeit überdies eine große Erleichterung sein. Nicht umsonst hat der EuGH das in Rönfeldt* entwickelte Günstigkeitsprinzip iZm bilateralen Verträgen einige Jahre später einer zeitlichen Einschränkung unterworfen.* Nachdem der EuGH seine Entscheidungen auf Primärrecht basierte, würde hier eine Änderung des Primärrechts notwendig sein. Darüber hinaus sollte klargestellt werden, dass diese Leistungen bei Vorliegen einer Erwerbstätigkeit oder eines Wohnsitzes sowie der Erfüllung der sonstigen nationalen Anspruchsvoraussetzungen im Aufnahmemitgliedstaat gebühren und nicht mit aufenthaltsrechtlichen Erfordernissen verknüpft werden dürfen. Damit werden die unter Pkt 4.3. beschriebenen Probleme vermieden, wonach Mitgliedstaaten auch die Zuweisung durch Erwerbstätigkeit und Wohnsitz durch zusätzliche Erfordernisse umgehen können und somit negative Rechtskonflikte die Folge wären. Darüber hinaus kann bei Abs 1-Leistungen – im Gegensatz zu Abs 3- und Abs 5-Leistungen für Nicht-Erwerbstätige (siehe unten) – argumentiert werden, dass nicht das soziale Risiko der Bedürftigkeit adressiert wird und somit unerwünschte Belastungen für die sozialen Systeme des Aufnahmemitgliedstaates größtenteils vermieden werden können.
Für Leistungen der sozialen und medizinischen Fürsorge, auf die die VO 883/2004 gem Art 3 Abs 5 keine Anwendung findet, sollte für erwerbstätige Unionsbürger/innen wie bisher das Gleichbehandlungsgebot gelten. Dieses von Art 45 AEUV abgeleitete Gebot findet sich in Art 7 Abs 2 VO 492/2011 sowie Art 24 RL 2004/38.
Für Leistungen der sozialen und medizinischen Fürsorge, auf die die VO 883/2004 gem Art 3 Abs 5 keine Anwendung findet, sollten für nicht-erwerbstätige Unionsbürger/innen unionsrechtliche Kollisionsnormen eingeführt werden. Dadurch würden negative Rechtskonflikte vermieden werden. In Österreich wäre davon die Bedarfsorientierte Mindestsicherung betroffen. Aus der RL 2004/38, der Rsp des EuGH sowie der politischen Absichtserklärung zum Großbritannien-Referendum zeigt sich, dass ein abgestuftes System zur Erlangung dieser Leistungen als sinnvoll erachtet wird. Daher kann man mit steigendem Grad der Integration in den Aufnahmemitgliedstaat, ausgedrückt durch die Dauer des Aufenthalts, den Zugang zu Leistungen der sozialen und medizinischen Fürsorge im Aufnahmemitgliedstaat erhöhen. Bspw:
im ersten Jahr kein Zugang im Aufnahmemitgliedstaat;
im zweiten bis vierten Jahr ein zeitlich befristeter Zugang im Aufnahmemitgliedstaat – bspw sechs Monate Gesamtbezug in diesem Drei-Jahres-Zeitraum;
ab dem fünften Jahr Gleichbehandlung mit den eigenen Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaates und somit uneingeschränkter Zugang.
Um sicherzustellen, dass kein negativer Rechtskonflikt eintritt, sollten die Kollisionsnormen festlegen, dass für die Zeiten, in denen kein Anspruch im Aufnahmemitgliedstaat besteht, ein Anspruch im Herkunftsmitgliedstaat, dh im Mitgliedstaat, dessen Staatsbürgerschaft der/die Unionsbürger/in besitzt, gegeben ist.
Für Leistungen der sozialen Sicherheit iSd Art 3 Abs 3 VO 883/2004, das sind die sogenannten besonderen beitragsunabhängigen Geldleistungen, kann man entweder wie bisher an die 883-Koordinierung, inklusive der fehlenden Exportverpflichtung, oder an die neue Sozialhilfe-Koordinierung andocken. Bspw könnte für erwerbstätige Unionsbürger/innen und jene, denen dieser Status erhalten bleibt, das Regime der 883-Koordinierung gelten; und für nicht-erwerbstätige Unionsbürger/innen das neue Regime der Sozialhilfe-Koordinierung. Das würde die österreichische Ausgleichszulage betreffen.
Dieser Zugang würde zu einer höheren Rechtssicherheit, zu einem besseren Verständnis der Regeln für die Unionsbürger/innen und zu einer einfacheren Handhabung der Regeln in den Verwaltungen beitragen.403