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Der untaugliche Versuch, die Entziehung der Waisenpension neu zu regeln

WOLFGANGPANHÖLZL (WIEN)
OGH 28.6.2016 und 24.1.2017 10 ObS 59/16y und 10 ObS 100/16bOLG Linz 25.2.2016 und 4.5.2016 12 Rs 9/16d und 12 Rs 41/16kLG Wels 16.11.2015 und 29.2.2016 18 Cgs 195/15k und 17 Cgs 99/15k
  1. Auch nach der Novellierung des BSVG samt Parallelrecht durch das BGBl I 2014/56 sind für den Begriff der Erwerbsunfähigkeit iSd § 119 Abs 2 Z 3 BSVG, § 252 Abs 2 Z 3 ASVG und § 128 Abs 3 GSVG ausschließlich medizinische Gesichtspunkte ausschlaggebend, dies ohne Bedachtnahme darauf, ob und in welchem Umfang das Kind nicht dennoch etwa auf Kosten seiner Gesundheit oder aufgrund eines besonderen Entgegenkommens seines AG weiterhin ein Einkommen aus selbständiger oder unselbständiger Tätigkeit bezieht.

  2. Bürgerlich-rechtliche Vorschriften über die Unterhaltsberechtigung eines Kindes sind zur Auslegung des Erwerbsunfähigkeitsbegriffs nicht heranzuziehen, weil das Gesetz bewusst die Kindeseigenschaft als Voraussetzung für die Waisenpension anders regelt.

  3. Bei Verlängerung der Kindeseigenschaft durch eine Berufs- bzw Schulausbildung muss die Arbeitskraft überwiegend durch die Ausbildung in Anspruch genommen werden, nicht aber im Fall der Verlängerung der Kindeseigenschaft wegen einer Erwerbsunfähigkeit aufgrund Krankheit oder Gebrechens.

  4. Für die Annahme eines Ruhens der Waisenpension beim Zusammentreffen mit Erwerbseinkommen für die Dauer der Erwerbstätigkeit bietet das Gesetz keine Grundlage.

Der 1965 geborene Kl leidet infolge von Komplikationen bei der Geburt an einer hochgradigen, links betonten spastischen Tetraparese mit Sprachstörung. Seit 3.11.1997 ist er am allgemeinen Arbeitsmarkt in einem versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis als Angestellter (Bürokaufmann) berufstätig. Er bezieht aktuell ein monatliches Gehalt von € 3.078,– brutto für 40 Stunden. Der Kl erledigt am Computer die Dokumentation für die von seinem DG verkauften Maschinen. Den Weg zu seinem Arbeitsort legt er mit seinem PKW selbst zurück.

Mit Bescheid vom 16.7.2015 entzog die bekl Sozialversicherungsanstalt der Bauern (SVB) die dem Kl über das 18. Lebensjahr hinaus gewährte Waisenpension mit Ablauf des Kalendermonats August 2015 mit der Begründung, dass nach dem Ergebnis der ärztlichen Untersuchung eine Erwerbsunfähigkeit des Kl nicht mehr gegeben sei. Mit Bescheid vom 1.4.2015 hat bereits die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) aus demselben Grund die Waisenpension entzogen [offenbar war ein Elternteil der Vollwaise bei der PVA und der andere Elternteil bei der SVB pensionsversichert]. Der Kl wendete ein, dass die Tatsache, dass er seit November 1997 laufend Einkünfte aus einem Beschäftigungsverhältnis beziehe, nichts am Fehlen einer Erwerbschance auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ändere. Seine Beschäftigung sei nur auf ein besonderes Entgegenkommen des AG infolge nachbarschaftlicher Bekanntschaft und des Verkaufs einer Liegenschaft zurückzuführen. Am allgemeinen Arbeitsmarkt wäre er nicht in der Lage, das aktuell monatlich bezogene Einkommen zu erzielen.

Das Erstgericht vertrat die Auffassung, in Anbetracht des aufrechten Dienstverhältnisses und des erzielten Monatseinkommens liege beim Kl keine Erwerbsunfähigkeit iSd Bestimmung des § 119 Abs 2 Z 3 BSVG vor. Es entspreche dem Grundgedanken der Waisenpension, dass diese erst dann subsidiär zur Sicherung des Lebensunterhalts des Waisen herangezogen werden solle, wenn und solange dieser nicht durch den Waisen selbst gedeckt werden könne. Diese Rechtsansicht werde durch die am 1.7.2014 in Kraft getretene Novelle bekräftigt.

Das Berufungsgericht bestätigte die Rechtsansicht des Erstgerichts, dass bei Ausübung einer die Pflichtversicherung begründenden Tätigkeit die Kindeseigenschaft wegfalle. Für den Wegfall der Kindeseigenschaft komme es nicht auf eine Änderung (Besserung) des Gesundheitszustands an.

Das Berufungsgericht sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei, weil zur Auslegung der neuen Bestimmung noch keine Rsp des OGH bestehe.

Entscheidungsgründe des OGH

Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig und iSd hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt. [...]

1. [...] Nach § 119 Abs 2 Z 3 BSVG besteht die Kindeseigenschaft nach der Vollendung des 18. Lebensjahres auch dann weiter, wenn und solange das Kind seit der Vollendung des 18. Lebensjahres oder seit dem Ablauf des in Z 1 [...] genannten Zeitraums infolge Krankheit oder Gebrechens erwerbsunfähig ist (vgl dazu auch die gleichlautenden Bestimmungen des § 252 Abs 2 Z 3 ASVG und § 128 Abs 2 Z 2 GSVG). [...]

2.3 Bürgerlich-rechtliche Vorschriften über die Unterhaltsberechtigung eines Kindes sind zur Auslegung des Erwerbsunfähigkeitsbegriffs nicht heranzuziehen, weil das Gesetz bewusst die Kindeseigenschaft als Voraussetzung für die Waisenpension anders regelt (RIS-Justiz RS0085546; RS0085159). [...]

2.4 Ausschlaggebend für den Begriff der Erwerbsunfähigkeit sind ausschließlich medizinische Gesichtspunkte, dies ohne Bedachtnahme darauf, ob und in welchem Umfang das Kind nicht dennoch – etwa auf Kosten seiner Gesundheit oder mit Hilfe anderer Personen – weiterhin ein Einkommen aus selbständiger oder unselbständiger Tätigkeit bezieht (Panhölzl in SV-Komm [119. Lfg] § 252 ASVG Rz 69 mwN; 10 ObS 206/92, SSV-NF 6/102 ua; RIS-Justiz RS0085536 [...]).

2.5 Ist eine Erwerbstätigkeit demnach nur um den Preis möglich, dass dadurch der Leidenszustand negativ beeinflusst wird, oder unter der Voraussetzung, dass der DG dem Erwerbstätigen über den auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt üblichen Rahmen hinaus entgegenkommt, so liegt dennoch199Erwerbsunfähigkeit vor, wenn die Erwerbstätigkeit dem Versicherten unter Berücksichtigung seines Leidenszustands nicht zumutbar ist (Panhölzl in SV-Komm [119. Lfg] § 252 ASVG Rz 70). [...]

4.1 Am 1.7.2014 traten die durch das Bundesgesetz BGBl I 2014/56 vorgenommenen Änderungen des § 252 ASVG, § 128 GSVG und § 119 BSVG in Kraft. Dem § 119 BSVG wurde ein dritter Absatz angefügt, nach dem die Kindeseigenschaft nach § 119 Abs 2 Z 3 BSVG, die wegen Ausübung einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit weggefallen ist, mit der Beendigung dieser Erwerbstätigkeit wieder auflebt, wenn Erwerbsunfähigkeit infolge Krankheit oder Gebrechens weiterhin vorliegt. [...]

4.3 In den Gesetzesmaterialien (AB 236 BlgNR 25. GP 1) wird zu § 119 Abs 3 BSVG (und das Parallelrecht) ausgeführt. [...] Problematisch ist, dass es bei Arbeitsversuchen am offenen Arbeitsmarkt zu einem Wegfall der Angehörigeneigenschaft kommt und eine solche bei Scheitern des Arbeitsversuches – trotz aller Bemühungen – nicht wieder auflebt. [...]

4.4.3 Ficzko/Schruf, Praxiskommentar zum GSVG [15. Lfg] § 128 GSVG, weisen darauf hin, dass der mit BGBl I 2014/56 erfolgten Gesetzesänderung eine Praxis der PVA zugrunde liege, die von der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft (SVA) in dieser Form nicht ausgeübt werde. Nach Auffassung der SVA sei bei Waisenpensionen ein Wegfall wegen Aufnahme einer pflichtversicherten Erwerbstätigkeit nicht vorgesehen. Es wäre lediglich eine Entziehung möglich, wenn Erwerbsunfähigkeit nicht mehr vorliege. Damit fehle der Anwendungsbereich für diese Regelung innerhalb der SVA. Aus systematischen Gründen sei sie aber neben dem ASVG auch in die Sondergesetze aufgenommen worden.

4.4.4 Auch in Radner, BSVG3 [1. Lfg 2016] § 119 Anm 13 wird darauf hingewiesen, dass nach der Praxis der SVB von einem Ende der Kindeseigenschaft erst dann ausgegangen worden sei, wenn der Arbeitsversuch definitiv als gelungen angesehen werden konnte.

Dem von den Vorinstanzen erzielten Auslegungsergebnis, § 119 Abs 3 BSVG habe eine Änderung der Voraussetzungen der Kindeseigenschaft dahingehend bewirkt, dass diese mit der Ausübung einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit in jedem Fall – unabhängig von der Besserung des Gesundheitszustands – wegfallen, kann aus folgenden Erwägungen nicht beigetreten werden:

5.1 Wie bereits dargelegt, liegt der Gesetzesänderung offenbar eine Praxis der PVA zugrunde, wonach es bereits bei Arbeitsversuchen am offenen Arbeitsmarkt wegen der Aufnahme einer pflichtversicherten Erwerbstätigkeit zu einem Wegfall der Angehörigeneigenschaft und damit auch der Waisenpension gekommen ist und der Anspruch auf Waisenpension auch nach Scheitern des Arbeitsversuchs nicht wieder auflebte. Die vorgeschlagene Änderung soll daher nach den Ausführungen im Ausschussbericht (AB 236 BlgNR 25. GP 1) sicherstellen, dass die – nach der geschilderten Praxis der PVA – wegen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in solchen Fällen beendete Kindeseigenschaft in weiterer Folge wieder auflebt, wenn die Voraussetzungen nach § 252 Abs 2 Z 3 ASVG (samt Parallelrecht), nämlich Erwerbsunfähigkeit infolge Krankheit oder Gebrechens, weiterhin vorliegen. Für den Versicherten soll daher durch die Regelung ein Anreiz geschaffen werden, sich in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu integrieren, ohne bei Scheitern seiner Bemühungen einen Verlust des Waisenpensionsanspruchs befürchten zu müssen.

5.2 Die Annahme der Vorinstanzen, der Gesetzgeber hätte mit der Bestimmung des § 119 Abs 3 BSVG angeordnet, dass die Waisenpension bei jeglicher Aufnahme einer versicherungspflichtigen Tätigkeit entfalle, findet weder im Gesetz selbst Deckung, noch lässt sie sich aus dem Ausschussbericht und der Antragsbegründung entnehmen. Mit der Bestimmung des § 119 Abs 3 BSVG wurden die in § 119 Abs 2 Z 3 BSVG für die Gewährung der Waisenpension allgemein vorgesehenen Voraussetzungen nicht geändert. Es wurde lediglich eine Klarstellung iSd bereits von der SVA und der SVB geübten Praxis getroffen, damit das Risiko eines Pensionsentzugs im Gefolge eines (gescheiterten) Arbeitsversuchs vermieden wird. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen steht auch im Widerspruch zu den zitierten Gesetzesmaterialien, aus denen sich eindeutig der Zweck ableiten lässt, Beziehern von Waisenpensionen vermehrten Schutz zu gewähren und Härten zu beseitigen. Ausgehend von diesem Schutzzweck kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden, gleichzeitig die Ansprüche von Beziehern von Waisenpensionen wesentlich beschneiden zu wollen. Zutreffend weist der Revisionswerber weiters darauf hin, dass auch eine verfassungskonforme Interpretation gegen das von den Vorinstanzen erzielte Auslegungsergebnis spricht, weil ohne entsprechende Begründung und ohne Übergangsfrist ein schwerwiegender Eingriff in Pensionsansprüche erfolgen würde, auf deren Fortbestand deren Bezieher vertrauen durften. [...]

6.2 Zu der Ansicht des Berufungsgerichts, ein Parallelbezug einer Waisenpension neben einem – im Fall des Kl überdurchschnittlichen – Erwerbseinkommen sei auch mit dem abgeleiteten Unterhaltscharakter der Waisenpension nicht vereinbar, ist auszuführen, dass, wie bereits dargelegt, bürgerlich-rechtliche Vorschriften über die Unterhaltsberechtigung des Kindes zur Auslegung nicht heranzuziehen sind, weil das Gesetz bewusst die Kindeseigenschaft als Voraussetzung für die Waisenpension anders regelt (RIS-Justiz RS0085546). Die Bestimmung des § 119 Abs 2 Z 3 BSVG regelt die Verlängerung der Kindeseigenschaft nicht nach individuellen Bedürfnissen, sondern sehr formalisiert. Das Merkmal der Unterhaltsbedürftigkeit wird durch das Merkmal der Erwerbsunfähigkeit ersetzt (R. Müller, Richterliche Rechtsfortbildung im Leistungsrecht der Sozialversicherung,

).

7. Auch nach der Novellierung des BSVG durch das BGBl I 2014/56 sind demnach für den Begriff der Erwerbsunfähigkeit iSd § 119 Abs 2 Z 3 BSVG ausschließlich medizinische Gesichtspunkte ausschlaggebend, dies ohne Bedachtnahme darauf, ob und in welchem Umfang das Kind nicht dennoch200etwa auf Kosten seiner Gesundheit oder aufgrund eines besonderen Entgegenkommens seines AG weiterhin ein Einkommen aus selbständiger oder unselbständiger Tätigkeit bezieht. [...]

ANMERKUNG
1.
Einleitung

Eigentlich erscheint der der E zugrunde liegende Sachverhalt unspektakulär. Die SVB – und davor schon die PVA – hat anlässlich einer Nachuntersuchung im Juni 2015 festgestellt, dass der Kl nunmehr wieder ganztägig leichte Arbeiten am allgemeinen Arbeitsmarkt verrichten könne. Im Vergleich zum Zustand im Zeitpunkt der Weitergewährung der Waisenpension sei eine wesentliche Besserung eingetreten. Hätte sich das Landesgericht mit dieser Frage auseinandergesetzt, wäre dem OGH eine Zurückverweisung erspart geblieben. Denn das Ergebnis der oberstgerichtlichen Erwägungen ist nichts anderes, als dass sich das Erstgericht im zweiten Rechtsgang mit der Erörterung des Entziehungsgrundes zu beschäftigen hat. Nach der stRsp des OGH (vgl zB 5.10.1999, 10 ObS 180/99i; 16.7.1996, 10 ObS 2182/96x; 29.9.1992, 10 ObS 206/92) darf die Entziehung der Waisenpension im Fall von Erwerbsunfähigkeit nur erfolgen, wenn sich zwischen dem Zeitpunkt ihrer Zuerkennung und dem Zeitpunkt ihrer Entziehung die Verhältnisse wesentlich geändert haben, sodass keine Erwerbsunfähigkeit mehr gegeben ist. Dies kann durch eine wesentliche Besserung des Gesundheitszustands oder bei gleichbleibender Behinderung infolge von Anpassung und Gewöhnung eintreten. Die Veränderung muss sich jedoch in einem Ausmaß ereignen, dass Arbeitsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gegeben ist. Bei Gewöhnung und Anpassung an den Leidenszustand reicht der Wegfall des Entgegenkommens des konkreten DG dafür nicht aus. Denn mag auch eine jahrelange Übung der Abläufe und behutsame Integration in das soziale Umfeld eines konkreten Betriebes das besondere Entgegenkommen des DG mit der Zeit in den Hintergrund drängen, so kann es doch bei jedem neuen DG wieder erforderlich sein (OGH 5.10.1999, 10 ObS 180/99i), wenn sich nur mit diesem die unter Umständen beträchtlichen anfänglichen gesundheitsbedingten Schwierigkeiten meistern ließen.

Aus welchen Gründen immer hat sich das Erstgericht mit diesen Fragen der Besserung des Gesundheitszustandes und Gewöhnung und Anpassung nicht auseinandergesetzt, sondern den Kindheitsbegriff im Zusammenhang mit der am 1.7.2014 in Kraft getretenen Bestimmung des § 119 Abs 3 BSVG grundsätzlich neu zu definieren versucht.

Nach Auffassung des Erstgerichtes entspräche es dem Grundgedanken der Waisenpension, dass diese erst dann subsidiär zur Sicherung des Lebensunterhalts des Waisen herangezogen werden solle, wenn und solange dieser nicht durch den Waisen selbst gedeckt werden könne. Nach dem klaren Wortlaut des § 119 Abs 3 BSVG gehe der Gesetzgeber nunmehr davon aus, dass für die Dauer der Ausübung einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit der Anspruch auf Waisenpension „wegfalle“. Spätestens seit dieser Novellierung – so das Landesgericht – sei kein Platz mehr für die in Rsp und Lehre zum Teil vertretene Annahme, dass neben einem sozialversicherungspflichtigen Dienstverhältnis auch eine Waisenpension wegen Erwerbsunfähigkeit parallel bezogen werden könne. Und, so das Erstgericht weiter, sei auch die Ansicht abzulehnen, dass der Begriff der Erwerbsunfähigkeit in § 119 Abs 2 Z 3 BSVG (§ 252 Abs 2 Z 3 ASVG) ausschließlich nach medizinischen Gesichtspunkten ohne Bedachtnahme darauf zu beurteilen ist, in welchem Umfang das Kind dennoch weiterhin Einkommen aus selbständiger oder unselbständiger Tätigkeit beziehe. Mit diesen Ansichten und Argumenten ist das Erstgericht sehr forsch in eine alte Kontroverse eingestiegen.

2.
Die Kontroverse zur Kindeseigenschaft und Erwerbseinkommen

Die Unterinstanzen haben den – dank OGH – untauglichen Versuch unternommen, die stRsp des OGH zur 29. ASVG-Novelle auf den Kopf zu stellen. Mit 1.1.1973 – also vor 44 Jahren – hat der Gesetzgeber das Merkmal der Unterhaltsbedürftigkeit für die Frage der Verlängerung der Kindeseigenschaft durch leichter feststellbare Merkmale ersetzt; durch die überwiegende Inanspruchnahme der Arbeitskraft durch die Schul- oder Berufsausbildung und durch jenes der Erwerbsunfähigkeit (Müller, Richterliche Rechtsfortbildung im Leistungsrecht der Sozialversicherung,

). Mit der 29. ASVG-Novelle sollte der Verfahrensaufwand und die Verfahrensdauer verkürzt und Härtefälle vermieden werden. Andererseits wurde damit eine sehr formalisierte Regelung geschaffen, die in Einzelfällen den Bezug eines relativ hohen Erwerbseinkommens parallel zu einer Waisenpension ermöglicht; dies dann, wenn trotz überwiegender Schul- und Berufsausbildung bzw trotz Erwerbsunfähigkeit ein die Selbsterhaltungsfähigkeit gewährleistendes Einkommen erzielt wird. Beides ist kaum möglich, kommt aber trotzdem vor. Während einer Schul- und Berufsausbildung ist die Erzielung eines guten Einkommens mangels Zeit und Qualifikation eher schwierig und bei Vorliegen von völliger Erwerbsunfähigkeit ist die Erwirtschaftung eines höheren Einkommens hingegen nur mit einem besonderen Entgegenkommen des DG vorstellbar. Trotz der Seltenheit solcher Konstellationen erregt die mögliche Überversorgung, die sich hin und wieder in Einzelfällen manifestiert, seit Jahrzehnten die Gemüter in Literatur (Panhölzl, Schließt eine Vollzeitbeschäftigung den Bezug einer Waisenpension aus?ZAS 2017/15; Standeker, Verlängerte Kindeseigenschaft und Waisenpension, ZAS 2001, 129; Müller, ; M. Binder in seiner EAnm in ZAS 1989/10, 63; Harrer, ; Ivansits in seiner EAnm in ; Migsch, ZAS 1979, 69) und Rsp.

Nach der stRsp des OGH spielt die Höhe des neben einer Waisenpension erzielten Einkommens201keine Rolle, wenn die Tatbestandmerkmale erfüllt sind. Wobei die im gegenständlichen Fall erzielten € 3.000,– wohl eine besondere Ausnahme darstellen. Wie eine Übersicht zu den neben einer Schul- und Berufsausbildung erzielten Einkommen zeigt, bewegt sich der Zuverdienst in den vom OGH behandelten Fällen in einer Größenordnung des 1,7-fachen des Ausgleichszulagenrichtsatzes für Alleinstehende. Die aktuelle Praxis der PV orientiert sich am 1,5-fachen des Ausgleichszulagenrichtsatzes. Überschreitet das Erwerbseinkommen einer Waise diese Grenze, wird eine Nachuntersuchung veranlasst. Die Höhe des Einkommens wird als Indiz für die Erwerbsfähigkeit gewertet. Im hier behandelten Fall beträgt der Zuverdienst das 3,4-fache des Ausgleichszulagen-Einzelrichtsatzes (vgl Panhölzl, ZAS 2017/15). Umso erfrischender ist die Klarheit, mit der sich der OGH selbst in diesem Fall gegen die Berücksichtigung des Einkommens ausspricht. Man darf auch nicht vergessen, dass aufgrund der systematisch geringen Höhe der Waisenpension mit ihr allein der Lebensunterhalt nicht bestritten werden könnte und ein zusätzliches Einkommen und/oder eine zusätzliche Transferleistung unabdingbar sind (vgl Panhölzl, ZAS 2017/15).

Ohne Zweifel mutet es doch problematisch an, wenn – wie im Sachverhalt der gegenständlichen E beschrieben – eine erwerbsunfähige Waise seit 20 Jahren vollzeiterwerbstätig ist, € 3.000,– brutto verdient und mit dem Auto selbstständig zur Arbeit fährt. Aber, wenn sich der Gesetzgeber aus den genannten Gründen für diese formalisierte Regelung entschieden hat, ist dies hinzunehmen, bzw liegt es an ihm, eine Anpassung – zB durch Ruhensbestimmungen – vorzunehmen. Die mit 1.7.2014 in Kraft getretene Novelle stellt jedoch nicht wie vom Erstgericht und vom OLG interpretiert ein Abgehen des Gesetzgebers von der 29. ASVG-Novelle dar. Die Gründe, die dagegen sprechen, hat der OGH deutlich dargelegt. Aber was wollte der Gesetzgeber mit der Neuregelung des Arbeitsversuches eigentlich erreichen?

3.
Warum die Neuregelung des Arbeitsversuches von erwerbsunfähigen Waisen missglückt ist

Der OGH erörtert sehr breit, dass die Neuregelung der Arbeitsversuche durch den Gesetzgeber einer Praxis der PVA geschuldet sei. Nämlich die Waisenpension immer schon dann zu entziehen, wenn eine Erwerbstätigkeit aufgenommen, also ein Arbeitsversuch gemacht wurde. Selbst bei Scheitern des Arbeitsversuches und Fortbestehen der Arbeitsunfähigkeit wurde die Waisenpension offenbar nicht wieder gewährt. Um nun – auch für die PVA – klarzustellen, dass die Waisenpension nach einem gescheiterten Arbeitsversuch wieder auflebt, sei die Novellierung erfolgt.

Bei näherer Betrachtung ist unschwer zu erkennen, dass die Praxis der PVA gesetzwidrig war und nach dieser OGH-E weiterhin ist. Die bloße Ausübung einer Erwerbstätigkeit kann rechtens nicht zum Wegfall der Kindeseigenschaft führen. Darauf weisen auch Ficzko/Schruf (Praxiskommentar zum GSVG [15. Lfg] § 128 GSVG) hin, wenn sie festhalten, dass im Bereich des GSVG der Anwendungsbereich für diese Bestimmung fehle, weil die der Gesetzesänderung zugrunde liegende Praxis der PVA von der SVA nicht ausgeübt werde. Nach Auffassung der SVA sei bei Waisenpensionen ein Wegfall wegen Aufnahme einer pflichtversicherten Erwerbstätigkeit nicht vorgesehen. Es wäre lediglich eine Entziehung möglich, wenn Erwerbsunfähigkeit nicht mehr vorliege.

Der Anwendungsbereich für die neue Bestimmung fehlt selbstverständlich nicht nur im GSVG, sondern auch im ASVG und BSVG. Denn bei weiter vorliegender Erwerbsunfähigkeit darf die Waisenpension erst gar nicht entzogen werden und braucht daher auch nicht aufzuleben, wenn ein Arbeitsversuch scheitert. Sie ist schlicht und einfach weiter zu gewähren.

3.1.
Versuch, den Inhalt der Neuregelung auszuloten

Am 1.7.2014 traten die durch das Bundesgesetz BGBl I 2014/56 vorgenommenen Änderungen des § 252 ASVG, § 128 GSVG und § 119 BSVG in Kraft. Demnach soll die Kindeseigenschaft, die wegen Ausübung einer die Pflichtversicherung begründenden Erwerbstätigkeit weggefallen ist, mit der Beendigung dieser Erwerbstätigkeit wieder aufleben, wenn Erwerbsunfähigkeit infolge Krankheit oder Gebrechens weiterhin vorliegt.

Andererseits regelt § 252 Abs 2 Z 3, dass die Kindeseigenschaft auch nach der Vollendung des 18. Lebensjahres besteht, wenn und solange das Kind [...] erwerbsunfähig ist.

In den Gesetzesmaterialien (AB 236 BlgNR 25. GP 1) wird zu § 119 Abs 3 BSVG (und das Parallelrecht) ausgeführt: „[...] Problematisch ist, dass es bei Arbeitsversuchen am offenen Arbeitsmarkt zu einem Wegfall der Angehörigeneigenschaft kommt und eine solche bei Scheitern des Arbeitsversuches – trotz aller Bemühungen – nicht wieder auflebt. [...] Die vorgeschlagene Änderung soll sicherstellen, dass die wegen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit in solchen Fällen beendete Kindeseigenschaft in weiterer Folge wieder auflebt, wenn die Voraussetzungen nach § 252 Abs 2 Z 3 ASVG samt Parallelrecht, nämlich Erwerbsunfähigkeit infolge Krankheit oder Gebrechens, weiterhin vorliegen. [...] Die vorgeschlagene Regelung entspricht der Verwaltungspraxis der Pensionsversicherungsträger.“

Der OGH hat zu Recht festgehalten, dass die Annahme der Vorinstanzen, der Gesetzgeber hätte angeordnet, dass die Waisenpension bei jeglicher Aufnahme einer versicherungspflichtigen Tätigkeit entfalle, weder im Gesetz selbst Deckung findet, noch sich aus dem Ausschussbericht und der Antragsbegründung entnehmen lässt. Mit der Novelle wurden auch die allgemein vorgesehenen Voraussetzungen zur Gewährung einer Waisenpension nicht geändert.

Der OGH hat weiters ausgeführt, es sei lediglich eine Klarstellung iSd bereits von der SVA und der SVB geübten Praxis getroffen worden, damit das202Risiko eines Pensionsentzugs im Gefolge eines (gescheiterten) Arbeitsversuchs vermieden werde.

Dieses Argument des OGH erscheint nicht wirklich schlüssig. Denn worin besteht denn nun die unterschiedliche Praxis der Pensionsversicherungsträger? Die PVA entzieht offenbar die Waisenpension immer schon dann, wenn eine pflichtversicherte Erwerbstätigkeit aufgenommen wird, ohne zu prüfen oder unabhängig davon, ob die Erwerbsunfähigkeit weiterhin vorliegt oder nicht. Die Tatsache der Ausübung der Erwerbstätigkeit reicht als Entziehungsgrund aus. Diese in der E geschilderte Praxis war – und ist – gesetzwidrig. Die beschriebene Praxis der SVA hingegen ist rechtskonform, die SVA entzieht die Waisenpension nur dann, wenn Erwerbsfähigkeit vorliegt.

Nun muss man sich fragen, welche Klarstellung mit der Novelle erreicht wurde. Jedenfalls nicht – wie der OGH vermeint – jene iSd Praxis der SVA. Denn entsprechend der vermeintlichen „Klarstellung“ lebt die Waisenpension erst mit Beendigung der Tätigkeit wieder auf, wenn Erwerbsunfähigkeit weiterhin vorliegt. Entsprechend der Praxis der SVA fällt sie in diesem Fall erst gar nicht weg.

Diese Interpretation führt zwangsläufig dazu, dass die neuen Bestimmungen keinen sinnvollen bzw verfassungskonformen Anwendungsbereich haben. § 252 Abs 3 ASVG, § 119 GSVG und § 129 BSVG sollten vom Gesetzgeber aufgehoben und durch eine tatsächliche Klarstellung ersetzt werden.

3.2.
Versuch einer rechtskonformen Interpretation

Denkmöglich wäre auch eine andere Interpretation. Diese setzt jedoch voraus, dass die Entziehung der Waisenpension auch gemäß der Praxis der PVA rechtskonform nur dann erfolgte und erfolgt, wenn im Zeitpunkt der Entziehung tatsächlich Erwerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt vorlag. Eigentlich muss man von einer derartigen rechtskonformen Praxis der PVA auch ausgehen, denn ansonsten würde man dem Träger ja eine systematisch rechtwidrige oder zumindest eine der ständigen OGH-Judikatur wiedersprechende Vollziehung und Interpretation des Tatbestandsmerkmales „erwerbsunfähig“ in § 252 Abs 2 Z 3 ASVG unterstellen.

Demzufolge könnte die Neuregelung dahingehend interpretiert werden, dass eine rechtskonform weggefallene Waisenpension wiederauflebt, wenn die Erwerbstätigkeit aufgegeben wird und weiterhin (über das Ende der Erwerbstätigkeit hinaus) Erwerbsunfähigkeit vorliegt. Also wenn ein Arbeitsversuch deshalb scheitert, weil nach einer unbestimmten Zeit der Erwerbstätigkeit die tatsächlich weggefallende Erwerbsunfähigkeit wieder eintritt oder wiederauflebt. Die Schwäche dieser Interpretation besteht wohl in der teleologisch extensiven Interpretation des Tatbestandsmerkmals „weiterhin vorliegt“ iS von „wieder vorliegt“. Aber auch wenn man dieser Interpretation folgt, ist der Gesetzgeber zur Klarstellung gefordert. Denn diesfalls wäre der Gesetzgeber vom Paradigma abgewichen, dass eine wegen Erlangung der Erwerbsfähigkeit weggefallene Kindeseigenschaft nicht mehr aufleben kann. War im Zeitpunkt des Eintritts der Erwerbsunfähigkeit die Kindeseigenschaft nicht mehr gegeben, so kann sie nicht wieder aufleben (OGH 25.7.2000, 10 ObS 209/00h, ua).

4.
Auswirkungen der Entscheidung

Nachdem die Regelungen ohne Übergangsrecht in Kraft gesetzt wurden, können sie auch für all jene weiterhin erwerbsunfähigen Waisen von Relevanz sein, bei denen die Waisenpension in der Vergangenheit wegen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit aufgrund der Praxis der PVA weggefallen ist. Gemäß der Interpretation des OGH sollte die Kindeseigenschaft bei weiterem Vorliegen der Erwerbsunfähigkeit jedoch nicht erst mit Beendigung der Tätigkeit wiederaufleben, sondern rückwirkend bis zum Wegfall der Waisenpension. Dies wäre auch auf Basis von § 101 ASVG – Rückwirkende Herstellung des gesetzlichen Zustandes – möglich.

5.
Resümee

Der OGH stellt mit der E klar, dass es sich bei § 119 Abs 3 BSVG und Parallelbestimmungen nicht – wie vom Erstgericht und OLG vermeint – um Wegfallsbestimmungen handelt. Es gelingt dem OGH jedoch nicht, den in Frage stehenden Bestimmungen einen sinnvollen Anwendungsbereich zuzuordnen. Das liegt jedoch nicht an ihm, sondern am Gesetzgeber. Davon abgesehen ist die Argumentation des OGH in seiner systematischen Schlüssigkeit vorbildlich und das Ergebnis entspricht der seit der 29. ASVG-Novelle geltenden Rechtslage.

Der Gesetzgeber sollte die E jedenfalls zum Anlass nehmen, eine tatsächliche Klarstellung dahingehend herbeizuführen, dass eine Waisenpension wegen Erwerbsunfähigkeit nur bei Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit für den allgemeinen Arbeitsmarkt entzogen werden kann. Die Klarstellung könnte auch dahingehend erfolgen, dass eine wegen Erlangung der Arbeitsfähigkeit tatsächlich weggefallene Kindeseigenschaft wiederauflebt, wenn die Erwerbsunfähigkeit wieder eintritt, sei es aufgrund der Belastungen eines Arbeitsversuches oder aus anderen Gründen.

Mit der 29. ASVG-Novelle wurde 1973 für die Verlängerung der Kindeseigenschaft die Orientierung am Unterhaltsrecht und an der Selbsterhaltungsfähigkeit aufgegeben. Damit sollte das Einkommen weder direkt noch indirekt in die Beurteilung der „Erwerbsfähigkeit“ oder der „überwiegenden Inanspruchnahme der Arbeitskraft“ einbezogen werden (dass die Pensionsversicherungsträger die Höhe des Einkommens als Indiz für eine Überprüfung heranziehen, ist nicht zu beanstanden). Es wäre zu wünschen, dass dieser Paradigmenwechsel nach nunmehr 44 Jahren endlich allgemein akzeptiert wird. Um etwaige Überversorgungen zu vermeiden, sollte der Gesetzgeber auch über Ruhensbestimmungen nachdenken, aber nicht nur für Waisenpensionen, sondern für alle Pensionsformen.203