GiesenArbeitsunfall und Dienstunfall – Zur Reichweite des Unfallschutzes von Arbeitnehmern und Beamten nach § 8 SGB VII und § 31 BeamtVG

Duncker & Humblot Verlag, Berlin 2017 242 Seiten, kartoniert, € 79,90

RUDOLFMÜLLER (WIEN/SALZBURG)

Die UV in Deutschland hat ein Problem, das sie in Österreich – jedenfalls in diesem Ausmaß – nicht hat: Während die UV in der gesetzlichen SV von den Sozialgerichten, an der Spitze das BSG, judiziert wird, unterliegt das deutsche Beamtenversicherungsgesetz dem Rechtszug in der Verwaltungsgerichtsbarkeit – oberste Instanz: Bundesverwaltungsgericht. Die Arbeit Giesens, eine Freiburger Dissertation, beschäftigt sich mit der Frage von Rechtsprechungsdivergenzen zwischen den beiden Höchstgerichten beim Begriff des Arbeitsunfalls bzw jenem des Dienstunfalls, die trotz weitgehender Übereinstimmung im Wording des § 8 Abs 1 SGB VII einerseits bzw des § 31 Abs 1 BeamtenVG andererseits auftreten.

Da in Österreich die UV des öffentlichen Dienstes zwar auch in einem „Parallelgesetz“ zum ASVG, dem B-KUVG, geregelt ist, aber gemeinsam mit jener im Rahmen der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit judiziert wird (wobei der Instanzenzug in ein und denselben 10. Senat des OGH mündet), haben wir in diesem Bereich eine sehr einheitliche Rsp zu Arbeitsunfall und Dienstunfall. Judikaturdivergenzen können nur insoweit entstehen, als im Rahmen der Dienstrechtskompetenz der Länder Unfallfürsorgeanstalten eingerichtet sind, wie zB jene für LandeslehrerInnen, sowie Gemeinde- und Landesbedienstete in179Oberösterreich und in Tirol, oder das Unfallfürsorgegesetz für Gemeindebedienstete in Wien (vgl die Ausnahmeregelung des § 2 Abs 1 Z 2 B-KUVG). Die derzeit gravierendste besteht zum Wegunfall: Während der OGH den Wegschutz gem § 175 Abs 2 Z 1 ASVG auf dem Arbeitsweg unabhängig davon, ob zur Miete, im Miteigentum oder im Wohnungseigentum oder ob im Wohnbau oder im Einfamilienhaus gewohnt wird, konsequent an der Außenfront des Wohngebäudes entstehen bzw enden lässt, hat der VwGH im Fall einer Mietwohnung das Bestehen eines Wegschutzes nach § 90 Abs 2 Z 1 B-KUVG (der für den dienstrechtlichen Unfallversicherungsschutz von Grazer GemeindebeamtInnen sinngemäß anzuwenden ist) auch für einen Unfall im Stiegenhaus bejaht (vgl VwGH 2008/VwSlg 17.588A sowie dies ausdrücklich ablehnend OGH10 ObS 176/12ySSV-NF 27/5 = SZ 2013/13).

Das vorliegende Buch sollte für JuristInnen auf dem Gebiet des Arbeits- und Sozialrechts von Interesse sein, weil es einen guten Überblick über den aktuellen Stand der deutschen Rsp zum Arbeitsunfall gibt, an der sich die österreichische Lehre schon seit den frühesten grundlegenden Arbeiten Tomandls 1975 und 1977, und die österreichische Rsp seit Schaffung des Rechtszuges an den OGH mit 1.1.1987 zu orientieren pflegt.

Giesen erarbeitet zunächst die Unterschiede in der Rsp des BSG und des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) anhand der Dogmatik des Grundtatbestandes (also der Zurechnung der zum Unfall führenden Tätigkeit zum Versicherungstatbestand) und ihrer Auswirkungen auf den Unfallschutz am Arbeitsplatz bei verpflichtungsfremden Tätigkeiten, auf die Beurteilung gemischter Tätigkeiten und auf den Unfallschutz außerhalb des engeren betrieblichen Bereiches. Näher analysiert Giesen sodann die Rsp zum Begriff des Unfallereignisses (vor allem des – anders als in Österreich – in den deutschen Rechtsvorschriften ausdrücklich enthaltenen Merkmals einer „Einwirkung von außen“, aber auch der zeitlichen Limitierung im Allgemeinen mit einer Arbeitsschicht, mit der die Rsp den Unfallbegriff vom Krankheitsbegriff abgrenzt) und zu Kausalitätsfragen. Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen zur sogenannten „selbstgeschaffenen Gefahr“ (96): ME zutreffend weist der Autor darauf hin, dass die Höhe der Gefahr kein Kriterium für die Leistungsbegrenzung der UV darstellt, wohl aber dann, wenn die Gefahr ihren Ausgangspunkt im eigenwirtschaftlichen (also privaten) Interesse der versicherten Person genommen hat. Auch das BSG scheint das in seiner Rsp so zu sehen. Was die Zurechnung des eingetretenen Körperschadens zum Unfallereignis in Fällen kumulativer oder alternativer Kausalität betrifft, so erfolgt sie in beiden deutschen Gerichtszweigen nach dem Grundsatz der wesentlichen Bedingung, wobei das BVerwG zumindest eine Gleichwertigkeit der Ursachen verlangt, während des BSG – wie auch der OGH – bis zur Grenze der Gelegenheitsursache geht und den Kausalzusammenhang bei medizinischen Vorschäden nur dann verneint, wenn der Gesundheitsschaden auch bei alltäglichen Verrichtungen jederzeit hätte eintreten können (99 ff).

Beim Wegunfall zeigen sich Divergenzen in der Beurteilung der sogenannten „Haustürunfälle“, bei denen die Sozialgerichte eher großzügig den Unfallversicherungsschutz erst mit dem „vollständigen“ Durchqueren der Eingangstüre zum Haus enden lassen, während die Verwaltungsgerichtsbarkeit dazu neigt, „Haustürunfälle“ unabhängig vom genauen Ausmaß des Durchschreitens generell eher dem privaten Bereich zuzurechnen, was sicherlich Vorteile unter Gerechtigkeitsgesichtspunkten bringt: Das BVerwG vermeidet damit die vom Laienhorizont als eher absurd empfundenen, feinziselierten Abgrenzungen und vermeidet Wertungswidersprüche bei Sachverhalten, die noch dazu bis zu einem gewissen Grad von kundig Vertretenen auch im Verfahren noch zu einem gewünschten Ergebnis zurecht getrimmt werden können. Ähnliches zeigt sich bei den „Garagenunfällen“: BSG (wie auch bei uns der OGH) differenzieren danach, ob die Garage eine direkte Verbindung zum Haus aufweist (dann endet der Wegschutz an der Außenfront) oder vom Haus getrennt besteht (dann besteht in der Garage und von dort bis zum Wohnhaus Wegschutz). Im Gegensatz dazu ordnet das dt. BVerwG Unfälle in einer Garage, gleichgültig, ob angebaut oder nicht, immer dem privaten Lebensbereich zu (120 f). Eine Auslegung, die iSd obigen Ausführungen durchaus zu bevorzugen wäre. Abwege, Umwege und geringfügige Wegunterbrechungen werden im Wesentlichen so judiziert wie wir das auch kennen, auch die zeitliche Zweistundengrenze für den Wegantritt oder für Wegunterbrechungen gilt in der Rsp da wie dort (129).

Nach der Bestandsaufnahme diskutiert der Autor die vorgefundenen Divergenzen, wobei seine Sympathien eher der großzügigen Rsp des BSG zuneigen, vor allem auch in den Haustür- und Garagenfällen. Die von den beiden Höchstgerichten bemühten „grundlegenden Unterschiede“ zwischen Beamtenunfallfürsorge und UV in der gesetzlichen SV diagnostiziert der Autor als eher „vage“ und nicht unterscheidungskräftig. Sein Befund (166 ff) erinnert den Rezensenten stark an die formelhafte Begründungslinie des VfGH über die „tiefgreifenden Unterschiede zwischen Dienstrecht und Sozialversicherungsrecht“, mit denen durch Jahrzehnte in bisher nicht immer einleuchtender Weise Unterschiede zwischen diesen Rechtsgebieten für unvergleichbar gehalten wurden, wobei diese Formel angesichts der weitgehenden Anpassungen im Pensionsrecht des Bundes in der jüngsten Rsp immerhin mit der Einschränkung „noch“ versehen wird.

Giesen erinnert in diesem Zusammenhang an die identen historischen Wurzeln des Unfallversicherungsschutzes und an den – wie er meint – einheitlichen Schutzzweck der Normen und hält die „strukturellen Unterschiede“ zwischen den Rechtsgebieten in diesem Zusammenhang als für die unterschiedliche Rsp in den von ihm erwähnten Punkten nicht tragfähig. Davon ausgehend entwickelt der Autor abschließend „Leitlinien“ für eine mögliche Harmonisierung der Rsp, wobei er im Ergebnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit eine Orientierung an der (eher großzügigeren) Rsp der Sozialgerichte empfiehlt, eine Empfehlung, die für ein gut ausgeprägtes sozialpolitisches Bewusstsein des jungen Autors spricht, der ich aber gerade unter Wertungsgesichtspunkten dort nicht beitreten würde, wo die Großzügigkeit in einem Fall dazu führt, dass im ähnlichen anderen Fall die abweichende Lösung zu einer schwer verständlichen Benachteiligung wird.

Ein vom Preis her nicht gerade wohlfeiles, aber gehaltvolles, gut lesbares Werk, welches das erfreulich hohe Niveau Freiburger Dissertationen belegt und jedem an der UV, aber auch an der Harmonisierung verwandter Rechtsgebiete schlechthin methodisch interessiertem Juristen zur Lektüre empfohlen werden kann.180