Änderungen im Recht der Gleitzeit durch die Arbeitszeitrechtsnovelle 2018

CHRISTOPHKLEIN (WIEN)
Die Arbeitszeitrechtsnovelle 2018, die ohne Begutachtungsverfahren und Sozialpartnerverhandlungen entstand, stellt die Praxis vor eine Fülle an komplexen Auslegungsproblemen. Besonders dicht gesät sind die Fragen im Recht der Gleitzeit. Bevor nachstehender Beitrag vier dieser Problemstellungen abhandelt, stellt er gleichsam als Service für unsere LeserInnen die gesetzliche Regelung der Gleitzeit – unter Hervorhebung der Neuerungen – im Überblick dar.
  1. Einleitung

  2. Kurze Darstellung der Rechtslage zur Gleitzeit

  3. Frage 1: Eine bestehende Gleitzeitvereinbarung benennt keine Obergrenzen der täglichen und/oder wöchentlichen Arbeitszeit und gewährt den Konsum von Gleittagen im erforderlichen Ausmaß. Ist unter diesen Umständen die Nutzung der neuen Obergrenzen ohne entsprechende Adaptierung der Gleitzeitvereinbarung zulässig?

  4. Frage 2: Ein KollV erlaubt explizit eine tägliche Normalarbeitszeit von bis zu zehn Stunden. Kann eine Gleitzeitvereinbarung demgegenüber dennoch auch bis zu zwölf Stunden zulassen?

  5. Frage 3: Wann gilt die Bedingung der Gleittage – als Voraussetzung für das erweiterte Modell mit zwölfstündiger täglicher Normalarbeitszeit – als erfüllt?

  6. Frage 4: Wie ist § 4b Abs 5 AZG auszulegen, wonach angeordnete Arbeitsstunden „die über die Normalarbeitszeit gem § 3 Abs 1 hinausgehen“, als Überstunden gelten?

1.
Einleitung

Dieser Abhandlung liegt ein Vortrag auf der 54. Tagung der Gesellschaft für Arbeitsrecht und Sozialrecht am 11. April 2019 in Zell am See zugrunde, der mit dem umfassenden Titel „Aktuelle Entwicklungen im Arbeitszeitrecht“ beauftragt worden war. Wortwörtlich verstanden könnte unter diesem Titel mühelos eine universitäre Lehrveranstaltung über ein ganzes Semester mit ausreichend Stoff befüllt werden, sodass eine inhaltliche Beschränkung zwingend geboten war. Aber auch die aktuell natürlich naheliegende Einschränkung auf eine Überschrift etwa des Wortlauts „Rechtsprobleme der Arbeitszeitrechtsnovelle 2018“ hätte bei der vorgegebenen zeitlichen Beschränkung des Vortrages nur ein Anreißen der zahlreichen mit dieser Novelle* verbundenen Probleme ermöglicht. Dass gerade diese Novelle den Interpreten mit einer besonderen Fülle und Komplexität an nach Auslegung verlangenden Fragen konfrontiert, hängt mit ihrer für einen so kräftigen Eingriff in das Arbeitszeitrecht* – an bisherigen österreichischen Usancen gemessen – ungewöhnlichen Entstehungsgeschichte zusammen: Sie kam ohne die üblichen Gesprächsrunden zwischen BeamtInnen des zuständigen Ministeriums und ExpertInnen der Sozialpartnerorganisationen und ohne Begutachtungsverfahren im Wege eines Initiativantrags* zustande. Damit entfielen einmal zwei wichtige Elemente der Sicherung rechtstechnischer Qualität und Praxisnähe. Weitere legistische Turbulenzen brachte ein hastig erstellter Abänderungsantrag,* der die Antwort der Koalitionsparteien auf die heftige politisch-mediale Debatte und die Proteste rund um und gegen den Initiativantrag* darstellte, die in einer Demonstration in Wien mit 100.000 TeilnehmerInnen kulminierten. Der Abänderungsantrag brachte deutliche und in ihrer normativen Wirkung nicht vollständig durchdachte Änderungen, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird.

Angesichts dessen war also eine thematische Beschränkung meines Kurzvortrages auf einen183 wohl abgegrenzten Themenkomplex angeraten. Weil die Dichte an Rechtsproblemen im Zusammenhang mit der Gleitzeit besonders hoch ist, sollen im Folgenden vier konkrete Fragen zu dieser abgehandelt werden.

2.
Kurze Darstellung der Rechtslage zur Gleitzeit

Damit die nachfolgende Behandlung der Fragen möglichst zugänglich und verständlich ist, soll vorweg noch die Gleitzeit an sich – unter Hervorhebung der Neuerungen durch die Arbeitszeitrechtsnovelle 2018 – dargestellt werden.

Gleitzeit ist eine Form durchgerechneter Normalarbeitszeit. In all diesen Formen geht es darum, dass Überschreitungen des Regelausmaßes der Normalarbeitszeit von acht Stunden am Tag bzw 40 Stunden in der Woche* im Verhältnis 1 : 1 durch entsprechende Unterschreitungen ausgeglichen werden, sodass über einen bestimmten Zeitraum hinweg (den Durchrechnungszeitraum, bei Gleitzeit „Gleitzeitperiode“ genannt) im Durchschnitt die 40-stündige wöchentliche Normalarbeitszeit geleistet wird. Dieser Ausgleich von „Wellenbergen“ durch „Wellentäler“ im Verhältnis 1 : 1 bewirkt also insb, dass die „Wellenberge“ nicht als Überstundenarbeit gem § 6 Abs 1 Arbeitszeitgesetz (AZG) gelten, die zwingend mit einem Zuschlag von 50 % in Form von Geld oder bezahltem Zeitausgleich abzugelten wäre.

Eine systematische Analyse der entsprechenden Bestimmungen des AZG ergibt, dass sich alle Modelle durchrechenbarer Normalarbeitszeit iS besserer Übersichtlichkeit und bestmöglicher praktischer Handhabbarkeit anhand von nur vier Parametern darstellen lassen.* Diesem System folgend lässt sich auch die Gleitzeit gut erfassen:

Parameter 1: Obergrenze der täglichen Normalarbeitszeit

Bis zu dieser Grenze kann die tägliche Normalarbeitszeit ausgedehnt werden; bei – vom AG entgegengenommenen – darüber liegenden Arbeitszeiten liegt jedenfalls Überstundenarbeit vor. Die Arbeitszeitrechtsnovelle 2018 hat eine Teilung dieses Parameters in zwei Varianten gebracht: Im Basismodell beträgt die Grenze wie bisher zehn Stunden täglich;* im neuen erweiterten Modell zwölf Stunden.* Voraussetzung für letzteres ist der Anspruch des AN auf „Gleittage“, wie sogleich bei Parameter 3 näher beschrieben.

Parameter 2: Obergrenze der wöchentlichen Normalarbeitszeit

Bis zu dieser Grenze kann die Normalarbeitszeit in der Kalenderwoche ausgedehnt werden; bei Überschreitungen handelt es sich wieder um Überstundenarbeit.

Während bisher die Grenze bei 50 Stunden gezogen wurde, gilt seit 1.9.2018 in beiden Modellen eine Höchstmenge von 60 Normalarbeitsstunden.* Wie im erweiterten Modell dieser Wert erreicht werden kann, ist leicht ersichtlich: Werden die zwölf Stunden an fünf Tagen in der Woche ausgeschöpft, ergibt das 60 Stunden. Im Basismodell ist das nur möglich, wenn dem gleitenden AN sechs Tage wöchentlich zur Positionierung seiner Arbeitszeit zur Verfügung stehen (6 x 10 Stunden = 60 Stunden). Die volle Ausschöpfung kann dabei freilich in Konflikt mit den Bestimmungen des Arbeitsruhegesetzes, insb über den Beginn der Wochenendruhe,* geraten.

Parameter 3: Nicht-rechnerische Bedingungen des jeweiligen flexiblen Arbeitszeitmodells

Werden diese Bedingungen nicht eingehalten, fehlt es an einer oder mehreren gesetzlichen Voraussetzungen der durchrechenbaren Normalarbeitszeit – mit der Rechtsfolge, dass die standardmäßigen Werte acht Stunden tägliche Normalarbeitszeit und 40 Stunden wöchentliche Normalarbeitszeit an die Stelle der in Parameter 1 und 2 genannten Werte treten. Bei Gleitzeit sind zwei, nicht von vornherein in Zahlen fixierte Bedingungen zu beachten.

1. Gleiten: Die Schwankungen der durchgerechneten Normalarbeitszeit müssen im Wesentlichen der Autonomie des AN entspringen. Er muss „Beginn und Ende seiner täglichen Normalarbeitszeit selbst bestimmen“* können. Die Rücksichtnahme auf gewisse betriebliche Rahmenbedingungen – etwa die Anweisung, dass mehrere AN in Absprache untereinander die Erreichbarkeit für KundInnen in den üblichen Büroöffnungszeiten sicherstellen – ist, solange dem AN – wie in der soeben beschriebenen Abstimmung mit anderen – ein echter Gestaltungsspielraum über die Lage seiner Arbeitszeit bleibt, kein Hindernis für die Zulässigkeit des betreffenden Gleitzeitmodells.* Die gängigste derartige betriebliche Rahmenbedingung, die gemäß vielen Gleitzeitvereinbarungen von den gleitenden AN zu beachten ist, ist eine sogenannte Kern- oder Blockzeit; das ist eine in der Gleitzeitvereinbarung festgelegte Zeitspanne pro Arbeitstag, innerhalb derer die AN (zu Kommunikations- und Kooperationszwecken) jedenfalls zu arbeiten haben.*

2. Formell muss das Gleitzeitmodell in Betrieben mit BR durch BV, in betriebsratslosen Betrieben durch schriftliche Einzelvereinbarungen vereinbart werden. Die Vereinbarungen müssen, um gültige Grundlage des Durchrechnungsmodells zu sein, zwingend bestimmte Inhalte aufweisen:*

  • Es ist ein Gleitrahmen zu fixieren, innerhalb dessen die Normalarbeitszeit zu liegen hat. Außer-184halb dieses Rahmens befindliche Arbeitszeiten sind per definitionem Überstundenarbeit.

  • Eine fiktive Normalarbeitszeit hat gleichsam eine Lage der Normalarbeitszeit zu definieren, die ohne Gleitmöglichkeit – also bei starrer Normalarbeitszeit – gelten würde (zB Montag bis Freitag 8:00 bis 16:30 Uhr, jeweils einschließlich einer halbstündigen Mittagspause). Die fiktive Normalarbeitszeit dient der Abgrenzung zwischen entgeltpflichtiger Dienstverhinderung und Freizeit. Erstreckt sich etwa eine entgeltfortzahlungspflichtige Dienstverhinderung von 7:00 bis 9:00 Uhr (zB eine vorgeschriebene ärztliche Untersuchung), so gilt bei der soeben beispielhaft angegebenen fiktiven Normalarbeitszeit die Stunde von 7:00 bis 8:00 Uhr als Freizeit des AN, die Stunde von 8:00 bis 9:00 Uhr als auf die Arbeitszeit anzurechnende Dienstverhinderung.

  • Gleittage: Neu ist, dass als Zulassungsvoraussetzung für das erweiterte Modell die Gleitzeitvereinbarung vorsehen muss, dass „ein Zeitguthaben ganztägig verbraucht werden kann“.*

  • Schließlich muss die Gleitzeitperiode einschließlich allfälliger Übertragungsmöglichkeiten eines Zeitsaldos in die jeweils nächste Periode fixiert werden (dazu siehe sogleich unter Parameter 4).

Auch hier gilt: Liegt keine gültige Gleitzeitvereinbarung mit den vorgeschriebenen Inhalten vor, ist eine Parameter 3-Bedingung verletzt, wodurch eine Durchrechnung der Normalarbeitszeit der rechtlichen Grundlage entbehrt. Damit sind Überschreitungen des Acht-Stunden-Tages bzw der 40-Stunden-Woche wieder als Überstunden zu behandeln.

Parameter 4: Länge der Gleitzeitperiode unter Beachtung allfälliger Übertragungsmöglichkeiten

Die Gleitzeitperiode kann grundsätzlich in beliebiger Dauer vereinbart werden.*) Arbeitszeiten, durch die am Ende der Periode ein Durchschnitt von 40 Wochenstunden überschritten wird, sind Überstunden – es sei denn, die Übertragbarkeit einer bestimmten Menge an Plusstunden im Verhältnis 1 : 1 in die nächste Periode wurde vereinbart und die Überschreitung findet in diesem Saldo noch Platz.

Dabei ist freilich zu beachten, dass bei dieser Saldenprüfung am Ende der Periode Überstunden gemäß den Parametern 1 bis 3 nicht mitgerechnet werden, denn sonst würden sie ja doppelt gezählt – einmal gemäß der Überstundendefinition nach ebendiesen Parametern, ein zweites Mal als Durchschnitts- bzw Saldenüberschreitung gemäß Parameter 4. Sinnvollerweise sind daher ein Überstundenkonto und ein Gleitzeitkonto getrennt zu führen, wobei Überstunden laufend während der Periode bei Überschreitungen nach den Parametern 1 bis 3 zu verbuchen sind, sowie am Ende der Periode gemäß Parameter 4 als Überschreitung des Normalarbeitszeitdurchschnitts – bzw des übertragungsfähigen Saldos – über die Periode hinweg.

3.
Frage 1: Eine bestehende Gleitzeitvereinbarung benennt keine Obergrenzen der täglichen und/oder wöchentlichen Arbeitszeit und gewährt den Konsum von Gleittagen im erforderlichen Ausmaß.* Ist unter diesen Umständen die Nutzung der neuen Obergrenzen von zwölf Stunden täglich bzw 60 Stunden wöchentlich ohne entsprechende Adaptierung der Gleitzeitvereinbarung zulässig?

Die Frage ist durch Auslegung der Gleitzeitvereinbarung zu beantworten: Zielt diese mit der Nichtnennung konkreter Normalarbeitszeitgrenzen auf eine Orientierung an den zum Zeitpunkt der Vereinbarung geltenden Grenzen (also in der Regel: zehn Stunden täglich bzw 50 Stunden wöchentlich) ab, oder ist eine quasi dynamische Offenheit gegenüber beliebigen künftigen Erweiterungen der durch die Gleitzeitvereinbarung zulassbaren täglichen und wöchentlichen Normalarbeitszeiten bezweckt?

Im Zweifel ist von der erstgenannten Auslegungsvariante auszugehen.* Es ist daran zu erinnern, dass der in der Einleitung erwähnte Abänderungsantrag der Regierungsparteien* eine bewusste Reaktion auf die heftigen Debatten um den Gesetzesvorschlag zur Arbeitsrechtsnovelle 2018 war. Einer der – auch medial – besonders prominenten Kritikpunkte betraf die Möglichkeit, künftig im Rahmen von Gleitzeit eine elfte und zwölfte tägliche Arbeitsstunde zuschlagsfrei zu absolvieren. Die Reaktion der VerfasserInnen des Abänderungsantrags auf diesen Vorwurf: Die Feststellung im neu eingefügten § 32c Abs 10 AZG, dass bestehende Gleitzeitvereinbarungen aufrecht bleiben. Der Gesetzgeber sagt damit etwas, was auch ohne seine explizite Äußerung völlig selbstverständlich gewesen wäre. Dem Wortlaut nach ist die neue Norm schlicht redundant, also inhaltsleer. Dem Gesetzgeber kann aber nicht unterstellt werden, mit einer so reaktiv und bewusst eingeführten Norm keine Regelungsabsicht verfolgt zu haben. Die politische Funktion der neugeschaffenen Norm ist vor dem beschriebenen Hintergrund klar: Den AN und Betriebsräten soll signalisiert werden, dass bei bestehenden Gleitzeitvereinbarungen nicht gegen ihren Willen die elfte und zwölfte Stunde für zuschlagsfreies Arbeiten erschlossen wird. Damit kann als sinnvolle Funktion, die der gegenständlichen Passage von § 32c Abs 10 AZG zugeschrieben werden kann, die einer Zweifelsregel verortet werden.185

4.
Frage 2: Ein KollV erlaubt explizit eine tägliche Normalarbeitszeit von bis zu zehn Stunden. Kann eine Gleitzeitvereinbarung demgegenüber dennoch auch bis zu zwölf Stunden zulassen?

Auf den ersten Blick erstaunt die Frage: Wenn der KollV die Grenze der Normalarbeitszeit mit zehn Stunden beziffert, warum soll dann eine im Stufenbau der Arbeitsrechtsordnung darunter angesiedelte Norm – nämlich die Gleitzeitvereinbarung im Wege einer BV oder schriftlichen Einzelvereinbarung – darüber hinaus gehen können? Insb Schrank* bringt aber beachtenswerte Argumente in diese Richtung vor, die im Folgenden erörtert werden sollen.

Nicht zu folgen ist seinem grundsätzlichen Einwand, Kollektivverträge könnten überhaupt keine Regelungen mit Normwirkung zum Thema Gleitzeit treffen.* Bei Gleitzeit geht es ja nicht nur um die Zulassung flexibler Normalarbeitszeit, sondern auch um die Festlegung konkreter Höchstgrenzen im durch Zulassung erlaubten Rahmen, die Festlegung eines Gleitzeitrahmens und gegebenenfalls einer Kernzeit, die Länge der Gleitzeitperiode, allfällige Übertragungsmöglichkeiten usw – um Dinge also, die im betriebsratslosen Betrieb jedenfalls mit Arbeitsvertrag zu regeln sind und auch tatsächlich standardmäßige Bestandteile zahlloser Arbeitsverträge sind. Es kann daher kein Zweifel bestehen, dass der KollV Elemente von Gleitzeitarbeit durch Inhaltsnormen gem § 2 Abs 2 Z 2 ArbVG regeln kann.*

Für die PartnerInnen der Gleitzeitvereinbarung im betriebsratslosen Betrieb wirken diese Regelungen kraft des Günstigkeitsprinzips, aber auch des Ordnungsprinzips:* Gerade beim Thema Arbeitszeit kann es kollektive Interessen geben, die die Durchsetzung einer Kollektivvertragsnorm unabhängig davon verlangen, ob sie in jedem Einzelfall für den AN günstiger ist oder nicht.*

Wenn Schrank meint, dass der KollV jedoch keinesfalls Regelungen über Gleitzeit mit bindender Wirkung für Gleitzeit-Betriebsvereinbarungen treffen könne, weil der Gesetzgeber die Regelungskompetenz zur Gleitzeit im Betriebsratsbetrieb eben den BetriebspartnerInnen zugewiesen habe und der KollV daher unzulässigerweise in die Mitbestimmungsrechte des BR eingreifen würde,* ist dem nicht zu folgen. Schrank geht offenbar von der Vorstellung aus, dass der Gesetzgeber in § 4b AZG den BetriebspartnerInnen eine ausschließliche Regelungskompetenz zum Thema Gleitzeit zugewiesen habe. Die Vorstellung, dass dann, wenn der Gesetzgeber die BV zu Regelungen in einem bestimmten Themengebiet ermächtigt, der KollV automatisch die Kompetenz zur Setzung von Inhaltsnormen im selben Feld verliere, entbehrt jedoch jeglicher gesetzlicher Grundlage. Beispielhaft seien hier die Kompetenzen der BV zur Regelung von Aufwandersatz,* Leistungsentgelten* und Kündigungsfristen* genannt – Gebiete, für die noch nie jemand bezweifelt hat, dass auch die Kollektivvertragsparteien in ihnen regelungsbefugt sind. Wenn nun in solchen sich überschneidenden Kompetenzen von beiden Rechtsquellen ein und dieselbe Frage geregelt wird, entscheidet die Günstigkeit oder – wenn eine solche nicht (eindeutig) bejaht oder verneint werden kann – gebührt dem KollV aufgrund von dessen Höherrangigkeit im Stufenbau der Arbeitsrechtsordnung der Vorrang.*

Wenn nun klargestellt ist, dass der KollV jedenfalls eine Obergrenze der Normalarbeitszeit bei Gleitzeit festsetzen kann, so ist noch ein zweiter Einwand Schranks zu erörtern. Schrank meint, dass den typischen Kollektivvertragsformulierungen zur zehnstündigen täglichen Normalarbeitszeitgrenze der Normierungswille fehle,* weil die entsprechenden Bestimmungen entweder als bloßer Verweis auf die zu diesem Zeitpunkt bestehende Gesetzeslage (mit der zehnstündigen Höchstgrenze der Normalarbeitszeit) zu verstehen seien oder aus der Zeit vor 2008 stammen, als die zehnte zuschlagsfreie Gleitstunde nur durch KollV zugelassen werden konnte, und daher nichts anderes als stehengelassene und mittlerweile bedeutungslose Zulassungsnormen seien.

Die Frage nach dem normativen Gehalt – also ob tatsächlich nur eine der beiden genannten Funktionen hinter der betreffenden Bestimmung steckt oder doch der normative Wille, die täglich zu ergleitende Normalarbeitszeit mit zehn Stunden zu begrenzen – ist (ebenso wie oben in Frage 1 im Zusammenhang mit der BV) durch Auslegung zu beantworten. Und ebenso wie dort gilt auch hier, dass im Zweifel von der Begrenzung mit zehn Stunden täglicher Normalarbeitszeit auszugehen ist. Das ist folgendermaßen zu begründen:

Als materielles Gesetz ist der KollV nicht nach den Regeln der Vertragsauslegung, also nicht durch Erforschung des tatsächlichen Parteiwillens, sondern nach objektiven Gesichtspunkten daraufhin zu analysieren, welchen Sinn die Normunterworfenen dem Text entnehmen können.* Anders als in der staatlichen Gesetzgebung, in der der subjektive Wille des Gesetzgebers dank den allen offenstehenden Gesetzesmaterialien zum maßgeblichen Auslegungselement des objektivierten gesetzgeberischen Willens wird, muss beim KollV mangels186 allgemein zugänglicher Materialien die wörtliche Auslegung im Vordergrund stehen. Das spricht zunächst schon einmal dafür, eine kollektivvertraglich formulierte Begrenzung der Normalarbeitszeit mit zehn Stunden wörtlich, also ernst zu nehmen.

Aber auch wenn nicht nur für Eingeweihte, sondern auch für den allgemeinen Adressatenkreis des KollV erkennbar sein sollte, dass die betreffende Kollektivvertragsbestimmung zum Zeitpunkt ihrer Entstehung bloß eine der beiden genannten Funktionen erfüllte – nämlich des bloßen Verweises auf die frühere gesetzliche Obergrenze von zehn Stunden oder der Zulassung von zehn Stunden, als dies noch nur durch KollV geschehen konnte –, ist noch nicht klar, dass die Norm tatsächlich in diesem Sinne auszulegen ist. Es kann nämlich einerseits sein, dass sich die Bestimmung bloß deswegen weiterhin im KollV nachlesen lässt, weil die Kollektivvertragsparteien ihr in den – meist jährlichen – Verhandlungsrunden keine weitere Beachtung mehr schenkten und sie schlicht stehen ließen, es kann andererseits aber auch sein, dass die Kollektivvertragsparteien die Bestimmung ganz bewusst beibehalten wollten, weil sie die Begrenzung der Normalarbeitszeit – etwa auch angesichts der schon seit Jahren schwelenden Diskussion über eine gesetzliche Anhebung auf zwölf Stunden – für angemessen und richtig hielten und weiterhin halten und dem durch das Stehenlassen der Bestimmung Ausdruck verleihen wollten.

Angesichts dieser Alternativen ist § 32c Abs 10 AZG, solange keine objektiv erkennbaren Gesichtspunkte klar für die eine oder andere Auslegungsvariante sprechen, ähnlich wie in obiger Antwort auf Frage 1 als Zweifelsregel heranzuziehen: Neben der unter Frage 1 angeführten Anordnung der Aufrechterhaltung von Gleitzeit-Betriebsvereinbarungen wird hier nämlich auch festgelegt, dass günstigere Kollektivvertragsbestimmungen durch die Arbeitszeitrechtsnovelle 2018 nicht berührt werden.* Auch hier ist – so wie in Frage 1 – die politische Funktion der Bestimmung vor dem Hintergrund der heftigen Debatte über den Verlust des Überstundenzuschlags für die elfte und zwölfte Stunde bei Gleitzeit wieder sonnenklar: Den normunterworfenen AN sollte signalisiert werden, dass an bestehenden (hier: kollektivvertraglichen) Regelungen, die ein zuschlagsfreies Arbeiten bis zu zwölf Stunden täglich verunmöglichen, nicht gerüttelt werde. Vor diesem Hintergrund verfängt auch Schranks Argument, eine elfte und zwölfte Gleitstunde sei günstigkeitsneutral, weil dem AN ja bloß die Möglichkeit zu solchen Arbeitszeiten gegeben, er dazu aber nicht gedrängt werde, nicht. Die Intervention des Gesetzgebers im Abänderungsantrag wurde eindeutig durch den Kampf um den Überstundencharakter der zehn Stunden überschreitenden Arbeitszeit ausgelöst; der Gesetzgeber hat daher in diesem Kontext der mit dem zwingenden 50 %-igen Zuschlag gem § 10 Abs 1 abzugeltenden elften und zwölften Tagesstunde rechtspolitisch eine höhere Günstigkeit zugeschrieben als der freiwillig ergleitbaren, aber nur ein Zeitguthaben im Verhältnis 1 : 1 bewirkenden Arbeitszeitverlängerung. Zudem ist Schrank auf die Erkenntnisse der empirischen Wissenschaft hinzuweisen: Auch bei Gleitzeit ist die vom AG aufgetragene Arbeitsmenge und nicht die Arbeitszeiteinteilung nach den persönlichen, an der Freizeitgestaltung orientierten Wünschen des AN der wichtigste Bestimmungsgrund für das konkrete Gleitverhalten.*

5.
Frage 3: Wann gilt die Bedingung der Gleittage – als Voraussetzung für das erweiterte Modell mit zwölfstündiger täglicher Normalarbeitszeit – als erfüllt?

Zur Erinnerung: Die tägliche Normalarbeitszeit darf dann auf zwölf Stunden verlängert werden, „wenn die Gleitzeitvereinbarung vorsieht, dass ein Zeitguthaben ganztägig verbraucht werden kann und ein Verbrauch in Zusammenhang mit einer wöchentlichen Ruhezeit nicht ausgeschlossen ist“.*

In der Literatur wird teilweise vertreten, dass schon die Möglichkeit des AN, einen einzigen Gleittag pro Gleitperiode zu konsumieren, den zitierten Tatbestand erfüllt. Bedenkt man, dass die Gleitzeitperiode grundsätzlich in beliebiger Länge festgelegt werden darf und auch Gleitzeitperioden von einem ganzen Jahr nicht unüblich sind, mutet es schon vom Ergebnis her etwas merkwürdig an, dass die Tag für Tag mögliche Verdoppelung der täglichen Gleitspanne von zwei Stunden auf vier Stunden vom Gesetzgeber mit nicht mehr aufgewogen werden sollte als diesem einen Tag Gleitzeitguthabenskonsum zB pro Jahr.

Bei näherer Betrachtung halten die betreffenden Argumentationen auch nicht stand. Glowacka will aus dem Wort „ganztägig“ erschließen, dass ein ganzer Tag ausreichend sei.* Zwar ist richtig, dass auch ein einziger ganzer Tag „ganztägig“ ist, selbiges trifft aber auch auf zwei, fünf, zehn oder wieviel auch immer ganze Tage zu. „Ganztägig“ bedeutet nichts anderes als das Gegenteil von Zeitguthabenskonsum in kleineren Einheiten als ganzen Tagen und ist an sich zahlenneutral. Die Auslegung kann also bei diesem Wort nicht stehen bleiben.

Auch das Argument von Hitz, aus dem Zahlwort „ein“ vor Zeitguthaben ergebe sich das Ausreichen eines Tages, zieht nicht.* „Zeitguthaben“ ist kein zählbares Objekt; es gibt nicht ein, zwei, drei oder mehr Zeitguthaben, sondern Zeitguthaben von acht Stunden, 25, 150 oder wieviel auch immer Stunden – das jeweils vorhandene Zeitguthaben eines AN besteht aus einem Stundensaldo.

Hat man solchermaßen verstanden, dass das „ein“ in „ein Zeitguthaben“ nichts mit dem Zahlwort 1 zu tun hat, sondern schlicht der unbestimmte Artikel187 ist, wird rasch deutlich, dass hier ein sicherlich nicht ideal formulierter, aber doch relativ einfach erfassbarer Tatbestand mit zwei Tatbestandsmerkmalen und einer Rechtsfolge vorliegt: Ist der AN für den Fall, dass er über ein Zeitguthaben verfügt, das ausreicht, um einen ganztägigen Verbrauch zu ermöglichen (Tatbestandsmerkmal 1), gemäß der Gleitzeitvereinbarung berechtigt, dieses auch ganztägig zu verbrauchen (Tatbestandsmerkmal 2), dann sind elfte und zwölfte tägliche Stunden als Gleitstunden zulässig. Fällt Tatbestandsmerkmal 2 hingegen weg, indem die Befugnis des AN zu ganztägigem Zeitguthabensverbrauch durch gesetzlich nicht vorgesehene zahlenmäßige Begrenzungen oder Bedingungen eingeschränkt wird, tritt die Rechtsfolge eben nicht ein. Tomandl hat die Einfachheit dieses Rechtssatzes erkannt, enthält sich dementsprechend jeglicher mystifizierender Deutungen und stellt ganz lapidar fest: „Der Arbeitnehmer muss das Recht haben, Zeitguthaben auch ganztägig zu verbrauchen.*

Eine andere, nicht zahlenmäßige Beschränkung will Schrank aus § 4 Abs 1 Urlaubsgesetz (UrlG) analog ableiten: Er meint, der Konsum von Gleittagen könne in der Gleitzeitvereinbarung an das Erfordernis einer Zustimmung des AG für jeden einzelnen Gleittagskonsum geknüpft werden, ohne die Zulässigkeit elfter und zwölfter Gleitstunden zu beeinträchtigen.* Dem ist nicht zu folgen. Das dem Urlaubsrecht immanente Vereinbarungsprinzip ist dem System der Gleitzeit eben gerade fremd; bei ihr gilt das Prinzip der Selbstbestimmung. Und so wie der AN, wenn er ein Zeitguthaben von zwei Stunden hat, über dessen Abbau autonom bestimmen kann, indem er zB einen Arbeitstag um zwei Stunden verkürzt, kann er nach der neuen Bestimmung über ein achtstündiges Zeitguthaben ebenso autonom verfügen, indem er sich eben einen ganzen Arbeitstag frei nimmt. Dass der AN dabei durchaus an die Beachtung betrieblicher Notwendigkeiten gebunden werden kann, ist – wie auch schon oben angemerkt* – der Gleitzeit ohnehin immanent. Diese Beachtung betrieblicher Notwendigkeiten darf freilich nicht so weit gehen, dass dem AN die Gleittage faktisch verunmöglicht werden, die juristische Befugnis in der Gleitzeitvereinbarung also nur auf dem Papier besteht. Enthält die Gleitzeitvereinbarung die am weitesten verbreitete betriebliche Rahmenbedingung des Gleitens, nämlich eine Kernzeit, muss in der Vereinbarung klargestellt werden, dass die Kernzeit dem Konsum von Gleittagen insofern nicht im Wege steht, als sie an diesen unbeachtlich ist.

Bei diesem Verständnis der Zulassungsvoraussetzung für die elfte und zwölfte tägliche Stunde bereitet übrigens auch der zweite Halbsatz über die Gleittage im Zusammenhang mit der wöchentlichen Ruhezeit* keinerlei interpretatorische Schwierigkeiten: Betriebliche Notwendigkeiten, die der AN zu beachten hat, dürfen nicht so gestaltet sein, dass sie verlängerte Wochenenden – also den Konsum eines Gleittages unmittelbar vor- oder nach der wöchentlichen Ruhezeit – generell ausschließen. Dem AN muss also nicht garantiert sein, dass er jede Woche bei Vorliegen eines entsprechenden Gleitguthabens den Montag bzw Freitag als Gleittag konsumieren kann; bei der grundsätzlich ihm obliegenden Entscheidung, an welchem Wochentag er einen Gleittag konsumiert, dürfen aber die an das Wochenende angrenzenden Tage eben nicht systematisch ausgeschlossen sein.

Auch die Entstehungsgeschichte der gegenständlichen Norm spricht klar gegen zahlenmäßige Begrenzungen der Gleittage und die von Schrank vertretene Zulässigkeit der Vereinbarung einer Bewilligungspflicht für Gleittage: Der Initiativantrag kannte die Voraussetzung der Gleittage für die Zulässigkeit der elften und zwölften Gleitstunde noch nicht. Eine Antwort auf die heftige Debatte über die zuschlagsfreien elften und zwölften Tagesstunden ist oben unter Frage 1 und 2 schon dargestellt worden, nämlich die Beruhigung durch den Gesetzgeber, die da quasi lautet: Keine Sorge, in bestehende Gleitzeitmodelle mit zehnstündigem Spielraum für die tägliche Normalarbeitszeit auf Betriebsvereinbarungs- oder Kollektivvertragsgrundlage wird nicht eingegriffen. Die zweite, hier relevante, Antwort war die Zusicherung einer neuen, attraktiven Option der Arbeitszeitgestaltung als Ausgleich für jene AN, die sich auf zwölf zuschlagsfreie Stunden einlassen. Die Erläuterungen zum Abänderungsantrag, der auch diese zweite Antwort auf den Aufruhr um zuschlagsfreie elfte und zwölfte Stunden gab, nennen „den Ausgleich durch längere zusammenhängende Freizeit“ für „lange Tagesarbeitszeiten“ als explizites Ziel.* Da zahlenmäßig begrenzte Gleittage und/oder solche, die vom AG eigens bewilligt werden müssen, schon lange Standard in den in der Praxis gängigen Gleitzeitvereinbarungen sind, würde eine Antwort des Gesetzgebers iS solcher Begrenzungen und Beschränkungen ja keinerlei Fortschritt gegenüber dem Status quo darstellen und damit nicht den vom Gesetzgeber beabsichtigten Ausgleich für zuschlagsfreie elfte und zwölfte Arbeitsstunden bringen.

Eine andere Form der Beschränkung, die von Jöst, Mosing und Risak* vertreten wird, erscheint jedoch gerade im Lichte dieser Gesetzgebungshistorie und der zitierten Materialien argumentierbar: Dass nämlich nur Guthaben aus Normalarbeitszeiten jenseits der zehnten täglichen Stunde zum Konsum von ganzen Gleittagen herangezogen werden können. Mit dem ausdrücklichen Gesetzeszweck, einen Ausgleich für „lange Tagesarbeitszeiten“ zu schaffen, ist dies iS teleologischer Auslegung sicherlich vereinbar. Eine entsprechende Gleitzeitvereinbarung ist daher als taugliche Grundlage zuschlagsfreier elfter und zwölfter Tagesstunden anzusehen, macht aber freilich die administrative Bürde eines zweiten Gleitzeitkontos notwendig.188

6.
Frage 4: Wie ist § 4b Abs 5 AZG auszulegen, wonach angeordnete Arbeitsstunden „die über die Normalarbeitszeit gem § 3 Abs 1 hinausgehen“, als Überstunden gelten?

Dass dann, wenn die autonome Bestimmung des AN über Beginn und Ende seiner täglichen Arbeitszeit durch angeordnete Arbeitsleitungen des AG verdrängt wird, Überstunden entstehen können, war schon vor der Arbeitszeitrechtsnovelle 2018 klar.* Die Gleitbefugnis ist – wie schon oben bei Parameter 3 festgestellt – die Grundbedingung dafür, im Rahmen von Gleitzeit die Normalarbeitszeit durchzurechnen. Das Verletzen dieser Grundbedingung führt daher naturgemäß zu Überstundenarbeit.

Nicht ganz so klar war indes, wie die Abgrenzung zwischen Normalarbeitszeit und (angeordneter) Überstundenarbeit im konkreten Detail zu handhaben sei. Drei Varianten boten sich an. Eine, rechtsdogmatisch durchaus plausible Variante knüpfte direkt an der Überstundendefinition des § 6 Abs 1 Z 2 AZG an, wonach Überstundenarbeit vorliegt, wenn „die tägliche Normalarbeitszeit überschritten wird, die sich aufgrund der Verteilung“ der wöchentlichen Normalarbeitszeit ua gem § 4b AZG ergibt. Da die Verteilungsregel gem § 4b ausschließlich darauf lautet, dass der AN selbst über die Verteilung bestimmt, liegt jede Arbeitszeit (außerhalb der Kernzeit), die auf einem Eingreifen des AG beruht, außerhalb dieser Verteilung und kann daher als Überstundenarbeit betrachtet werden.* Trotz der Schlüssigkeit der Argumentation hat sich diese Variante in der Praxis wenig durchgesetzt.

Variante 2 und 3 gehen von einer anderen Ausgangsargumentation aus. Für sie führt die Tatsache, dass der AG mit seinem Eingreifen in die eigentlich vom AN zu bestimmende Arbeitszeitverteilung die Grundbedingung des Gleitzeitmodells verletzt, dazu, dass dieses am betreffenden Tag durch das starre Standardmodell der Normalarbeitszeit mit acht Stunden täglich ersetzt wird, also (angeordnete) Überschreitungen der acht Stunden als Überstundenarbeit gelten. Variante 2 nimmt diesen Ansatz wörtlich, knüpft also einfach an der Dauer der bisher verstrichenen Tagesarbeitszeit an und deklariert die neunte Tagesarbeitsstunde als Überstunde, wenn ihr eine vom AG angeordnete Arbeitsleistung zu Grunde liegt. Gleiches muss in dieser Variante freilich gelten, wenn der AG die Festsetzung des Beginns der täglichen Arbeitszeit nicht dem AN überlässt, sondern eine zB einstündige Arbeitsleistung am Morgen anordnet: Folgen dann noch zumindest acht Stunden, ist auch diese angeordnete Eingangsstunde eine Überstunde. Würde man nur eine der beiden Tagesrandzeiten, nämlich die am Ende des Arbeitstages bei Eingreifen des AG zur Überstunde deklarieren, entstünde ein schwer haltbarer Wertungswiderspruch. Die Lehre hat rasch einen wesentlichen Nachteil dieser Variante erkannt, dass nämlich bei Kenntnis des (voraussichtlichen) Verhaltens der jeweils anderen Seite Überstundenzuschläge bewusst vermieden bzw produziert werden können. So könnte etwa ein AN, der weiß, dass an einem Tag um 16 Uhr eine einstündige Sitzung anberaumt ist, an diesem Tag entgegen seiner sonstigen Gewohnheit um 7:30 Uhr die Arbeit aufnehmen, um auf diese Weise sicherzustellen, dass die Stunde von 16:00 bis 17:00 Uhr die neunte Tagesarbeitsstunde und damit Überstunde ist. Die wohl herrschende Lehre* hat daher iS einer Objektivierung die starre achtstündige Normalarbeitszeit nicht nur nach deren Dauer, sondern auch nach deren Lage zum Maßstab genommen: In dieser Variante – Variante 3 – werden daher angeordnete Arbeitsleistungen außerhalb der fiktiven Normalarbeitszeit als Überstundenarbeit behandelt. Ist daher beispielsweise die fiktive Normalarbeitszeit mit 8:00 Uhr bis 16:30 Uhr von Montag bis Freitag, jeweils mit einer halbstündigen Ruhepause, festgelegt, sind dementsprechend vom AG angeordnete Arbeitsleis tungen vor 8:00 Uhr morgens bzw nach 16:30 Uhr nachmittags Überstundenarbeit.

Diese Variante 3, die auch in der Praxis stark vertreten war, ist mit dem Wortlaut des neuen § 4b Abs 5 jedoch kaum noch vereinbar; zu klar bezeichnet der Gesetzestext Arbeitsstunden, „die über die Normalarbeitszeit gem § 3 Abs 1 hinausgehen“, als Überstunden. In § 3 Abs 1 AZG wird schlicht nur die Dauer von acht Stunden, nicht aber die Lage der Normalarbeitszeit angesprochen. Auch der Interpretationsversuch, mit dem neuen § 4b Abs 5 habe der Gesetzgeber nicht unbedingt die Dauer ansprechen, sondern nur klarmachen wollen, dass er an dem am Anfang dieses Abschnitts dargelegten Prinzip festhalten wolle, ist seit der Arbeitszeitrechtsnovelle 2018 gesetzessystematisch schwer vertretbar. Die Novelle hat nämlich mit dem neuen § 10 Abs 4 AZG eine spezielle Abgeltungsregelung für solche Überstunden eingeführt „durch die die Tagesarbeitszeit von zehn Stunden oder die Wochenarbeitszeit von 50 Stunden überschritten wird“. Wollte man an der oben geschilderten Variante 2 festhalten, würde man dem Gesetzgeber also unterstellen, bei der grundsätzlichen Definition, ob überhaupt Überstunden vorliegen, auf deren Lage abzustellen, für die Sonderregelung des § 10 Abs 4 AZG jedoch auf die Dauer der Tages- bzw Wochenarbeitszeit. Eine solche, für die RechtsanwenderInnen schwer handhabbare Komplexität herstellen zu wollen, wird dem Gesetzgeber jedoch kaum zugesonnen werden können. Damit wird man von der Gültigkeit von Variante 2 ausgehen müssen: Vom AG am Rand des Arbeitstages bzw der Arbeitswoche angeordnete Arbeitszeiten, die eine Überschreitung der genannten Werte von acht Stunden täglich bzw 40 Stunden wöchentlich auslösen, sind Überstundenarbeit.

Die sehr spezielle Position von Jöst zu diesem Thema soll hier noch kurz behandelt werden.189

Jöst will etwa die neunte tägliche Arbeitsstunde nur dann als Überstunde gelten lassen, wenn die gesamte Arbeitszeitmenge des betreffenden Tages, also auch die restlichen acht Stunden, vollständig vom AG angeordnet wurden, also zur Gänze der vom AG für diesen Tag aufgetragenen Arbeitsmenge geschuldet sind.* Die Antwort darauf, warum das Zustandekommen einer einzigen Überstunde (oder auch von Bruchteilen davon) davon abhängig sein soll, dass dem AN die für das Gleitzeitmodell ausschlaggebende Gleitmöglichkeit für den gesamten Arbeitstag genommen wird, bleibt Jöst jedoch schuldig. Mit dem § 4b Abs 5 AZG deklariert der Gesetzgeber ja gerade eine klare Trennung: Die Normalarbeitszeit steht in der Verfügungsmacht des AN; ordnet der AG davor oder danach Arbeitsleitungen an, übernimmt also er für die jeweiligen Zeiten die Verfügungsmacht, dann werden diese eben zu Überstunden. Entscheidend ist das Zusammentreffen des Merkmals „Überschreitung von acht bzw. 40 Stunden“ mit dem Merkmal „Wechsel der Verfügungsmacht“. Dass dabei auf das Zusammentreffen beider Merkmale im jeweiligen Arbeitszeitabschnitt abzustellen ist, gilt freilich auch zu Gunsten des AG: Hat ein AN etwa selbstbestimmt einen zehnstündigen Arbeitstag verbracht, an den dann noch ein angeordneter Termin anschließt, sind nicht schon die neunten und zehnten (freiwillig geglittenen) Arbeitsstunden Überstundenarbeit, sondern erst die beim anschließenden angeordneten Termin verbrachte Arbeitszeit.