Zur Vor- und Gründungsgeschichte der Arbeiterkammer

 KLAUS-DIETERMULLEY (WIEN)

Die „großen Erzählungen“ zur Gründungsgeschichte der österreichischen Arbeiterkammern beginnen meist mit dem heroischen Kampf der Wiener ArbeiterInnen in der Revolution des Jahres 1848. Damals hätte der von Friedrich Sander gegründete „Wiener allgemeine Arbeiterverein“ die Errichtung eines „Arbeiterparlaments“ gefordert, was oft in Verbindung mit den in diesem Jahr gesetzlich eingerichteten Handels- und Gewerbekammern gesehen wird.* Die nachfolgenden Bemerkungen werden sich dann auch eingangs mit den Bestrebungen zur Gründung von Handels- und Gewerbekammern auseinandersetzen zu haben. Mit deren Errichtung fand die Institution „Kammer“ als eine mit gesetzlicher Zugehörigkeit ausgestattete und auf Grund demokratischer Wahlen zusammengesetzte selbstverwaltende Körperschaft Eingang in die österreichische Rechtsordnung. In der Folge wird der jahrzehntelange Diskurs über Errichtung einer ebensolchen Institution für die Arbeiterklasse deskriptiv nachzuzeichnen sein.

1.
Zur Gründung von Handels- und Gewerbekammern

Im Rahmen der Maßnahmen zur Überwindung der 1811 einsetzenden Wirtschaftskrise nach den napoleonischen Kriegen wurde in Österreich unter Kaiser Franz II (1792-1835) eine Hofkommerzkommission eingerichtet. Diese sollte dem Staat eine dem vorherrschenden Liberalismus entsprechende zeitgemäße Gewerbeordnung erarbeiten. Man plante, die auf zahllosen Gesetzen und Verordnungen beruhende Gewerbegesetzgebung „von manchen Schlacken und Hindernissen zu reinigen, welche der Entwicklung der vaterländischen Industrie noch immer in einem hohen Grade entgegen sind“.* Die Hofkommerzkommission stand allerdings vor dem Problem, dafür von den Zünften, Gremien und Industriellen die notwendigen Daten und Statistiken zu bekommen. Zwar versuchten alle Wirtschaftstreibenden Einfluss auf die staatliche Wirtschaftspolitik zu nehmen, doch waren – wie die Hofkommerzkommission beklagte – „die Zünfte, Gremien und Corporationen, von eingealterten Beschränkungsgeiste, von Brodneid und blinden Vorurtheilen beseelt“, ihre Auskünfte waren „meist parteiisch oder einseitig“.*

Durch die Schaffung einer Institution ähnlich der seit 1911 in den lombardisch-venezianischen Provinzen bestehenden „Camere di commercio arti e manifatture”* sah man eine Möglichkeit, nicht nur die Wünsche des Handels und der Fabrikanten zu bündeln, sondern auch gesicherte Daten über die Lage der Wirtschaft im Lande zu bekommen. 1816 erstellte die Hofkommerzkommission einen ersten Entwurf einer umfassenden gesetzlichen, sich selbst verwaltenden Interessenvertretung.* Dieser Entwurf, der nie zur Beschlussfassung kommen sollte,* gab bereits die grundlegende Struktur für alle Jahrzehnte später folgenden Kammergesetze vor: In allen Landeshauptstädten sollten Handelskammern mit der Aufgabe errichtet werden, die Ansichten, Wünsche und Vorschläge der Wirtschaftstreibenden der Staatsverwaltung zur Kenntnis zu bringen und auf Verlangen die vom Staat geforderten Informationen zu liefern. Sie sollten sich paritätisch aus Vertretern der Fabrikanten, Großhändler, Wechsler, Kaufleute und Landwirte zusammensetzen. Das zum Teil noch in Zünften organisierte Kleingewerbe und die Handwerker waren ausgeschlossen, die Landwirtschaft durch den damals noch vorherrschenden physiokratischen Mainstream jedoch integriert. Die Vertreter der Handelskammer (HK) sollten durch Wahlen in den einzelnen Wirtschaftsgruppen bestimmt werden. Für die Besorgung der Bürogeschäfte war ein von der Hofkommerzkommission auf Vorschlag der HK ernannter Sekretär einzusetzen. Die Handelskammern sollten zwar der jeweiligen Landstelle unterstehen, doch der bei den Beratungen der Kammer vorsitzführende örtliche Kreishauptmann hatte nur die Einhaltung der Geschäftsordnung zu überwachen. Auf die Beratungen und Beschlüsse sollte er keinen Einfluss nehmen. Die Kosten der Kammer sollten von den Mitgliedern der Kammer selbst getragen werden. Festzuhalten ist, dass dieser erste für die gesamte Monarchie projektierte gesetzliche – wie es scheint mit gesetzlicher Zugehörigkeit ausgestattete* – Selbstverwaltungskörper der Wirtschaft 64 mit allen ersten Ansätzen zu einem inneren Interessenausgleich und zu einer demokratischen Vertretung eines Teils der Wirtschaftstreibenden (die Gewerbe- und Handwerksbetriebe waren ausgeschlossen) gegenüber dem Staat ausgestattet war.

Wiewohl der Entwurf sowohl von den Behörden wie auch von den Fabrikanten und Handelstreibenden begrüßt wurde, bekam er keine „allerhöchste kaiserliche Entschließung“. Die Gründe für das Scheitern sind nicht bekannt, liegen jedoch wohl in den für die einzelnen Wirtschaftsgruppen vorgesehenen Wahlen. Demokratische Elemente waren dem Rechtsempfinden des Vormärz fremd. In der Folge versuchte die Staatsverwaltung selbst Auskunftspersonen aus dem Kreis der Wirtschafts treibenden heranzuziehen und sogenannte „Provinzial-Handelskommissionen“ einzusetzen. Doch deren Auskünfte und Berichte dürften von unterschiedlicher Qualität gewesen sein, sodass sie nicht zu der von der Hofkammer geplanten „einheitlichen umfassenden Wirtschaftsstatistik der österreichischen Monarchie“ beitragen konnten.* Die Administration griff dann vielfach auf Auskünfte der sich in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts in Böhmen (1933), Innerösterreich (1837) und Niederösterreich (1839) gründenden Gewerbevereine zurück. Allerdings besagte eine „allerhöchste Entschließung vom 6. Februar 1838“, dass „um den geregelten Wirkungskreis der Behörden auf keiner Weise zu beirren (...) einem solchen Vereine nie ein ordentlicher Anteil und Einfluss auf amtliche Verhandlungen in Gewerbe- und Industrieangelegenheiten in der Form eines neuen Organs der Staatsverwaltung zugewiesen werden“ darf.* Dementsprechend ist anzunehmen, dass im Rahmen der damals allenthalben im Bürgertum vorherrschenden Wünsche nach einer konstitutionellen Staatsverfassung auch in den Gewerbe vereinen die Frage einer gesetzlichen selbstverwaltenden Interessenvertretung mit entsprechenden Rechten dem Staat gegenüber* diskutiert wurde: „Eine tüchtige Handelskammer könnte nun allerdings eine moralische Macht abgeben, welche das Gouvernement auf die Länge der Zeit nicht ignorieren dürfte.“* Unmittelbar vor dem Ausbruch der Märzrevolution, am 9. März 1848, beschloss der niederösterreichische Gewerbeverein, eine Petition an die niederösterreichischen Stände zur Förderung der Wirtschaft und der Errichtung von Handels- und Gewerbekammern zu richten:* Bereits kurz nach Ausbruch der Revolution wurde eine Kommission eingesetzt, die die Errichtung von Handelskammern einer Prüfung unterziehen sollte. Es war schließlich Theodor Friedrich Hornbostel, der als Vorstand des niederösterreichischen Gewerbevereins nach seiner Bestellung als Handelsminister am 7.7.1848 die Vorarbeiten für ein Handelskammergesetz (HKG) beschleunigte. Bereits am 10.7.1848 wurde der erste Entwurf eines Gesetzes zur „Errichtung von Handelskammern“ den Landesbehörden der österreichischen Kronländer („Gubernien“) zur Stellungnahme sowie auch der Presse übergeben.* Nach einer ersten Umarbeitung wurde den Behörden und der Presse erneut eine Begutachtungsfrist bis zum 24.9.1848 gewährt.* Am 3.10.1848, kurz vor der sogenannten „Oktoberrevolution“, beschloss der Ministerrat „provisorische Bestimmungen in Betreff der Errichtung von Handelskammern“.*

Die Handelskammern hatten als „beratende Institute“ die Aufgabe, „Wünsche und Vorschläge über alle Gewerbs- und Handelszustände in Verhandlung zu nehmen (...), ihre Ansichten und Gutachten für die Erhaltung und Förderung des Gewerbefleißes und des Verkehres, zur Kenntnis der Behörden zu bringen“.* Sie sind „über neue Gesetze und Verordnungen in Gewerbs- und Handelsangelegenheiten, bevor die selben erlassen, oder die bestehenden wesentlich abgeändert werden, um ihr Gutachten zu vernehmen“.* Sie bestimmen ihre Geschäftsordnung selbst, allerdings muss diese vom Ministerium bestätigt werden.* Die Berufung der Mitglieder in die Handelskammern geschieht durch Wahl.* Alle protokollierten Gewerbs- und Handelsleute sind wahlberechtigt.* Die Mitglieder wählen einen Vorsitzenden und einen Stellvertreter.* Die „Schreibgeschäfte“ hat ein „besoldeter Sekretär“ mit dem „erforderlichen Hilfspersonale“ zu besorgen.* Die Kosten der Handelskammern waren von der Gemeinde, der Provinz und dem Staat zu jeweils einem Drittel zu tragen.*

Die Struktur der Bestimmungen über die Handels- und Gewerbekammern orientierte sich zum nicht geringen Teil am alten Entwurf von 1818, ließ jedoch die Landwirtschaft draußen und umfasste das gesamte Gewerbe (worunter damals auch die Industrie zu subsummieren war), den Handel sowie die „in den industriellen und commerciellen Wissenschaften Bewanderten“.* Konnte durch das provisorische Gesetz von 1848 vorerst nur in Wien eine HK errichtet werden, so erfolgte mit „allerhöchster Entschließung vom 18. März 1850“ die Ausdehnung auf alle Kronländer.* Allerdings wurde den Handelskammern ua das Gesetzesbegutachtungsrecht genommen, welches ihr erst 1868 in einem erweiterten HKG wieder zugestanden wurde.* Ab 65 1861 durften die Handelskammern Vertreter in die Landtage,* ab 1868 auch in den Reichsrat entsenden. Festzuhalten ist: Dem Wirtschaftsbürgertum gelang es, im Rahmen der konstitutionellen Bestrebungen des Jahres 1848 die HK als demokratisch organisierte, mit gesetzlicher Zugehörigkeit ausgestattete Selbstverwaltungskörper der Wirtschaft durchzusetzen, Advokaten* und Notare* folgten alsbald mit eigenen Kammern.*

2.
Arbeiterklasse und „Arbeiterparlament“ 1848

Waren 1848 die Bauern (durch die Grundentlastung), Rechtsanwälte und Notare sowie die Fabrikanten, Gewerbetreibende und Händler die Gewinner der Revolution, so ging die Arbeiterklasse, die maßgeblich an den Aufständen beteiligt war,* leer aus. Zwar kam es in den Revolutionstagen in einigen Branchen zu ersten vertraglichen Vereinbarungen zwischen AG und AN, doch diese wurden in den nachfolgenden Restaurationsjahren wieder zunichte gemacht.

Anfang September 1848 erfolgte ein Aufruf an die Wiener Arbeiterschaft, der unter dem Titel „Arbeiterausschuß aller Gewerbe“ in der Presse publiziert wurde: „Der Wiener Arbeiterverein hat sich die Aufgabe gestellt, eine Versammlung ins Leben zu rufen, bestehend aus Arbeitern aller Gewerbe, wozu jede Innung oder jedes Gewerbe drei aus ihrer Mitte gewählte Deputierte zu senden hat. In dieser Versammlung sollen hauptsächlich die Innungsverhältnisse, so wie alle Gegenstände zur Berathung kommen, welche sowohl in gewerblicher wie in staatsbürgerlicher Beziehung jedem von Wichtigkeit sind, als: 1. Gleichstellung der politischen Rechte des Arbeiters mit denen anderer Stände. 2. Einsetzung von Arbeitsministerien, wozu auch Arbeitgeber und Arbeitnehmer gehören. (...) u.s.w. Die Beschlüsse dieser Versammlung sind zur Ueberreichung an den hohen Reichstag bestimmt, um die Bedürfnisse und Wünsche der Gewerbsarbeiter vor denselben zu bringen. Nur durch ein allgemeines Zusammenwirken kann ein tüchtiges Ganzes geschaffen werden, und wir fordern daher alle Arbeiter auf, die Wahlen soviel wie thunlich zu beschleunigen, um nicht ein großartiges Werk durch Versplitterung der Zeit um seine Wirkung zu bringen. Die Wahlen sind anzuzeigen Mittwoch und Samstag Abends im Josephstädter Theatergebäude. Wien, am 4. September 1848. Der Vorstand des Wiener allgemeinen Arbeitervereins. Fr. Sander, Vorsitzender.“*

Dieser Aufruf weicht erheblich von dem zuerst von Ernst Victor Zenker (ohne Quellenangabe) und später vom Historiker der Arbeiterbewegung, Ludwig Brügel, publizierten Text ab. Zenker und Brügel fügten einen zusätzlichen Pkt 11 ein: „Überreichung des Ergebnisses des Arbeiterparlamentes an den hohen Reichstag mit der Forderung, die Wünsche und Bedürfnisse der Arbeiter Österreichs zu berücksichtigen und ihnen gerecht zu werden.“*

Der Hinweis auf die beabsichtigte Einberufung eines „Arbeiterparlaments“ (womit durchaus auch eine Analogie zu den späteren Arbeiterkammern hergestellt werden könnte) stammt von den späteren Zitationen Zenkers und Brügels. Nun kann es durchaus sein, dass im September 1848 unterschiedliche Versionen des Aufrufes in Umlauf gebracht wurden. Eine Forderung der Arbeiterschaft nach einem Pendant der zu jener Zeit noch im Entwurfsstadium befindlichen HK kann darin wohl nur durch eine sehr ausgedehnte Interpretation gesehen werden. Der 1920 von der Konstituierenden Nationalversammlung eingesetzte „Ausschuss für die Vorbereitung der Kammergesetze“ nahm jedenfalls auf den Aufruf des Jahres 1848 Bezug und sah darin „eine Forderung“, dem mit der Gesetzesvorlage über das AKG 1920 entsprochen werden würde.*

Infolge der Oktoberrevolution 1848 kam es nicht zu der von Friedrich Sander einberufenen Versammlung („Arbeiterparlament“). Es sollte zwanzig Jahre dauern, bis von Arbeitervereinen und Gewerkschaften – nach Überwindung des Neoabsolutismus – konkrete Forderungen nach Errichtung von Arbeiterkammern als Gegenmacht zu den bald einflussreichen Handelskammern erhoben wurden und von da an Regierung und Reichsrat beschäftigten.

3.
Gewerkschaften und Arbeitervereine fordern Arbeiterkammern

Die Restaurationsperiode unter dem Neoabsolutismus nach 1848 setzte, allen Ansätzen und Bemühungen der Arbeiterklasse sich zu organisieren, ein Ende.* Erst das Vereinsgesetz des Jahres 1867* gab der Arbeiterschaft die Möglichkeit, sich in Bildungsvereinen, Branchenverbänden und Kassen „legal“ zu organisieren, gewerkschaftliche Aktivitäten wurden erst durch das Koalitionsgesetz vom 7.4.1870 behördlich gestattet.* Die sich sukzessive nun in Vereinen formierende Arbeiterschaft war gespalten: Zum einen in Vereine, die den Ideen einer „Selbsthilfe“ (nach Schulze-Delitzsch) der Arbeiterschaft durch Gründung von Genossenschaften sowie Spar- und Konsumvereinen nachhingen, und Sozialdemokraten, die nach den Forderungen von Ferdinand Lassalle für Reformen zur Verbesserung der Lage der Arbeiterklasse den Staat in die Pflicht nahmen und für das allgemeine und gleiche 66 Wahlrecht eintraten. Anfangs der 1870er-Jahre kam es bei Sozialdemokraten zu einer Spaltung zwischen „Gemäßigten“ und „Radikalen“.Infolge von Klagen von Seiten der Wirtschaft überlegte 1868 die Regierung eine Novellierung der Gewerbeordnung von 1859 und befragte diesbezüglich die Handels- und Gewerbekammern.*

Aufgefordert von der niederösterreichischen HK deponierte der Wiener Arbeiterbildungsverein einen umfangreichen Forderungskatalog, der von Regelungen über die Arbeitszeit, über die Gewährung des Koalitionsrechtes, bis hin zur Einführung von Fabrikinspektoren reichte. Darunter findet sich die (erstmalig von der Arbeiterschaft erhobene) Forderung nach „Einführung von Arbeiterkammern, welche die zwischen Arbeitgebern und Arbeitern sich ergebenden Differenzen, insbesondere aus Anlaß des sachlichen Verhältnisses der Arbeit zu schlichten haben. Diese Arbeiterkammern sollen aus beidseitigen in gleicher Anzahl gewählten Vertretern zusammengesetzt sein.“*

In einer Versammlung in Wien schlossen sich Vertreter der Fachvereine der Weber-, Band- und Seidenzeugmacher, der Manufakturarbeiter, sowie der Strumpfwirker und Posamentierer dieser Forderung an: „Die Handels- und Gewerbekammer solle durch Kreirung einer Arbeiterkammer erweitert werden, die die Interessen des Arbeiterstandes zu vertreten hätte.“* Aus diesen ersten frühen Forderungen der Arbeiterschaft und Gewerkschaften (Fachvereinen) geht allerdings nicht klar hervor, ob es sich bei den gewünschten Arbeiterkammern um eine Streitschlichtungsinstitution, eine aus AG und AN paritätisch zusammengesetzte „Arbeitskammer“ oder um eine selbständige Institution handeln sollte.

Unmissverständlich war dagegen ein Appell des für Ideen Schulze-Delitzsch werbenden Vereins „Hermania“: „Wir wollen Arbeiterkammern und Arbeiterbanken neben den Handels- und Gewerbekammern.“* Der Diskurs um die Errichtung von Arbeiterkammern als Pendant zu den Handels- und Gewerbekammern war damit eröffnet und fand in der Folge Eingang in die von der Regierung und den Reichsratsfraktionen geführte Wahlrechtsdebatte. Bereits im Jänner 1870 meinte das „Laibacher Tagblatt“ in einem Leitartikel „...so schaffe man (...) einige Arbeiterkammern, damit ein weiterer Theil des Volkes lieber organisch innerhalb der Verfassung, als außerhalb der Verfassung sei. Das könnte, da die Zeit des ganz allgemeinen Stimmrechtes denn doch noch nicht gekommen zu sein scheint, auch für die Arbeiterklassen das beste Mittel sein...“.*

In der Folge kam es in Wien und in Graz zu Verhandlungen zwischen Arbeitervereinen und liberalen Abgeordneten. Der liberale Club schlug vor, die Arbeiterschaft möge auf ihre Forderung nach einem allgemeinen gleichen Wahlrecht verzichten. Dafür würde sie der liberale Club in der Errichtung von Arbeiterkammern unterstützen, welchen zwanzig Reichsratsmandate zugesprochen werden würden.* In einer Massenversammlung der Arbeiter Wiens stellten die Sozialdemokraten dazu fest, dass sie an den Forderungen des allgemeinen, direkten Wahlrechtes festhalten, „daß sie aber jede in dieser Richtung liegende Concession, wie die Arbeiterkammern, bis auf Weiteres acceptirt“.* Im Jänner 1872 forderten Marburger Sozialdemokraten in einer Petition die Errichtung von Arbeiterkammern als eine den Handelskammern ähnliche Institution für die Arbeiterschaft und erinnerten den liberalen Club des Abgeordnetenhauses, ihr Versprechen zu halten und für die Errichtung von Arbeiterkammern einzutreten.*

Der Petitionsausschuss stellte die Forderung „nicht in Abrede“, konnte und wollte jedoch die Frage des Wahlrechts in die Kammern nicht lösen und beschloss die Petition „dem Gesamtministerium zur eingehenden Würdigung abzutreten.“* Ähnlich erging es einem am 26.8.1872 von einer großen Volksversammlung in Wien verabschiedeten und von Heinrich Gehrke, Obmann des Vereins „Volksstimme“ und des Wiener Fachvereins der Sattler, mitunterzeichneten „Memorandum über die Errichtung von Arbeiterkammern“.* Die Arbeiter forderten darin für die Arbeiterkammer (AK) nicht nur ein Begutachtungsrecht aller AN betreffenden Gesetzesvorschläge, eine Schiedsgerichtsfunktion über Arbeitsverhältnisse, gemeinsame Beratungen der Arbeiterkammern untereinander, sondern auch eine Vertretung von zu wählenden Abgeordneten der Arbeiterkammern im Reichsrat. Heinrich Oberwinder, einer der Verfasser des Memorandums, sah die zu gründenden Arbeiterkammern als Instrument der Gewerkschaften: „Der von mir vorgelegte Entwurf ging von der Idee aus, die Institution der Arbeiterkammer könne nur Ersprießliches wirken, wenn ihr eine solide Organisation der Gewerkschaften (...) zur Seite ständen. Die Arbeiterkammer sollte also eine permanente Vertretung der centralisierten, alle Berufszweige umfassenden, sich über das Reich erstreckenden, gesetzlich anerkannten und mit allen Rechten einer juridischen Person ausgestatteten Gewerkschaften sein.“*

Wurde dieses erste Memorandum von der Regierung einfach negiert, so wurde eine vom Verein „Volksstimme“ zwei Jahre später an den Reichsrat gerichtete, annähernd gleichlautende Petition im Abgeordnetenhaus behandelt. Nach dem sogenannten „Börsenkrach“ des Jahres 1873 war die Bereitschaft der Abgeordneten, sich mit der „Arbeiterfrage“ zu beschäftigen, gestiegen. Allein die Petition der Wiener „gemäßigten“ Sozialdemokraten fand nicht die Zustimmung der „radikalen“ Richtung, die unmissverständlich für die Einführung des allgemeinen Wahlrechts eintrat. Die Forderung nach Arbeiterkammern wurde denn auch im Parteitag der Sozialdemokraten in Neudörfl 1874, von dem die Fraktion Heinrich Oberwinders67 ausgeschlossen war, nicht aufgestellt. Anders die Reaktion im Abgeordnetenhaus, welches einen eigenen Ausschuss einsetzte, der sich mit der Petition des Vereines Volksstimme auseinandersetzte.

Die Abgeordneten anerkannten nun, dass es sich bei den von der Arbeiterschaft gewünschten Arbeiterkammern um einen „körperlichen Verband, welcher vom Staate anerkannt wird, [um] ein Organ sozialer Selbstverwaltung mit der Unterordnung unter dem allgemeinen Staatsgedanken“ handelt, dem die Handels- und Gewerbekammern als Vorbild dienten. Der Regierung wurde empfohlen, die AK als ein aus Vereinen und Genossenschaften zusammengesetztes Organ in die Gewerbeordnung aufzunehmen: „Hat es nun so dem Ausschusse im Interesse des Staates und der arbeitenden Classe thunlich erschienen, die Errichtung von Arbeiterkammern als ein Organ socialer Selbstverwaltung zu befürworten, so konnte er hingegen sich nicht sofort für das weitere Petitum nach politischer Vertretung der arbeitenden Classe aussprechen.“*

Von einem Wahlrecht in die AK, wie auch von der Zuerkennung des Wahlrechts der Arbeiterkammern in den Reichsrat, analog jenem der HK, wurde abgesehen. In der Plenarsitzung des Abgeordnetenhauses erhitzte vor allem die Frage des Wahlrechtes die Gemüter.* Letztlich wurden die Ausschussempfehlungen angenommen und an die Regierung weitergeleitet, die jedoch nichts dergleichen unternahm. Dennoch wurde auch im folgenden Jahrzehnt die Forderung nach der Errichtung von Arbeiterkammern in AN-Veranstaltungen wie auch in der bürgerlichen Presse sowie in Debatten im Reichsrat immer wieder thematisiert.*

4.
Arbeiterkammern als „Linsengericht“

Im Dezember 1885 wurde bekannt, dass Abgeordnete des „deutsch-österreichischen Clubs“ an einem AKG-Entwurf arbeiten.* Das „Gesetz über die Errichtung und Organisation der Arbeiterkammern“ wurde denn auch von Ernst v. Plener 1886 eingebracht* und am 1.2.1887 erstmals im Plenum des Abgeordnetenhauses diskutiert.* Der Gesetzesentwurf* bestimmte, dass in 26 namentlich aufgeführten Handelskammerbezirken Arbeiterkammern zu errichten seien. Den Arbeiterkammern wurde ua das Recht zugestanden, „Wünsche und Vorschläge über alle Arbeiterangelegenheiten“ zu beraten und diese aus eigener Initiative sowie auf Aufforderung den Ministerien und Landesbehörden zur Kenntnis zu bringen. Darüber hinaus hatten sie Daten für die Gewerbestatistik und einen jährlichen Bericht an das für sie weisungsbefugte Handelsministerium zu liefern. Das Recht, Gesetze zu begutachten, hatten sie nur „über Aufforderung der Regierung“. Die 12 bis 36 Mitglieder (heute: KammerrätInnen) der AK hatten ihre Aufgabe unentgeltlich zu besorgen.

Die passive Wahlberechtigung war auf Männer ab dem Alter von 24 Jahren, das aktive Wahlrecht auf Männer ab dem Alter von 30 Jahren beschränkt. Ein Obmann und sein Stellvertreter als gesetzliche Vertretung der AK waren jährlich neu zu wählen. Für die Besorgung der Bürogeschäfte war ein von der Regierung zu bestätigender Sekretär mit entsprechendem Hilfspersonal zuständig. Den monatlich abzuhaltenden Sitzungen der AK hatte ein vom Handelsministerium ernannter Commissär ohne Stimmrecht beizuwohnen, der jedoch jederzeit das Wort ergreifen durfte. Die Kosten der AK waren vom Staat zu tragen. In gesonderten Gesetzesentwürfen* wurden den 26 Arbeiterkammern die Wahl von neun Abgeordneten zusätzlich zu den bisherigen 353 Abgeordneten zugestanden.

Ernst v. Plener wollte mit dieser gesetzlichen Initiative, die auch gegen die vorherrschende polizeiliche Ausnahmegesetzgebung gerichtet war, die Vertreter „der sogenannten gemäßigten Arbeiterpartei, welche versucht, die sociale Reform auf friedlichem Wege allmälig vorwärts zu bringen“ stärken:*„Der uns vorschwebende Gedanke ist, um ihn mit einer Formel zu bezeichnen, der, ein Institut socialer Selbstverwaltung zu schaffen, eine öffentlich rechtliche Corporation der Arbeiter, die mit einem gewissen Maße von Rechten und Pflichten ausgestattet und sohin nothwendig gezwungen ist, sich mit den concreten Fragen ihrer Lage zu beschäftigen.“* Doch bereits bei der ersten Lesung des Entwurfes regte sich Widerstand: So etwa kritisierten Abgeordnete, dass der den Arbeiterkammern zugesprochene Wirkungskreis zu gering sei, dass sie kein Recht hätten, untereinander in Beratung zu treten, dass ihnen ex lege das Recht zugesprochen werden müsste, in Fragen der Gewerbeordnung des Lehrlingswesens Gutachten abzugeben und dass im Übrigen die Zahl der den Arbeiterkammern zugesprochenen Reichsratsmandate vermehrt werden müsse.*

Festzuhalten ist, dass die sozialdemokratische Arbeiterschaft das Befriedungs- und Betrugsmanöver des liberalen Bürgertums durchschaute und dieses durch eine vehemente Ablehnung zu Fall brachte: Eine am 24.10.1886 in St. Pölten stattgefundene Volksversammlung, an der zahlreiche Arbeiter aus Wien und Umgebung teilnahmen, erklärte in einer Resolution, „daß der am 5. October eingebrachte Gesetzentwurf über die Errichtung von Arbeiterkammern in keiner Weise den Anforderungen, welche an eine zweckdienliche Vertretung der Interessen der Lohnarbeiter gestellt werden müssen, entspricht und daß das Proletariat seine bestimmte, immer und immer wiederholte Forderung nach dem allgemeinen, gleichen und directen Wahlrechte niemals für das Linsengericht eines dürftigen Zubaues an die gegenwärtige Interessenvertretung aufgeben werde“.*Victor Adler, der 68 „Gründungsvater“ der österreichischen Sozialdemokratie, schloss sich der Resolution an. In einer 1886 erschienenen Broschüre verglich er diese mit der von der Arbeiterschaft 1872 eingebrachten Petition zur Errichtung von Arbeiterkammern. Er kam zu dem Schluss, dass der Plener‘sche Entwurf weit hinter den damals aufgestellten Forderungen, zu welchen im Übrigen nun neue kommen müssten, zurückblieb.*

Den Kommentatoren liberaler Zeitungen, die sich darüber mokierten, dass die Arbeiterschaft nun von den Arbeiterkammern nichts mehr wissen wollte, antwortete er: „Jeder, der lesen kann, wird dieser Resolution entnehmen müssen, daß die Arbeiter allerdings Arbeiterkammern wünschen, aber nicht solche, welche eine Scheininstitution zu den vielen Scheininstitutionen, an welchen wir in Österreich reichlichen Überfluß haben, hinzufügen würden.“* Außerdem fehlten ihm die Voraussetzungen für die Errichtung von Arbeiterkammern, „denn sollen Arbeiterkammern ihren Zweck erreichen, so müssen sie die Spitze einer Organisation sein“. Richtungsweisend stellte der Sozialdemokrat fest: „Die Gewerksverbände sind aber ebenso selbstverständlich die Voraussetzung für wirksame Arbeiterkammern wie unbeschränkte Vereins-, Versammlungs- und Preßfreiheit die Voraussetzung eines wirksamen Wahlrechtes sind.“*

Die Ansätze einer Gewerkschaftsbewegung wurden jedoch durch den 1884 verhängten und weiterhin andauernden polizeilichen Ausnahmezustand weitgehend zerstört.* Es würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen, nun die gesamte weitere sich über mehrere Jahre hinziehende – durchaus spannende – Diskussion über den Plener‘schen Entwurf von den Ausschussberatungen über die zu dem Gesetzesvorschlag abgehaltene Enquete,* bis hin zu den Plenarsitzungen zu verfolgen.* Letztlich stellte auch der „Einigungsparteitag“ der Sozialdemokratie in Hainfeld 1888/89 in einer Resolution fest, dass der vorliegende Gesetzesentwurf über die AK „weder wirtschaftlich noch politisch entspricht“.* Auch die Vertreter einer christlichen Sozialreform geißelten den Entwurf und traten für Arbeiterkammern sowie vor allem aber für „Bauernkammern“ ein.*

Mit der Frage, inwieweit Formen der Arbeiterselbstverwaltung für den Staat nutzbringend sein können, beschäftigten sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts – angelehnt an die rechtspolitischen und -organisatorischen Überlegungen des Staatsrechtlers Lorenz von Stein* – Ökonomen und Soziologen in der „Gesellschaft für Sozialpolitik und Sozialreform“ sowie in der „Gesellschaft für soziale Reform“. Nun wurde – mit ausländischen Beispielen gefüttert – über die Vor- und Nachteile von Arbeitskammern und Arbeiterkammern gestritten. Unter Arbeitskammern wurden von AG und AN paritätisch besetzte Kammern verstanden. Außer Streit gestellt waren jedoch die Merkmale einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft, die gesetzliche Zugehörigkeit, ein Vertretungsrecht gegenüber dem Staat sowie die Notwendigkeit der Selbstverwaltung an und für sich.*

Hatten die Gewerkschaften in Österreich ab 1898 im Arbeitsbeirat des arbeitsstatistischen Amtes eine Vertretungsbefugnis erhalten und damit nach den gesetzlich eingerichteten Kassen eine weitere gesetzlich normierte Mitwirkungsmöglichkeit erkämpft,* so forderte der Ungarische Gewerkschaftskongress im Dezember 1901 nicht nur eine autonome Verwaltung der sozialen Kassen durch die Arbeiterschaft, sondern auch „die Schaffung von Arbeits(er)kammern nach dem Vorbilde der Handels- und Gewerbekammern“.* Im Reichsrat unerledigt blieben zwei Anträge des Abgeordneten Johann Nep. Berger, der 1905 die Errichtung von Arbeiterkammern und Privatbeamtenkammern forderte, die vom Staat zu finanzieren seien.*

5.
Arbeiterkammern oder „Arbeitskammern“

Nach der Erkämpfung des allgemeinen Männer-Wahlrechts 1907 trat für die österreichische Sozialdemokratie die Forderung nach Errichtung von Arbeiterkammern in den Hintergrund. Dennoch beschäftigten sich die Medien intensiv mit den sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Bestrebungen, Arbeiterkammern im Deutschen Reich zu errichten, wo letztlich ein Regierungsentwurf über „Arbeitskammern“ diskutiert wurde.*

Es war Karl Renner, der 1910 für die Errichtung von Arbeiterkammern mit Gesetzesbegutachtungsrecht als Pendant zu den Handelskammern eintrat: „Ich will dabei, wenn ich für die Errichtung von Arbeiterkammern plädiere, keineswegs die Arbeitskammern gemeint haben, welche wir kennen, welche als Vermittlungsämter hauptsächlich zwischen Unternehmern und Arbeitern zu fungieren hätten, ich denke direkt an Interessenvertretungen, welche Gutachten zu erstatten und in wichtigen Fragen der Arbeiterschaft Erhebungen zu pflegen hätten.“69* 1913 schloss sich die Christlichsoziale Partei dieser Forderung an ihrem 10. Parteitag 1913 mit einer konkreten Aufgabenbeschreibung der zu errichtenden Arbeiterkammern an: „Aus den Erklärungen des Ministers für soziale Fürsorge im Verfassungsausschusse wie im Herrenhause war hinsichtlich der Förderung der Errichtung von Arbeiterkammern nichts bestimmtes zu entnehmen. Da aber gegenwärtig auch in Deutschland die Frage durch die Einbringung einer neuen, modernen Regierungsvorlage über Arbeitskammern aktuell geworden ist, so wird auch bei uns die Schaffung derselben kaum lange mehr hintangehalten werden können.“*

Im Sommer 1917 machte Karl Renner in der Arbeiter-Zeitung einen neuerlichen Vorstoß zur Errichtung von Arbeiterkammern, denn diese seien gerade in einer Periode der „Übergangswirtschaft“ notwendig. Darüber hinaus wären die Arbeiterkammern nicht nur ein „Hebel für die rechtliche und geistige Hebung der Arbeiterklasse selbst, sondern zugleich ein Werkzeug des allgemeinen Fortschritts der Gesellschaft“.7* Einen Tag, nachdem der zitierte Artikel von Renner erschienen war, brachten die tschechoslowakischen Sozialdemokraten am 12.7.1917 im wieder einberufenen Reichsrat einen Gesetzesentwurf über die Errichtung von Arbeiterkammern ein.* Die Forderung nach Errichtung von Arbeiterkammern schien eine neue Dynamik zu erhalten. Im Rahmen der Diskussion über die Errichtung eines „Ministeriums für Soziale Fürsorge“ erklärte dann auch am 20.11.1917 Minister Viktor Mataja, dass er den Bestrebungen zur Errichtung von Arbeiterkammern und Arbeiterausschüssen „durchaus sympathisch“ gegenüberstehe: „Wir wissen den Bestand von Organen zu schätzen, die der freien Aussprache und der Vertretung der im Arbeiterstande vorhandenen Wünsche und Bedürfnisse dienen, und werden daher gerne zu einer Verwirklichung dieses Gedankens die Hand bieten.“*

Wenige Tage später, am 24.11.1917, forderte die Reichsgewerkschaftskommission der freien (sozialdemokratischen) Gewerkschaften die Errichtung von Arbeiterkammern.*Franz Domes, Obmann des Metallarbeiterverbandes, referierte und beantragte eine Resolution, in der es ua hieß: Obwohl sich die Arbeiterschaft in den Gewerkschaften „ein verläßliches und oft bewährtes Instrument zum Schutz der Interessen im Kampf mit den Unternehmern geschaffen haben“, sehen sie ihre Interessen gegenüber der Gesetzgebung und Verwaltung viel zu wenig berücksichtigt. Es bedarf „zur Herbeiführung eines raschen Tempos der Sozialpolitik“ einer den (bäuerlichen) Landeskulturräten und den Handels- und Gewerbekammern ähnlichen Institution. Die Reichskonferenz der Freien Gewerkschaften sollte deshalb Arbeiterkammern fordern als „gewichtige Organe zur Wahrung ihrer Interessen, zur Beeinflussung der Staatsverwaltung und zur Orientierung der Gesetzgebung“. Die von Domes vorgeschlagene Resolution, am Sitz jeder Handels- und Gewerbekammer eine AK zu errichten, wurde einstimmig angenommen. Damit setzten sich die mächtigen sozialdemokratischen Gewerkschaften einmal mehr an die Spitze der Forderung nach der Errichtung von Arbeiterkammern.

Karl Renner und der Metallgewerkschafter Franz Domes arbeiteten einen ersten Gesetzesentwurf aus, an dem sich das Ministerium für soziale Fürsorge weitgehend orientierte und diesen noch im Frühjahr 1918 fertigstellte.* In jedem Handelskammerbezirk sollte eine AK errichtet werden, der alle sozialversicherungspflichtigen AN angehören, die mindestens 14 Tage bei einer Unternehmung in Beschäftigung stehen. Die AG haben die Beschäftigten der AK zu melden. Die Mitglieder (KammerrätInnen) der AK wählen einen Präsidenten und seine StellvertreterInnen. Auf Vorschlag des Präsidenten bestellt der Vorstand einen beamteten Sekretär und sein Personal. Die Kosten der AK werden durch eine Umlage auf die Krankenversicherungsbeiträge der AN getragen. Der Entwurf (der im Grundsätzlichen dem späteren AKG 1920 entsprach) wurde vom Direktor des Katholischen Volksbundes, Richard Schmitz, einer heftigen Kritik unterzogen. Schmitz,* als Vertreter der christlichen Soziallehre und des politischen Katholizismus tief im sozialharmonischen, ständestaatlichen Ideengut verhaftet, favorisierte „Arbeitskammern“, die im Deutschen Reich von allen Gewerkschaftsrichtungen gefordert würden.

Die geplanten österreichischen Arbeiterkammern seien jedoch reine „Klassenkammern“: „Diese Kammern wären also keine Einrichtungen, an denen der Freund organischer Sozialpolitik seine Freude haben könnte, dieser Entwurf widerspricht insbesondere den christlichsozialen Grundsätzen. Er ist unannehmbar! Unannehmbar, weil er dem Geiste sozialistischen Klassenkampfes entsprungen und ausschließlich auf die fast durchaus von den Sozialdemokraten beherrschten Großbetriebe zugeschnitten ist. Das Ministerium für soziale Fürsorge wird einen neuen Entwurf ausarbeiten müssen, der nicht nur die Machtwünsche von Sozialdemokratie und Großkapital, der auch die Meinung des christlichen Volkes und das Wohl des Staates berücksichtigt!“* Doch der politische „Umbruch“ im Herbst 1918, die Verunsicherung des Bürgertums in der „österreichischen Revolution“ (Otto Bauer) und die Angst vor einer „Räterepublik“ ließ die Kritik Schmitz‘ bald in Vergessenheit geraten. In 70 ihrem Wahlprogramm forderte die Christlichsoziale Partei im Dezember 1918: „Die beruflichen Interessenvertretungen der einzelnen Stände sind auf demokratischer Grundlage auszubauen. Neben den auszugestaltenden Handels- und Gewerbekammern sind besondere Landwirtschafts- und Arbeiterkammern zu errichten.“* Es war in der Folge der von der Gewerkschaftskommission in den Staatsrat als Staatssekretär für soziale Verwaltung nominierte Ferdinand Hanusch, der die Arbeiten an einem AKG vorantrieb.

6.
Das AKG 1920

Nachdem bereits in letzten (Friedens-)Jahren der Monarchie eine Novellierung des HKG 1868 ventiliert wurde, um es „den geänderten Zeitverhältnissen anzupassen“,* brachte die Staatsregierung einen Entwurf in die Konstituierende Nationalversammlung ein,* der am 16.12.1919 zur ersten Lesung gelangte.* Nachdem bereits im Vorfeld der Sitzung vereinbart wurde, das HKG zusammen mit einem AKG gemeinsam in einem Ausschuss zu beraten, musste sich Staatssekretär Ferdinand Hanusch entschuldigen, dass sich der Entwurf für das AKG verzögert habe, jedoch rechtzeitig dem Ausschuss zukommen werde. Nachdem auf Antrag des Abgeordneten und Angestelltengewerkschafters Karl Pick ein „Ausschuss zur Beratung der Kammergesetze“ eingesetzt wurde, beriet dieser im Februar 1920 die beiden Gesetzesentwürfe.*

Vorsitzender des Ausschusses war der Sozialdemokrat Robert Danneberg, Berichterstatter für das HKG war der christlichsoziale Abgeordnete und Direktor des Gewerbeförderungsinstituts der HK Wien Eduard Heinl und für das AKG der Vorsitzende des Metallarbeiterverbandes Franz Domes. In den „Erläuternden Bemerkungen“ zum AKG-Entwurf* wurde festgestellt, dass die Arbeiterkammern „den entsprechenden Kammern der gewerblichen Unternehmer nicht nur völlig gleichwertig, sondern auch in ihrem Wirkungskreise und ihrer Organisation derart ähnlich gestaltet sind, dass ein Zusammenwirken der beiderseitigen Körperschaften bei Lösung von wichtigen Aufgaben der wirtschaftlichen Verwaltung ohne Schwierigkeiten möglich ist“. In den Ausschussberatungen fand dies bei diversen formalen Änderungen mit Hinweis auf das HKG eine weitere Bestätigung.*

Hervorzuheben ist, dass die Regierung und auch die Abgeordneten, vor allem auf Betreiben der Christlichsozialen, eine ähnliche Einrichtung „für die Arbeiter und Unternehmer der Landwirtschaft“ in Aussicht stellten und in diesem Kontext feststellten: „Unter diesen Umständen ist die Errichtung von Arbeiterkammern nicht ausschließlich unter dem Gesichtspunkt ihres nächstliegenden Zweckes, sondern ebenso sehr im Hinblick auf die Eingliederung der neuen Organisation in den beabsichtigten Neubau der wirtschaftlichen Verwaltung zu würdigen.“* Die sich Jahrzehnte später in der 2. Republik bildende „Wirtschafts- und Sozialpartnerschaft“ war bei der Beschlussfassung über das Kammergesetz 1920 bereits angedacht.

Das AKG wurde am Tag nach dem HKG,* am 26.2.1920, einstimmig von der Konstituierenden Nationalversammlung beschlossen.* Es bildete – wie der Erste Sekretär der Wiener Arbeiterkammer Edmund Palla 1923 feststellte – „den Grundstein für eine Selbstverwaltung der Arbeiterschaft, die in ihrer weiteren Entwicklung sich auf alle jene Gebiete ausdehnen dürfte, welches die speziellen Interessen der Arbeiterschaft bilde“.* Wenn auch die Organisationsstruktur der AK, ihr Aufgabenbereich sowie ihr politischer Einfluss immer wieder Veränderungen unterworfen waren, so sind die tragenden Grundsätze der Kammerorganisation – Selbstverwaltung, Autonomie, Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften und Gegenmacht zu den Kammern und Lobbying-Organisationen der Unternehmer – bis in die Gegenwart und weitere Zukunft aufrecht.* Die jahrzehntelangen Forderungen von Arbeiterschaft und Gewerkschaften nach einer vom Staat unabhängigen, in Autonomie sich selbst verwaltenden gesetzlichen Interessenvertretung, deren Zusammensetzung nach gleichen und geheimen Wahlen durch die AN selbst bestimmt wird, wurden mit dem AKG erfüllt.*71