25Vorübergehende oder nicht vorübergehende Leiharbeit – das ist hier die Frage
Vorübergehende oder nicht vorübergehende Leiharbeit – das ist hier die Frage
Art 5 Abs 5 Satz 1 der RL 2008/104/EG ist dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehrt, keine Maßnahmen zu ergreifen, um den vorübergehenden Charakter der Leiharbeit zu wahren und einer nationalen Regelung entgegensteht, die keine Maßnahmen vorsieht, um aufeinanderfolgende Überlassungen desselben Leih-AN an dasselbe entleihende Unternehmen mit dem Ziel, die Bestimmungen der RL 2008/104 insgesamt zu umgehen, zu verhindern.
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Ausgangsrechtsstreit
22 JH, ein von einem Leiharbeitsunternehmen beschäftigter AN, wurde dem entleihenden Unternehmen KG vom 3.3.2014 bis zum 30.11.2016 im Rahmen aufeinanderfolgender AN-Überlassungsverträge (insgesamt acht) und verschiedener Verlängerungen (insgesamt 17) als Leih-AN überlassen.
23 Im Februar 2017 erhob JH beim vorlegenden Gericht, dem Tribunale ordinario di Brescia (Gericht von Brescia, Italien), Klage auf Feststellung, dass von März 2014 bis November 2016 wegen der Rechtswidrigkeit der Inanspruchnahme aufeinanderfolgender ununterbrochener Überlassungen ein unbefristetes Beschäftigungsverhältnis zwischen ihm und KG bestanden habe. Er beantragt weiter, die Rechtswidrigkeit und/oder Nichtigkeit der AN-Überlassungsverträge festzustellen, auf deren Grundlage er KG zur Verfügung gestellt wurde.
24 JH macht in diesem Zusammenhang geltend, die auf den Rechtsstreit des Ausgangsverfahrens anwendbaren nationalen Bestimmungen über Leiharbeit sähen keine Beschränkung für aufeinanderfolgende Überlassungen der Leih-AN bei demselben Entleiher vor, was gegen die RL 2008/104 verstoße. Insb gehe zum einen aus dem 15. ErwGr dieser RL hervor, dass Beschäftigungsverhältnisse üblicherweise die Form unbefristeter Verträge annehmen sollten, und zum anderen verpflichte Art 5 Abs 5 Satz 1 der RL die Mitgliedstaaten, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um aufeinanderfolgende Überlassungen, mit denen die Bestimmungen der RL umgangen werden sollten, zu verhindern.
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Beantwortung der Vorlagefrage
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50 Hierzu ist erstens klarzustellen, dass die RL 2008/104 nach ihrem elften ErwGr nicht nur dem Flexibilitätsbedarf der Unternehmen, sondern auch dem Bedürfnis der AN, Beruf und Privatleben zu vereinbaren, entspricht und somit zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Teilnahme am und zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt beiträgt. Diese RL bemüht sich daher um einen Ausgleich zwischen dem Ziel der von den Unternehmen angestrebten Flexibilität und dem Ziel der Sicherheit, das dem Schutz der AN zuzuordnen ist.
51 Dieses zweifache Ziel entspricht somit dem Willen des Unionsgesetzgebers, die Leiharbeitsbedingungen den „normalen“ Arbeitsverhältnissen anzunähern, zumal der Unionsgesetzgeber im 15. ErwGr der RL 2008/104 ausdrücklich klargestellt hat, dass die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses unbefristete Arbeitsverträge sind. Diese RL zielt daher auch darauf ab, den Zugang der Leih-AN zu unbefristeter Beschäftigung bei dem entleihenden Unternehmen zu fördern, ein Ziel, das sich insb in ihrem Art 6 Abs 1 und 2 widerspiegelt.
52 Der Grundsatz der Gleichbehandlung, wie er in Art 5 Abs 1 der RL 2008/104 vorgesehen ist, dient demselben Ziel. Nach dieser Bestimmung müssen nämlich die wesentlichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen der Leih-AN während der Dauer ihrer Überlassung an ein entleihendes Unternehmen mindestens denjenigen entsprechen, die für sie gelten würden, wenn sie von dem Unternehmen unmittelbar für den gleichen Arbeitsplatz eingestellt worden wären.
53 Zweitens wird der Begriff „wesentliche Arbeitsund Beschäftigungsbedingungen“, der die Tragweite des Grundsatzes der Gleichbehandlung der Leih-AN bestimmt, in Art 3 Abs 1 Buchst f der RL 2008/104 definiert und bezieht sich auf die Dauer der Arbeitszeit, Überstunden, Pausen, Ruhezeiten, Nachtarbeit, Urlaub, arbeitsfreie Tage und Arbeitsentgelt.
54 Wie die Generalanwältin in Nr 44 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, geht jedoch aus dem ersten ErwGr dieser RL hervor, dass diese die uneingeschränkte Einhaltung von Art 31 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gewährleisten soll, der nach seinem Abs 1 allgemein das Recht jedes AN auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen verankert. In der Erläuterung zur Charta der Grundrechte (ABl 2007, C 303, S 17) heißt es dazu, dass der Ausdruck „Arbeitsbedingungen“ iSd Art 156 AEUV zu verstehen ist. Allerdings verweist die letztgenannte Bestimmung nur auf „Arbeitsbedingungen“, ohne sie weiter zu definieren, als einen der Bereiche der Sozialpolitik der Union, in dem die Europäische Kommission tätig werden kann, um die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern und die Abstimmung ihres Vorgehens zu erleichtern. Im Hinblick auf den mit der RL 2008/104 verfolgten Zweck, die Rechte der Leih-AN zu schützen, spricht diese fehlende Genauigkeit für eine weite Auslegung des Begriffs „Arbeitsbedingungen“. 283
55 Drittens erlegt Art 5 Abs 5 Satz 1 der RL 2008/104 den Mitgliedstaaten in diesem Sinne zwei verschiedene Verpflichtungen auf, nämlich die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um zum einen einen Missbrauch der durch diesen Art 5 selbst zugelassenen Ausnahmen vom Grundsatz der Gleichbehandlung und zum anderen aufeinanderfolgende Überlassungen zu verhindern, mit denen die Bestimmungen der RL 2008/104 insgesamt umgangen werden sollen.
56 Hierzu ist festzustellen, dass, wie die Generalanwältin in Nr 46 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, die Worte „und um insbesondere“ in Art 5 Abs 5 Satz 1 dieser RL, mit denen diese beiden Verpflichtungen verbunden werden, entgegen dem Vorbringen der Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen nicht dahin ausgelegt werden können, dass die zweite Verpflichtung automatisch und vollständig von der erstgenannten Voraussetzung abhängig wäre, so dass diese Bestimmung ausschließlich auf den Missbrauch der zulässigen Ausnahmen vom Grundsatz der Gleichbehandlung Anwendung finden würde, dessen konkrete Tragweite für die Zwecke dieser RL in ihrem Art 5 Abs 1 bis 4 präzisiert wird.
57 Die beiden Verpflichtungen der Mitgliedstaaten unterscheiden sich deutlich voneinander. Die erste verpflichtet sie, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um allein eine missbräuchliche Anwendung der nach Art 5 Abs 2 bis 4 der RL 2008/104 zugelassenen Ausnahmen zu verhindern. Die zweite Verpflichtung ist hingegen weiter gefasst und zielt darauf ab, dass die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen ergreifen, um insb auf einanderfolgende Überlassungen zu verhindern, mit denen die Bestimmungen dieser RL insgesamt umgangen werden sollen.
58 Die von der Kommission vertretene enge Auslegung von Art 5 Abs 5 Satz 1 der RL 2008/104 widerspricht nicht nur dem Wortlaut dieser Bestimmung, die ausdrücklich zwei Verpflichtungen der Mitgliedstaaten, von denen die zweite die RL 2008/104 allgemein betrifft, vorsieht, sondern auch dem ausdrücklichen Zweck dieser RL, der darin besteht, die Leih-AN zu schützen und die Bedingungen der Leiharbeit zu verbessern.
59 Daraus folgt, dass die den Mitgliedstaaten durch Art 5 Abs 5 Satz 1 der RL 2008/104 auferlegte Verpflichtung, die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um aufeinanderfolgende Überlassungen, mit denen die Bestimmungen dieser RL umgangen werden sollen, zu verhindern, in Anbetracht ihres Zusammenhangs und ihrer Zielsetzung dahin zu verstehen ist, dass sie sich auf alle Bestimmungen dieser RL bezieht.
60 Viertens ist festzustellen, dass die RL 2008/104 auch sicherstellen soll, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge tragen, dass Leiharbeit bei demselben entleihenden Unternehmen nicht zu einer Dauersituation für einen Leih-AN wird.
61 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art 3 Abs 1 Buchst b bis e dieser RL die Begriffe „Leiharbeitsunternehmen“, „Leiharbeitnehmer“, „entleihendes Unternehmen“ und „Überlassung“ definiert und dass aus diesen Definitionen hervorgeht, dass das Arbeitsverhältnis mit einem entleihenden Unternehmen seiner Natur nach vorüber gehend ist.
62 Außerdem bezieht sich diese RL zwar auf vorübergehende Arbeitsverhältnisse, Übergangsarbeitsverhältnisse oder zeitlich begrenzte Arbeitsverhältnisse und nicht auf Dauerarbeitsverhältnisse, doch stellt sie in ihrem 15. ErwGr sowie in ihrem Art 6 Abs 1 und 2 klar, dass „unbefristete Arbeitsverträge“, dh Dauerarbeitsverhältnisse, die übliche Form des Beschäftigungsverhältnisses sind und dass die Leih-AN über die im entleihenden Unternehmen offenen Stellen unterrichtet werden müssen, damit sie die gleichen Chancen auf einen unbefristeten Arbeitsplatz haben wie die übrigen AN dieses Unternehmens.
63 Schließlich ist festzustellen, dass Art 5 Abs 5 Satz 1 der RL 2008/104 den Mitgliedstaaten in klaren, genauen und nicht an Bedingungen geknüpften Worten aufgibt, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um Missbräuche zu verhindern, die darin bestehen, Überlassungen von Leih-AN mit dem Ziel aufeinander folgen zu lassen, die Bestimmungen dieser RL zu umgehen. Folglich ist diese Bestimmung dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehrt, keine Maßnahmen zu ergreifen, um den vorübergehenden Charakter der Leiharbeit zu wahren.
64 Dazu geht aus der stRsp des Gerichtshofs hervor, dass die sich aus einer RL ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das darin vorgesehene Ziel zu erreichen, und ihre Pflicht gem Art 4 Abs 3 EUV und Art 288 AEUV, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt der Mitgliedstaaten einschließlich, im Rahmen ihrer Zuständigkeiten, der Gerichte obliegen (vgl ua Urteil vom 19.9.2019, Rayonna prokuratura Lom, C-467/18, EU:C:2019:765, Rn 59 und die dort angeführte Rsp).
65 Zur Erfüllung dieser Verpflichtung verlangt der Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung von den nationalen Behörden, unter Berücksichtigung des gesamten innerstaatlichen Rechts und unter Anwendung der dort anerkannten Auslegungsmethoden alles zu tun, was in ihrer Zuständigkeit liegt, um die volle Wirksamkeit des Unionsrechts zu gewährleisten und zu einem Ergebnis zu gelangen, das mit dem vom Unionsrecht verfolgten Ziel im Einklang steht (Urteil vom 19.9.2019, Rayonna prokuratura Lom, C-467/18, Rn 60 und die dort angeführte Rsp).
66 Dieser Grundsatz der unionsrechtskonformen Auslegung des nationalen Rechts unterliegt jedoch bestimmten Schranken. So findet die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt des Unionsrechts heranzuziehen, ihre Schranken in den allgemeinen Rechtsgrundsätzen und darf nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (Urteil vom 19.9.2019, Rayonna prokuratura Lom, C-467/18, EU:C:2019:765, Rn 61 und die dort angeführte Rsp).
67 Im vorliegenden Fall ist es Sache des vorlegenden Gerichts, die rechtliche Einordnung des im 284 Ausgangsverfahren in Rede stehenden Beschäftigungsverhältnisses sowohl im Hinblick auf die RL 2008/104 selbst als auch auf das nationale Recht zur Umsetzung dieser RL in die italienische Rechtsordnung im Hinblick auf die vorstehenden Erwägungen zu kontrollieren, um zu überprüfen, ob es sich, wie JH vorträgt, um ein unbefristetes Arbeitsverhältnis handelt, auf das die Form aufeinanderfolgender Leiharbeitsverträge künstlich angewandt wurde, um die Ziele der RL 2008/104, insb die vorübergehende Natur der Leiharbeit, zu umgehen.
68 Bei dieser Beurteilung kann das vorlegende Gericht folgende Erwägungen berücksichtigen.
69 Führen aufeinanderfolgende Überlassungen desselben Leih-AN bei demselben entleihenden Unternehmen zu einer Beschäftigungsdauer bei diesem Unternehmen, die länger ist als was vernünftigerweise als „vorübergehend“ betrachtet werden kann, könnte dies ein Hinweis auf einen missbräuchlichen Einsatz aufeinanderfolgender Überlassungen iS von Art 5 Abs 5 Satz 1 der RL 2008/104 sein.
70 Ebenso umgehen aufeinanderfolgende Überlassungen desselben Leih-AN an dasselbe entleihende Unternehmen, wie die Generalanwältin in Nr 57 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, den Wesensgehalt der Bestimmungen der RL 2008/104 und kommen einem Missbrauch dieser Form des Beschäftigungsverhältnisses gleich, da sie den Ausgleich, den diese RL zwischen der Flexibilität für die AG und der Sicherheit für die AN herstellt, beeinträchtigen, indem sie Letztere unterminieren.
71 Schließlich hat das nationale Gericht, wenn in einem konkreten Fall keine objektive Erklärung dafür gegeben wird, dass das betreffende entleihende Unternehmen auf eine Reihe aufeinanderfolgender Leiharbeitsverträge zurückgreift, vor dem Hintergrund des nationalen Rechtsrahmens und unter Berücksichtigung der Umstände jedes Einzelfalls zu prüfen, ob eine der Bestimmungen der RL 2008/104 umgangen wird, und dies erst recht, wenn es derselbe Leih-AN ist, der dem entleihenden Unternehmen durch die fragliche Reihe von Verträgen überlassen wird.
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Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Zweite Kammer) für Recht erkannt:
Art 5 Abs 5 Satz 1 der RL 2008/104/EG ist dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften nicht entgegensteht, die die Zahl aufeinanderfolgender Überlassungen desselben Leih-AN bei demselben entleihenden Unternehmen nicht beschränken und die Rechtmäßigkeit des Einsatzes von AN-Überlassung nicht von der Angabe der technischen oder mit der Produktion, der Organisation oder der Ersetzung eines AN zusammenhängenden Gründe für den Einsatz der AN-Überlassung abhängig machen. Dagegen ist diese Bestimmung dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehrt, keine Maßnahmen zu ergreifen, um den vorübergehenden Charakter der Leiharbeit zu wahren, und einer nationalen Regelung entgegensteht, die keine Maßnahmen vorsieht, um aufeinanderfolgende Überlassungen desselben Leih-AN an dasselbe entleihende Unternehmen mit dem Ziel, die Bestimmungen der RL 2008/104 insgesamt zu umgehen, zu verhindern.
Im Zentrum der gegenständlichen E steht die Frage, ob eine nationale Rechtslage, die keine zeitliche Beschränkung der Arbeitskräfteüberlassung vorsieht, mit dem EU-Recht vereinbar ist. Diese Frage wurde in Deutschland jahrelang heftig diskutiert und mündete 2018 in einer Regelung, wonach die Höchstdauer der Überlassung grundsätzlich mit 18 Monaten begrenzt ist (§ 1 Abs 1b dt AÜG). In Österreich war die Diskussion dazu relativ verhalten. Ausführlich beschäftigt hat sich mit dieser Frage jedoch Schörghofer. Er kommt 2015 zum Ergebnis, dass teleologische und systematische Argumente eher für ein Verbot der nicht vorübergehenden Überlassung in der RL sprechen (Schörghofer, Grenzfälle der Arbeitskräfteüberlassung [2015] 109). Damit hat er im Grunde damals schon Argumentation und Schlussfolgerungen des EuGH vorweggenommen. Dieser leitet aus der LeiharbeitsRL (RL 2008/104/EG) weiters ab, dass die Mitgliedstaaten dafür Sorge zu tragen haben, „dass Leiharbeit bei demselben entleihenden Unternehmen nicht zu einer Dauersituation für einen Leiharbeitnehmer wird“
(Rn 60).
Damit stellt sich aber die Frage, wann eine vorübergehende Überlassung vorliegt. Der Gerichtshof bleibt hier kryptisch und gibt nur den Hinweis, dass eine Überlassung, „die länger ist als was vernünftigerweise als ‚vorübergehend‘ betrachtet werden kann“ ein Hinweis auf einen missbräuchlichen Einsatz aufeinanderfolgender Überlassungen sein kann (Rn 69). Klare zeitliche Hinweise sind daraus zweifellos nicht zu entnehmen, doch offenbar besteht ein gewisser Spielraum. Überlassungen, die „vernünftigerweise als vorübergehend betrachtet werden können“, sind zulässig. Überlassungen, die länger sind, sind ein Hinweis auf einen missbräuchlichen Einsatz. Welche Zeiträume stehen dabei zur Verfügung? Welche Zeiträume hat der nationale oder europäische Gesetzgeber im Zusammenhang mit Arbeitsverhältnissen als „vorübergehend“ beurteilt? Der kürzeste Zeitraum in diesem Zusammenhang ist 13 Wochen, zu finden in § 101 ArbVG. Auch der Zeitraum nach § 1 Abs 3 Z 4 AÜG (privilegierte Konzernüberlassung) wird in der Lehre mehrheitlich mit 13 Wochen angenommen. Ein weiterer Zeitraum, der relevant sein könnte, wären sechs Monate. So etwa ist eine Überlassung gem § 1 Abs 3 Z 1 AÜG (Überlassung an Beschäftiger, welche die gleiche Erwerbstätigkeit wie der Überlasser ausüben) bis zu einer Höchstdauer von sechs Monaten im Kalenderjahr vorübergehend und die ältere Rsp zur Frage, ob überlassene AN auch als AN des Beschäftigerbetriebes iSd § 36 ArbVG anzusehen sind, stellte auf 285 die Grenze von sechs Monaten ab. Ein Jahr war relevant iZm der Sozialversicherungszugehörigkeit bei grenzüberschreitenden Entsendungen nach der VO (EWG) 1408/71. Nunmehr gilt hier grundsätzlich ein Zeitraum von 24 Monaten gem VO (EG) 883/2004. Nach der ÄnderungsRL zur EntsendeRL (RL 2018/957) liegt eine Langzeitentsendung vor, wenn die tatsächliche Entsendedauer mehr als zwölf Monate beträgt bzw mehr als 18 Monate, wenn der Dienstleistungserbringer eine mit einer Begründung versehene Mitteilung vorlegt. 1 1/2 Jahre ist auch – wie bereits oben erwähnt – die Grenze, die in Deutschland für die Abgrenzung zur vorübergehenden Überlassung gezogen wurde. Weiters wäre noch die Vier-Jahres Grenze gem § 10 Abs 1a AÜG anzuführen, welche seit 2014 idR eine Gleichstellung überlassener AN in Bezug auf im Beschäftigerbetrieb geltende Betriebspensionsregelungen vorsieht. Letztlich sei noch auf die Rsp des OGH hinzuweisen, wonach langjährige Überlassungen – im konkreten Fall ging es um eine neunjährige Überlassung – „atypisch“ sind (OGH 3.12.2003, 9 ObA 113/03p). Der Spielraum der möglichen Orientierungspunkte reicht also von drei Monaten bis zu neun Jahren. Einen weiteren Hinweis könnte der gegenständliche Fall liefern. Es ging um eine Überlassungsdauer von fast zwei Jahren und neun Monaten. Hätte der EuGH für die Abgrenzung einen wesentlich längeren Zeitraum vor Augen gehabt, dann wäre er wahrscheinlich auf die Frage der vorübergehenden Überlassung nicht eingegangen oder hätte zumindest einen Hinweis darauf gegeben, dass diese Frage im gegenständlichen Fall rechtlich nicht relevant ist. Da er sich mit dieser Thematik aber relativ ausführlich auseinandergesetzt hat, kann davon ausgegangen werden, dass der Zeitraum von zwei Jahren und neun Monaten Beachtung verdient und längere Zeiträume daher eher ausscheiden.
Ein weiteres Argument, welches gegen einen mehrjährigen Zeitraum spricht, ist der Hinweis des Gerichtshofs auf den durch die RL angestrebten Ausgleich zwischen dem Flexibilitätsbedarf der Unternehmen einerseits und dem Ziel der Sicherheit, das dem Schutz der AN dient (Rn 50). Sicherheit für den AN verlangt aber insb einen Schutz vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Dieser ist bei überlassenen Arbeitskräften wesentlich schwächer. Wird die Überlassung beendet und der Überlasser kündigt das Arbeitsverhältnis nach einer gewissen Stehzeit, weil er keinen anderen Arbeitsplatz anbieten kann, dann ist eine Kündigungsanfechtung selbst bei Vorliegen einer wesentlichen Interessenbeeinträchtigung wenig aussichtsreich (Näheres zum Kündigungsschutz von Leih-AN siehe Schrattbauer, Arbeitskräfteüberlassung: Chance oder Risiko für Problemgruppen des Arbeitsmarktes? [2015] 90 ff). Vor diesem Hintergrund wäre es unverhältnismäßig, den Flexibilitätsbedarf des Beschäftigers so hoch zu bewerten, dass auch mehrjährige Überlassungen gerechtfertigt wären.
Ein de facto kaum bestehender Kündigungsschutz beeinträchtigt auch die Wahrnehmung von Rechten durch den AN und somit auch der durch die RL geschützten Arbeitsbedingungen. Kann ich vom Beschäftigerbetrieb jederzeit zum Überlasser „zurückgeschickt“ werden, dann ist die Hemmschwelle, vorenthaltene Rechte oder Ansprüche geltend zu machen, naturgemäß wesentlich höher als bei Stamm-AN, die in diesem Fall zumindest einen gewissen Kündigungsschutz gem § 105 Abs 3 Z 1 lit i ArbVG haben.
Es gibt aber auch Argumente gegen eine starre Zeitgrenze. Forst etwa vertritt die Position, dass eine feste Zeitspanne nicht geeignet wäre, den unterschiedlichen Gepflogenheiten in den Mitgliedstaaten und den verschiedenen Branchen hinreichend Rechnung zu tragen. Vielmehr ist „vorübergehend“ als eine flexible Zeitspanne zu verstehen, die jedenfalls von wenigen Tagen bis hin zu mehreren Monaten reichen kann (Forst in Schlachter/Heinig [Hrsg], Europäisches Arbeitsund Sozialrecht, § 16 Rn 58). Denkbar wäre es auch, auf den Grund der Überlassung abzustellen. Eine vorübergehende Überlassung würde demnach dann vorliegen, wenn es von vornherein einen objektiven und klaren Grund für die Befristung gibt und der Zeitraum dafür auch nicht so lange wäre, dass dies nicht mehr als „vorübergehend“ angesehen werden kann.
Derartige flexible Lösungen hätten den Vorteil einer auf den Einzelfall oder auf bestimmte Fälle zugeschnittenen Grenze, jedoch den wesentlichen Nachteil der Rechtsunsicherheit, der in der Praxis tendenziell zu Lasten des AN und jedenfalls zu Lasten der Wirksamkeit ginge.
Jedenfalls beschränkt die RL aufeinanderfolgende Überlassungen desselben Leih-AN an dasselbe entleihende Unternehmen. Darüber hinaus gibt es Anhaltspunkte dafür, dass sich diese Beschränkung nicht bloß auf den konkreten AN bezieht, sondern auch auf den Arbeitsplatz. In Rn 71 stellt der Gerichtshof nämlich auf den konkreten Fall beim Beschäftiger ab und betont am Ende dieser Randnummer, dass dies erst recht gilt, wenn es derselbe Leih-AN ist. Einer objektiven Erklärung bedarf aber bereits das Zurückgreifen auf eine Reihe aufeinanderfolgender Leiharbeitsverträge. Die Beschränkung erfasst also nicht bloß den Fall der wiederholten oder längeren Überlassung eines einzelnen AN, sondern darüber hinaus auch Überlassungen an einen Arbeitsplatz (in diesem Sinne auch Klengel, HSI-Report 3/2020, 7).
Der Spruch erscheint im ersten Augenblick widersprüchlich. Einerseits verlangt die RL nicht, dass die Zahl aufeinanderfolgender Überlassungen beschränkt wird und die Rechtmäßigkeit des Einsatzes von AN-Überlassung von der Angabe bestimmter Gründe abhängig gemacht wird. Andererseits 286 verwehrt die RL – konkret Art 5 Abs 5 Satz 1 – den Mitgliedstaaten, keine Maßnahmen zu ergreifen, um den vorübergehenden Charakter der Leiharbeit zu wahren. Erhellend zur Auflösung dieses scheinbaren Widerspruches sind die Schluss anträge der Generalanwältin. Dort wird der Unterschied zwischen Par 5 der Rahmenvereinbarung über befristete Arbeitsverträge und Art 5 Abs 5 der gegenständlichen RL erörtert und festgestellt, dass erstere Bestimmung konkrete Verpflichtungen festlegt, um Missbrauch durch aufeinanderfolgende befristete Arbeitsverträge zu vermeiden, wohingegen Art 5 Abs 5 der gegenständlichen RL eine allgemeine Verpflichtung festlegt, um Missbrauch durch den Einsatz aufeinanderfolgender Überlassungen zu verhindern. Insofern verlangt Art 5 Abs 5 Satz 1 nicht konkrete Verpflichtungen bzw das Ergreifen bestimmter Maßnahmen, sondern überlässt die Wahl der Maßnahmen in jeder Hinsicht den Mitgliedstaaten. Die Art der Maßnahmen ist also nicht vorgegeben, sehr wohl aber die Funktion, nämlich die Wahrung des vorübergehenden Charakters der Leiharbeit.
Der Auftrag, derartige Maßnahmen zu ergreifen, richtet sich an die Mitgliedstaaten. Dies natürlich unter der Voraussetzung, dass bislang noch keine derartigen Maßnahmen ergriffen wurden bzw bestehende Regelungen nicht unter Anwendung des Grundsatzes der unionsrechtskonformen Auslegung entsprechend interpretiert werden können (siehe auch Rn 65 ff). Wie verhält es sich diesbezüglich mit dem österreichischen Recht? Eine ausdrückliche Beschränkung der Arbeitskräfteüberlassung ist jedenfalls nicht vorgesehen und gegen eine unionsrechtskonforme Interpretation sprechen gewichtige Argumente. Insb § 10 Abs 1a AÜG, der eine mehr als vierjährige Überlassung voraussetzt, steht einer Interpretation, dass das österreichische Recht langfristige Überlassungen nicht zulässt, entgegen (siehe auch Schörghofer, Grenzfälle der Arbeitskräfteüberlassung 31 ff; Schrattbauer, wbl 2015, 502). Demnach liegt der Ball beim Gesetzgeber. Solange dieser nicht tätig ist, wäre folglich ein Anspruch gegen den Staat zu richten (EuGH 19.1.1991, C-6/90, Francovich).
Die Staatshaftung der Mitgliedstaaten bei Verletzung des Unionsrechts tritt unter drei Voraussetzungen ein: Erstens muss die unionsrechtliche Norm, gegen die verstoßen wurde, die Verleihung von Rechten an die Geschädigten bezwecken, zweitens muss der Verstoß gegen diese Norm hinreichend qualifiziert sein und drittens muss zwischen dem entstandenen Schaden und dem vom Mitgliedstaat zu vertretenden Verstoß ein unmittelbarer Kausalzusammenhang bestehen (OGH 26.4.2017, 1 Ob 43/17f unter Hinweis auf die einschlägige Judikatur des EuGH). Die erste Voraussetzung ist zweifellos erfüllt. Die „hinreichende Qualifikation“ der zweiten Voraussetzung ergibt sich aus Art 5 Abs 5 der gegenständlichen RL bzw dem Spruch gegenständlicher Entscheidung iVm der Untätigkeit des Gesetzgebers entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Bei der dritten Voraussetzung ist ein Vergleich zwischen einem Leih-AN und einem Stamm-AN heranzuziehen. Hätten also etwa die Stamm-AN im Betrieb Anspruch auf eine Prämie, die Leih-AN jedoch nicht, dann wäre den nicht bloß vorübergehend überlassenen Leih-AN durch die Untätigkeit des Gesetzgebers ein Schaden entstanden. Ein weiterer möglicher Anwendungsfall kann sich iZm dem Kündigungsschutz ergeben. Bewirbt sich etwa ein langjährig überlassener AN für die Wahl zum BR und wird daraufhin die Überlassung beendet und in Folge sein Arbeitsverhältnis, dann ist die Untätigkeit des Gesetzgebers kausal dafür, dass der besondere Kündigungsschutz nicht greift und die damit in Verbindung stehenden nachteiligen Folgen.
Die Mitgliedstaaten haben Maßnahmen zu ergreifen, um den vorübergehenden Charakter der Leiharbeit zu wahren. Die Art der Maßnahmen wird nicht vorgegeben, sondern dies bleibt zur Gänze den Mitgliedstaaten überlassen. Zur Dauer der zulässigen Überlassung bleibt der Gerichtshof kryptisch. Sie darf nicht länger sein, als was vernünftigerweise als „vorübergehend“ betrachtet werden kann. Eine mehrjährige Überlassung wäre meiner Ansicht nach nicht zulässig.
Da eine richtlinienkonforme Interpretation nicht möglich ist, wäre ein allfälliger Nachteil für den betroffenen Leih-AN als Staatshaftung geltend zu machen. 287