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Leistungsentzug wegen Verletzung von Untersuchungsobliegenheiten nur bei Verhältnismäßigkeit der Untersuchung

SUSANNEAUER-MAYER (WIEN)
  1. Hängt die Entziehung oder Minderung einer Leistung von der Verletzung einer Obliegenheit des/ der Anspruchsberechtigten zur Teilnahme an einer ärztlichen Untersuchung ab und bekämpft er/sie die Entziehungsentscheidung mit Klage vor dem ASG, so ist auch die Frage, ob der Sozialversicherungsträger bei Anordnung der Untersuchung sein Ermessen pflichtgemäß ausgeübt hat, der gerichtlichen Kontrolle unterworfen.

  2. Eine vom Sozialversicherungsträger angeordnete ärztliche Untersuchung muss iSd Art 8 EMRK verhältnismäßig, also geeignet, erforderlich und adäquat sein.

  3. Das Kriterium der Zumutbarkeit dient im Sozialversicherungsrecht dazu, im Einzelfall die Grenze zu ziehen, für welche Risiken auf der einen Seite die Solidargemeinschaft und auf der anderen Seite der Versicherte selbst aufzukommen hat.

[1] Mit Bescheid vom 12.1.2017 gewährte die bekl Pensionsversicherungsanstalt (PVA) dem 1968 geborenen Kl ab 1.1.2017 eine Berufsunfähigkeitspension. Mit Bescheid vom 19.6.2018 bemaß die Bekl das Pflegegeld ab 1.4.2018 neu und erkannte dem Kl ab diesem Zeitpunkt Pflegegeld der Stufe 3 zu.

[2] Am 7.1.2019 unterzog sich der Kl einer Nachuntersuchung durch einen Facharzt für Psychiatrie im Kompetenzzentrum der Bekl. In der chefärztlichen Stellungnahme vom 9.1.2019 wurde festgehalten, dass eine Besserung des Gesundheitszustands ausgeschlossen sei, Berufsunfähigkeit auf Dauer bestehe und berufliche Maßnahmen der Rehabilitation nicht zweckmäßig und zumutbar seien.

[3] Mit Schreiben vom 11.1.2019 lud die Bekl den Kl zu einer Untersuchung für den 25.2.2019 im Kompetenzzentrum Begutachtung ein. Am 25.2.2019 unterzog sich der Kl dort einer weiteren Nachuntersuchung durch eine Fachärztin für Psychiatrie und Neurologie.

[4] Mit Schreiben vom 29.3.2019 lud die Bekl den Kl zu einer ärztlichen Untersuchung in das Kompetenzzentrum Begutachtung für den 20.5.2019 ein, weil der Kl den Einladungen zur ärztlichen Untersuchung bisher nicht Folge geleistet habe. Mit Schreiben vom 9.4.2019 korrigierte die Bekl ihr Schreiben vom 29.3.2019 und führte aus:

„Nachuntersuchung Berufsunfähigkeitspension und PflegegeldSehr geehrter [Kläger]!Zwecks Erstellung eines medizinischen Gutachtens ersuchen wir Sie dringend – in Ihrem eigenen Interesse – zur ärztlichen Untersuchung am 20.5.2019, um 8:15 Uhr, in das Kompetenzzentrum Begutachtung ... zu kommen. ...Wir weisen ausdrücklich darauf hin, dass (gemäß § 99 ASVG und § 29 BPGG) Ihre Leistung ganz oder teilweise aberkannt werden kann, wenn Sie sich einer Nachuntersuchung entziehen.“

[5] Der Kl war am 20.5.2019 sowohl körperlich als auch psychisch in der Lage [...] zu einer Nachuntersuchung zu erscheinen. Dies wäre auch mit keiner Gesundheitsgefährdung einhergegangen. Dies konnte der Kl am 20.5.2019 auch erkennen; nachdem er aber nicht einsehen konnte, warum er innerhalb von fünf Monaten eine weitere Vorladung zwecks dritter Nachuntersuchung erhalten hatte, wollte er den Termin am 20.5.2019 auch gar nicht wahrnehmen.

[6] Mit Bescheid vom 5.7.2019 entzog die Bekl, gestützt auf §§ 9, 26 BPGG, dem Kl mit Ablauf des Monats August 2019 das Pflegegeld. Obwohl auf die Folgen hingewiesen worden sei, sei eine Wiederbegutachtung mangels Mitwirkung des Kl nicht möglich gewesen. Es müsse daher angenommen werden, dass eine wesentliche Besserung im Zustandsbild des Kl eingetreten sei und kein Pflegebedarf mehr bestehe.

[7] Mit dem weiteren Bescheid vom 5.7.2019 entzog die Bekl, gestützt auf §§ 99, 271 und 366 ASVG, dem Kl mit Ablauf des Monats Juli 2019 die Berufsunfähigkeitspension. Der Kl sei ohne triftigen Grund trotz schriftlicher Aufforderung mit Hinweis auf die Folgen seines Verhaltens zu einer ärztlichen Untersuchung nicht erschienen.

[8] Mit seinen [...] Klagen begehrt der Kl, ihm Pflegegeld zumindest in Höhe der Stufe 3 über den Ablauf des Monats August 2019 hinaus [...] und eine Berufsunfähigkeitspension über den Ablauf des Monats Juli 2019 hinaus zuzuerkennen [...].

[...]

[10] Das Erstgericht wies die Klagebegehren gegen beide Bescheide ab [...].

[11] Das Berufungsgericht gab der Berufung des Kl nicht Folge [...]. [...]

[14] Die Revision ist zulässig und iSd hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags des Kl auch berechtigt. [...]

[16] 1. Entziehung von Leistungsansprüchen mangels Mitwirkung des Versicherten

[17] 1.1 Sind die Voraussetzungen einer Leistung nicht mehr vorhanden, ist sie zu entziehen (§ 99 Abs 1 ASVG). Nach § 99 Abs 2 ASVG kann die Leistung auf Zeit ganz oder teilweise entzogen werden, wenn sich der Anspruchsberechtigte nach Hinweis auf diese Folge einer Nachuntersuchung oder Beobachtung entzieht. Eine Entziehung („Versagung“) gem § 99 Abs 2 ASVG kommt daher in Betracht, wenn der Versicherungsträger den Leistungsberechtigten nachweislich zur Nachuntersuchung lädt und der Leistungsberechtigte die Ladung trotz ausdrücklichen Hinweises auf die sonstige Entziehung nicht befolgt (RS0083949). Es muss für den Leistungsberechtigten eindeutig klargestellt sein, dass die Nichtbefolgung der Ladung für ihn negative Folgen haben kann. Sanktioniert wird nur eine schuldhafte (zumindest leicht fahrlässige) 235 Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit (10 ObS 50/17a SSV-NF 31/30 mwH).

[18] 1.2 Vergleichbar ordnet § 26 Abs 1 BPGG unter der Überschrift „Mitwirkungspflicht“ an, dass die Leistung des Pflegegeldes abgelehnt, gemindert oder entzogen werden kann, wenn und solange der Anspruchsberechtigte oder Anspruchswerber ohne triftigen Grund einer schriftlichen Aufforderung zum Erscheinen zu einer ärztlichen Untersuchung nicht entspricht (Z 1) oder eine für die Entscheidungsfindung unerlässliche ärztliche Untersuchung verweigert (Z 2). Voraussetzung für eine bescheidmäßige Entziehung nach § 26 Abs 1 BPGG ist jedoch, dass der Anspruchsberechtigte oder Anspruchswerber auf die Folgen seines Verhaltens nachweislich aufmerksam gemacht worden ist (§ 26 Abs 2 BPGG).

[19] § 26 BPGG hat § 366 ASVG zum Vorbild, der zwar gem § 24 BPGG auch im Verfahren in Pflegegeldsachen anwendbar ist, aber – mit Ausnahme seines Abs 3 – von § 26 BPGG verdrängt wird. Insb ermöglicht § 26 BPGG in einem Fall der Entziehung eines bereits gewährten Pflegegeldes eine differenziertere Vorgangsweise, weil neben einer Entziehung auch eine Minderung des Pflegegeldes nach dieser Bestimmung möglich ist (Pfeil, BPGG 234 ff; Fink, Die verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Bundespflegegeldgesetzes, SozSi 1993, 352; Liebhart, Mitwirkungspflichten beim Pflegegeld, ÖZPR 2013/94, 138). Bei § 26 BPGG handelt es sich – wie bei § 366 ASVG – um eine verfahrensrechtliche Mitwirkungsobliegenheit (Pfeil, „Mitwirkungspflicht“ zur Vermeidung von Pflegebedürftigkeit, ZAS 2013/56, 335 [336]).

[20] 1.3 § 366 ASVG ist eine verfahrensrechtliche Bestimmung des Verfahrens in Leistungssachen (§§ 361 ff ASVG). Anspruchswerber und Anspruchsberechtigte sind gem § 366 Abs 1 ASVG verpflichtet, sich einer ärztlichen Untersuchung oder einer Beobachtung in einer Krankenanstalt zu unterziehen, die der zuständige Versicherungsträger anordnet, um das Vorliegen und den Grad von gesundheitlichen Schädigungen festzustellen, die Voraussetzung für den Anspruch auf eine Leistung sind.

[21] Wird einer Anordnung des Versicherungsträgers iSd § 366 Abs 1 ASVG nicht entsprochen, so kann er gem § 366 Abs 2 ASVG der Entscheidung über den Leistungsanspruch den Sachverhalt, soweit er festgestellt ist, zugrunde legen. Dies darf jedoch nur geschehen, wenn die Anordnung unter Androhung der Säumnisfolgen und mit Setzung einer angemessenen Frist vorgenommen wird. Die Anordnung ist aufzuheben, wenn die aufgeforderte Person glaubhaft macht, dass sie durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis ohne ihr Verschulden verhindert war, der Anordnung fristgerecht nachzukommen.

[22] § 366 ASVG legt eine Nebenpflicht des Anspruchswerbers oder -berechtigten iS einer Duldungspflicht fest, deren Erfüllung nicht unmittelbar erzwungen werden kann, deren Verletzung jedoch Auswirkungen auf die Leistungsgewährung nach sich ziehen kann (10 ObS 406/89 SSV-NF 4/99 = RS0085511).

[23] 2. Anordnung der ärztlichen Untersuchung als Ermessensentscheidung

[24] 2.1 Unstrittig sind die Bescheide der Bekl, mit denen sie die dem Kl bisher gewährte Berufsunfähigkeitspension und das ihm gewährte Pflegegeld entzogen (versagt) hat, im Rahmen der sukzessiven Kompetenz bei den Arbeits- und Sozialgerichten anfechtbar (§ 65 Abs 1 Z 1 ASGG). Die Bekl traf jedoch bereits im Verfahren, das den angefochtenen Entscheidungen vorausgegangen ist, Ermessensentscheidungen über die Anordnung von ärztlichen Untersuchungen (arg: „kann ... entzogen werden“, sowohl in § 99 Abs 2 ASVG, als auch in § 26 Abs 1 BPGG, aber auch § 366 Abs 2 Satz 1 ASVG), um die Grundlagen für die Bescheiderlassung zu schaffen. Die Anordnung einer Untersuchung (oder Beobachtung) ist – anders als die Anordnung von Anstaltspflege oder Wiederaufnahme einer Heilbehandlung nach § 367 Abs 1 Z 1 ASVG – kein Bescheid, sondern eine (nicht mit einem abgesonderten Rechtsmittel anfechtbare) Verfahrensanordnung (Kneihs in SV-Komm [236. Lfg] § 366 ASVG Rz 7).

[25] Voraussetzung für ein Vorgehen des Versicherungsträgers gem § 99 Abs 2 ASVG, § 26 Abs 1 Z 1 und 2 BPGG ist jeweils das Sich-Entziehen bzw das Nichterscheinen oder Verweigern einer vom Versicherungsträger angeordneten ärztlichen Untersuchung (im Fall des § 99 Abs 2 ASVG auch: Beobachtung) durch den Anspruchsberechtigten. Die Regelungen für die Anordnung einer solchen Untersuchung (oder Beobachtung) enthalten § 366 ASVG und § 26 BPGG (bzw auch § 366 ASVG iVm § 24 BPGG). Die Anordnung einer ärztlichen Untersuchung nach den § 366 ASVG bzw § 26 BPGG liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Versicherungsträgers. [...]

[27] 2.3 Im Rahmen der mit dem ASGG geschaffenen sukzessiven Kompetenz der Arbeits- und Sozialgerichte sind Ermessensentscheidungen der Sozialversicherungsträger zumindest im Rahmen der Pflichtleistungen überprüfbar (10 ObS 90/91 SSV-NF 5/42; RS0084427). Das gilt auch für Pflichtaufgaben ohne individuellen Rechtsanspruch (RS0085543 [T3]; 10 ObS 258/02t SSV-NF 17/17; 10 ObS 138/10g SSV-NF 24/81 zu § 196 ASVG).

[28] 2.4 Die Gewährung einer Berufsunfähigkeitspension ist eine Pflichtleistung der PV (§ 222 Abs 1 Z 2 lit c ASVG). Das Pflegegeld ist bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen zu gewähren (§§ 3 ff BPGG). Wird eine Pflichtleistung ganz oder teilweise entzogen (im Fall des Pflegegeldes auch: gemindert), und ist Grundlage dafür die Verweigerung einer ärztlichen Untersuchung (§ 99 Abs 2 ASVG; § 26 Abs 1 Z 1 und 2 BPGG), so betrifft dies im Kern ebenfalls die (Nicht-)Gewährung dieser Pflichtleistung. Bereits daraus folgt, dass die Ausübung des Ermessens des Sozialversicherungsträgers bei Anordnung einer ärztlichen (Nach-)Untersuchung dann, wenn für den Fall ihrer Nichtbefolgung die Entziehung einer Pflichtleistung (oder des Pflegegeldes) nach den genannten Bestimmungen angedroht wird, (auch) diese Entscheidung durch die Arbeits- und Sozialgerichte überprüfbar sein muss, weil die Entscheidungen 237 über die Anordnung einer ärztlichen (Nach-)Untersuchung und der Entziehung in diesen Fällen untrennbar miteinander verbunden sind.

[29] Dies folgt auch aus verfassungsrechtlichen Überlegungen:

[30] 3. Anordnung einer ärztlichen Untersuchung durch den Versicherungsträger und Art 8 EMRK

[31] 3.1 Die Obliegenheit zur Duldung einer vom Sozialversicherungsträger angeordneten ärztlichen Untersuchung steht im Spannungsfeld zwischen den Interessen der Sozialversicherungsträger und damit den Interessen der anderen Versicherten einerseits und dem Recht des Einzelnen auf körperliche Integrität andererseits.

[32] 3.2 Art 8 Abs 1 EMRK schützt den Grundrechtsträger in seinem Recht, selbst über den eigenen Körper zu bestimmen (physische und psychische Integrität des Einzelnen). Er sichert damit (auch) die körperliche Unversehrtheit (Grabenwarter/ Pabel, EMRK7 § 22 Rz 7 [297]). Ein zwangsweiser medizinischer Eingriff, auch wenn er von geringer Bedeutung ist, stellt einen Eingriff in das Recht auf Privatsphäre dar (EMRK Bsw 8278/78, X/Österreich, EvBl 1980/161, Rz 3: gerichtliche Anordnung eines Bluttests in einem Abstammungsverfahren).

[33] 3.3 Hat ein Staat ein System der sozialen Sicherheit geschaffen, so ist er zwar nach der Rsp des EGMR berechtigt, die Bedingungen festzusetzen, die eine Person erfüllen muss, um in den Genuss von Leistungen dieses Systems zu gelangen (EGMR Bsw 15906/08, Schuitemaker/Niederlande, zum Arbeitslosenversicherungsrecht). Dazu zählt auch die Mitwirkung an medizinischen Kontrollen bzw deren Duldung. Allerdings sind – den Leistungsanspruch hindernde – medizinische Eingriffe jeglicher Art nur unter den in Art 8 Abs 2 EMRK genannten Voraussetzungen zulässig, sofern sie nicht mit Zustimmung der betroffenen Person erfolgen. Ohne Einwilligung muss der Eingriff gem Art 8 Abs 2 EMRK gesetzlich vorgesehen und „in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer“ notwendig sein, also einem dieser Ziele dienen (EGMR Bsw 32352/02, Schmidt/Deutschland: Anordnung und Entnahme einer Blut- und Speichelprobe; Schrattbauer in Pfeil, AlV-Komm [57. Lfg] § 8 Rz 35).

[34] 3.4 Der OGH geht davon aus, dass die Feststellung des (weiteren) Vorliegens von Berufsunfähigkeit bzw Pflegebedürftigkeit im Zusammenhang mit den Voraussetzungen für die Gewährung von Geldleistungen aus der PV und nach dem BPGG ein unter dem Gesichtspunkt des Art 8 Abs 2 EMRK zulässiges Ziel ist, welches mit der im Gesetz normierten (aber nicht erzwingbaren) Obliegenheit des Leistungsbeziehers, sich einer ärztlichen Untersuchung zu unterziehen, verfolgt werden darf (vgl zu § 8 Abs 2 AlVG VwGH2003/08/0271; 2013/08/0184). Dies stellt der Revisionswerber auch nicht in Frage.

[35] Wie dargestellt legen sowohl § 366 ASVG als auch § 26 Abs 1 Z 1 und 2 BPGG Nebenpflichten iS von Mitwirkungs- und Duldungsobliegenheiten fest. Diese Pflichten treffen nicht nur Anspruchswerber, sondern – ausdrücklich – auch bereits anspruchsberechtigte Personen. Auch wenn weder der Wortlaut des § 366 ASVG noch jener des § 26 BPGG eine zwangsweise Durchsetzung der Obliegenheit zur Untersuchung vorsieht, kann die Verletzung dieser Obliegenheit – wie gerade auch der vorliegende Fall zeigt – erhebliche Auswirkungen auf die Leistungsgewährung nach sich ziehen. Daran ändert der Umstand, dass die Versagung der Leistung iSd § 99 Abs 2 ASVG nur so lange zulässig ist, wie der Leistungsberechtigte in seinem Fehlverhalten verharrt (RS0083960), nichts. Wie erwähnt sind diese Bestimmungen im Licht des Art 8 EMRK zu interpretieren (Auer-Mayer, Mitverantwortung in der Sozialversicherung [2018] 168 f). [...]

[37] 4. Das Erkenntnis des VfGH vom 11.12.2020, G 264/2019

[38] 4.1 Nach bisher stRsp des OGH ist im Fall einer Rückersatz- oder Kostenersatzpflicht des Versicherten die Möglichkeit der Ratengewährung (§ 107 Abs 3 Z 2 ASVG; § 76 Abs 3 Z 2 GSVG) durch § 89 Abs 4 ASGG ausdrücklich auch den Arbeits- und Sozialgerichten eingeräumt. Der OGH stand jedoch bisher auf dem Standpunkt, dass es der Gesetzgeber des ASGG unterlassen hat, den Gerichten auch die Kompetenz für eine gänzliche oder teilweise Nachsicht der Rückzahlungspflicht (§ 107 Abs 3 Z 1 ASVG; § 76 Abs 3 Z 1 GSVG) zu übertragen (RS0085706). Der VfGH hat mit Erkenntnis vom 11.12.2020, G 264/2019 ( JAS 2021, 195 [M. K. Greifeneder]) die entsprechende Formulierung des § 89 Abs 4 ASGG als verfassungswidrig aufgehoben, weil die Bestimmung dem Rechtsstaatsprinzip widerspricht (die Aufhebung tritt mit 31.12.2021 in Kraft). [...]

[40] 4.3 In diesem Zusammenhang führt der VfGH aus (Rz 40):

„Im Hinblick auf diese Grundsatzentscheidung des ASVG, die für sich genommen keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegnet, setzt die Verfassungsmäßigkeit der Ausgestaltung der sukzessiven Kompetenz der ordentlichen Gerichte in Rückforderungsangelegenheiten voraus, dass den ordentlichen Gerichten im Rahmen ihrer Entscheidung über Rückforderungsansprüche auch die Kognition über den gänzlichen oder teilweisen Verzicht nach § 76 Abs 3 Z 1 GSVG offensteht.“ [...]

[42] 4.4 Auch daraus ist der allgemeine Schluss zu ziehen, dass ein vom Sozialversicherungsträger im Verwaltungsverfahren ausübbares (und ausgeübtes) Ermessen im Rahmen der sukzessiven Kompetenz vom Arbeits- und Sozialgericht darauf überprüft werden kann, ob das Ermessen iSd Gesetzes ausgeübt wurde.

[43] 4.5Zwischenergebnis: Hängt die gänzliche oder teilweise Entziehung oder Minderung einer Leistung (hier: Berufsunfähigkeitspension bzw Pflegegeld) von der behaupteten Verletzung einer Obliegenheit des Anspruchsberechtigten zur Teilnahme an einer vom Versicherungsträger angeordneten ärztlichen Untersuchung ab (§ 99 Abs 2 237 ASVG; § 26 Abs 1 Z 1 und 2 sowie Abs 2 BPGG), und bekämpft der Anspruchsberechtigte die Entziehungsentscheidung in zulässiger Weise mit Klage vor dem Arbeits- und Sozialgericht, so ist die (Vor-) Frage, ob der Versicherungsträger bei der Anordnung dieser ärztlichen Untersuchung sein Ermessen pflichtgemäß ausgeübt hat, der gerichtlichen Kontrolle im Rahmen der sukzessiven Kompetenz der Arbeits- und Sozialgerichte unterworfen.

[44] 5. Anwendung auf den vorliegenden Fall

[45] 5.1 Die hier – auch iSd Art 8 Abs 2 EMRK – zu beurteilende Nachuntersuchung vom 20.5.2019 hat ihre gesetzlichen Grundlagen in § 366 Abs 1 und 2 ASVG und § 26 Abs 1 Z 1 und 2 und Abs 2 BPGG. Die formalen Voraussetzungen dieser Bestimmungen – schriftliche Aufforderung, Hinweis auf die drohenden Folgen bei Nichterscheinen – sind nach den Feststellungen in Bezug auf diese Nachuntersuchung erfüllt, dies ist auch nicht strittig.

[46] 5.2 Eine vom Sozialversicherungsträger nach diesen Bestimmungen angeordnete ärztliche Untersuchung muss iSd Art 8 EMRK darüber hinaus verhältnismäßig, also geeignet, erforderlich und adäquat sein (VwGH2003/08/0271; Kneihs in SV-Komm [236. Lfg] § 366 ASVG Rz 1, 9; Schrattbauer, AlV-Komm § 8 AlVG Rz 35; ausführlich Auer-Mayer, Mitverantwortung 171 ff).

[47] 5.3 Diese Kriterien werden auch in der Rsp des OGH zur Zumutbarkeit von medizinischen Behandlungen im Rahmen der Beurteilung von Behandlungsobliegenheiten herangezogen. Denn das Kriterium der Zumutbarkeit dient im Sozialversicherungsrecht dazu, im Einzelfall die Grenze zu ziehen, für welche Risiken auf der einen Seite die Solidargemeinschaft und welche Risiken auf der anderen Seite der Versicherte selbst aufzukommen hat (Neumayr, Zumutbare Beschäftigung im Arbeitslosen- und Pensionsversicherungsrecht, DRdA 2005, 471).

[48] 5.4 Voraussetzung für eine leistungsschädliche Verletzung der Mitwirkungspflicht ist, dass diese auf einem schuldhaften, also zumindest leicht fahrlässigen Verhalten des Versicherten beruht (Auer-Mayer, Mitverschulden 402 FN 1835 mzwH). Ob ein Verhalten dieser Qualität vorliegt, ist nach den Umständen des Einzelfalls zu beurteilen. Dabei ist zum einen auf objektive Zumutbarkeitskriterien (auf die mit der Maßnahme verbundenen Gefahren, die Erfolgsaussichten, die Folgen unter Berücksichtigung erforderlicher Nach- oder Folgebehandlungen und die damit verbundenen Schmerzen bzw Beeinträchtigungen) abzustellen (RS0084353). Diese Beurteilung hat nicht generell, sondern immer individuell für den oder die Betroffene zu erfolgen (RS0084353 [T12]).

[49] Neben diesen objektiven Zumutbarkeitskriterien sind aber auch subjektive Zumutbarkeitskriterien (wie körperliche und seelische Eigenschaften, familiäre und wirtschaftliche Verhältnisse) zu beachten. So besteht eine Mitwirkungsobliegenheit insb dann nicht, wenn die Erfüllung dem Betroffenen aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden kann. Unter einem wichtigen Grund sind die die Willensbildung bestimmenden Umstände zu verstehen, die die Weigerung entschuldigen und sie als berechtigt erscheinen lassen (RS0084353 [T16]; 10 ObS 4/16k, SSV-NF 30/33 mwN).

[50] 5.5 Die schuldhafte Verletzung der Mitwirkungspflicht ist vom bekl Pensionsversicherungsträger zu behaupten und zu beweisen (RS0084370 [T4]).

[51] 5.6 Im konkreten Fall erweist sich das Verfahren als ergänzungsbedürftig, weil ausreichende Feststellungen fehlen, um beurteilen zu können, ob die von der Bekl für den 20.5.2019 angeordnete (weitere) Nachuntersuchung verhältnismäßig im dargestellten Sinn („geeignet, erforderlich und adäquat“) war.

[52] 5.7 In Bezug auf eine vom Sozialversicherungsträger gem § 366 ASVG bzw § 26 Abs 1 Z 1 und 2 und Abs 2 BPGG angeordnete ärztliche Untersuchung ist in einem ersten Schritt zu prüfen, ob diese tatsächlich geeignet ist, das in § 366 Abs 1 ASVG angesprochene Ziel („... um das Vorliegen und den Grad von gesundheitlichen Schädigungen festzustellen, die Voraussetzung für den Anspruch auf eine Leistung sind“) zu erreichen, um auf diese Weise letztlich das durch die SV zu tragende Risiko zu verringern (10 ObS 213/00x SSV-NF 14/100 ua; Auer-Mayer, Mitverantwortung 171 FN 825 mwH). Dies muss – schon wegen Art 8 EMRK – auch im Anwendungsbereich des § 99 Abs 2 ASVG ebenfalls gelten (Auer-Mayer, Mitverantwortung 402). Auf eine „wesentliche Änderung“ des Gesundheitszustands kommt es entgegen den Ausführungen des Revisionswerbers im Anwendungsbereich des § 366 Abs 1 und 2 ASVG iVm § 99 Abs 2 ASVG sowie des § 26 BPGG schon nach dem Wortlaut dieser Bestimmungen nicht an. Wie bereits ausgeführt, droht die Sanktion der Entziehung nur so lange, wie der Versicherte einer Untersuchungsobliegenheit nicht nachkommt (Auer-Mayer, Mitverantwortung 404 mwH zu § 99 Abs 2 ASVG; ausdrücklich nach dem Wortlaut des § 26 Abs 1 BPGG).

[53] 5.8 Weiters wird zu beurteilen sein, ob die für den 20.5.2019 angeordnete (weitere) Nachuntersuchung im konkreten Fall erforderlich war. Von mehreren geeigneten Maßnahmen zur Feststellung des Gesundheitszustands (und dessen allfälliger Besserung) ist die gelindeste Methode zu wählen.

[54] 5.9 Unter konkreter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls wird schließlich zu prüfen sein, ob die angeordnete Untersuchung im Rahmen einer Abwägung der Interessen des Versicherten und der Versichertengemeinschaft als adäquat anzusehen ist. Dabei geht es letztlich um die Prüfung der Zumutbarkeit der angeordneten Maßnahme für den Versicherten (siehe oben 5.4; 10 ObS 58/11v SSV-NF 25/57; Auer-Mayer, Mitverantwortung 173; Kneihs in SV-Komm § 366 ASVG Rz 9).

[55] 5.10 Im konkreten Fall wird bei der Beurteilung der Verhältnismäßigkeit auch zu berücksichtigen sein, dass die Untersuchung vom 20.5.2019 die dritte innerhalb eines halben Jahres anberaumte Nachuntersuchung war. Der Kl hat ihre Erforderlichkeit vor diesem Hintergrund bestritten. Die Bekl hat allerdings geltend gemacht, dass die Nachuntersuchung vom 20.5.2019 auch der Erstellung weiterer Gutachten aus anderen Fachgebieten als der Psychiatrie dienen sollte (vgl etwa die Ladungen 238 Blg ./5 und ./11, in denen auch Untersuchungen aus den Fachgebieten Orthopädie, orthopädische Chirurgie und Innere Medizin genannt sind). Dieses Vorbringen hat der Kl bestritten. Er weist auch in der Revision darauf hin, dass die Bekl die Entscheidung aufgrund bereits vorhandener Daten (iS eines nach Art 8 EMRK gebotenen „gelinderen“ Mittels im Verhältnis zur angeordneten Untersuchung; vgl Auer-Mayer, Mitverantwortung 173) treffen hätte können. Feststellungen dazu fehlen.

[56] 6. Sollte sich ergeben, dass die für den 20.5.2019 angeordnete Nachuntersuchung objektiv geeignet, erforderlich und adäquat war, so ist dem Kl entgegenzuhalten, dass er die Nachuntersuchung nach den den OGH bindenden Feststellungen nicht wahrnehmen wollte, obwohl er dazu körperlich in der Lage gewesen wäre. Soweit die Revision in diesem Zusammenhang geltend macht, den Kl treffe kein Verschulden daran, diese Untersuchung nicht wahrgenommen zu haben, geht sie nicht von den Feststellungen aus. [...]

ANMERKUNG
1.
Grundsätzliches

Das österreichische Sozialrecht sichert Einzelne bei Eintritt diverser Risikofälle sehr umfassend ab. Die darin zum Ausdruck kommende Solidarität ist jedoch insofern keine „Einbahnstraße“, als die (potentiell) Leistungsberechtigten mit Blick auf die Finanzierbarkeit typischerweise auch – wenngleich leistungsabhängig in unterschiedlichem Maße – Mitverantwortung trifft. Der OGH bejaht im Sozialversicherungsrecht im Lichte der bestehenden Einzelregelungen zur „Verwirkung“ und zu verschiedenen Mitwirkungsobliegenheiten sowie unter Verweis auf den Grundsatz der Schadensminderungspflicht in stRsp gar eine „Allgemeine Mitwirkungs- und Duldungspflicht“ der Versicherten (statt vieler zB OGH10 ObS 149/87 SSV-NF 2/33; OGH10 ObS 58/11vDRdA 2012/50, 586 [A. Burgstaller/K. Binder]). Diese Überlegungen hat er auch auf das Pflegegeld als nicht beitragsfinanzierte Leistung übertragen (OGH10 ObS 143/12w ZAS 2013/56, 335 [krit Pfeil]).

Nun vermag die Rsp zur „Allgemeinen Mitwirkungspflicht“ mE dogmatisch nicht zu überzeugen (ausführlich Auer-Mayer, Mitverantwortung in der Sozialversicherung [2018] 542 ff). Unbestritten ist jedoch, dass der Gesetzgeber diverse Mitwirkungsobliegenheiten vorgesehen hat, deren Verletzung zum (vorübergehenden) Verlust der Leistungsberechtigung führen kann. Soweit es um „gesundheitsabhängige“ Leistungen geht, betreffen diese neben Behandlungsmaßnahmen iwS (vgl zB § 99 Abs 1a ASVG) insb auch notwendige ärztliche Untersuchungen. Mit eben solchen Untersuchungsobliegenheiten musste sich der OGH in der vorliegenden E näher auseinandersetzen. Konkret hatte die PVA dem Kl sowohl das Pflegegeld als auch die Berufsunfähigkeitspension nach Maßgabe der §§ 99, 366 ASVG und § 26 BPGG entzogen, weil er der Ladung zu einer Nachuntersuchung nicht nachgekommen war. Die Besonderheit des Falles lag vor allem darin, dass der Kl bereits zwei Nachuntersuchungstermine wahrgenommen hatte. Erst der Ladung zum dritten Untersuchungstermin innerhalb weniger Monate war er nicht nachgekommen. Davon ausgehend beschäftigt sich der OGH zunächst eingehend mit der Frage, ob die Ermessensausübung der Pensionsversicherungsträger überhaupt einer inhaltlichen Prüfung durch die Gerichte zugänglich ist (vgl sogleich 2). Nachdem er dies überzeugend bejaht, erörtert er in weiterer Folge zu Recht die inhaltlichen Grenzen leistungsrechtlich sanktionierter Untersuchungsobliegenheiten (vgl unten 3). Schlussendlich verweist er die Sache für ergänzende Feststellungen an das Erstgericht zurück.

2.
Überprüfung der Entziehungsentscheidung des Sozialversicherungsträgers zulässig und geboten

Das Verfahren in Sozialrechtssachen weist bekanntlich die Besonderheit der sukzessiven Kompetenz der Gerichte auf: Der bekämpfte Bescheid des Sozialversicherungsträgers tritt mit Anrufung des Gerichts im Umfang des Klagebegehrens außer Kraft und es kommt (mit der Einschränkung eines Verbots der reformatio in peius; vgl nur § 71 Abs 2 ASGG) zu einem neuen, eigenständigen gerichtlichen Verfahren (§ 71 Abs 1 ASGG). An dieser Konstruktion wurde trotz Ermöglichung einer gerichtlichen Kontrolle behördlicher Entscheidungen mit der B-VG-Novelle BGBl I 2013/114 (vgl Art 94 Abs 2 B-VG) nichts geändert (siehe näher nur Neumayr in Neumayr/Reissner [Hrsg], ZellKomm3 [2018] § 65 ASGG Rz 2 f).

Wie der OGH richtig festhält, ist dem Grunde nach nicht zu bestreiten, dass Bescheide der Sozialversicherungsträger über die Entziehung von Leistungen als Sozialrechtssachen iSd § 65 Abs 1 Z 1 ASGG bei den Arbeits- und Sozialgerichten anfechtbar sind. Er sah sich jedoch deshalb zu einer eingehenderen Auseinandersetzung mit den Kompetenzen des Gerichts veranlasst, weil nicht nur die „Sanktionierung“ nach Maßgabe der §§ 99 Abs 2, 366 ASVG und § 26 BPGG im Ermessen des Pensionsversicherungsträgers liegt, sondern diese wiederum auf dessen – nicht selbständig bekämpfbarer – (Ermessens-) Entscheidung über die Anordnung einer weiteren Untersuchung beruhte. Offenkundig ließ es vor allem letztgenannter Umstand aus Sicht des OGH notwendig erscheinen, die gerichtliche Überprüfungsberechtigung (und -pflicht) argumentativ zu untermauern.

Inhaltlich ist der ausführlichen Begründung (zumindest aus Sicht der nicht auf Verfahrensrecht spezialisierten Rezensentin) kaum etwas hinzuzufügen. Das erzielte Ergebnis ist mE vor allem deshalb das einzig richtige, weil eine Entziehung der Pflichtleistungen Berufsunfähigkeitspension und Pflegegeld von vornherein nur bei Vorliegen der diesbezüglichen Sanktionsvoraussetzungen rechtlich zulässig ist (näher unten 3). Nur in diesem Fall „kann“ der Sozialversicherungsträger – muss aber nicht – nach 239 § 99 Abs 2 ASVG bzw § 26 BPGG die Leistung entziehen (bzw nach § 366 Abs 2 ASVG den Sachverhalt zugrunde legen; siehe näher unten 3.1). MaW mag die (Ein-)Ladung zu einer Untersuchung grundsätzlich ebenso im Ermessen des Sozialversicherungsträgers liegen wie die E über Ob und Höhe einer Sanktion. Eine gesetzeskonforme Sanktionsentscheidung kommt aber nur (und erst) dann in Betracht, wenn eine sanktionierbare Verletzung der Mitwirkungsobliegenheit dem Grunde nach vorliegt. Dies wiederum setzt insb voraus, dass die Untersuchung im konkreten Fall – auch unter Berücksichtigung grundrechtlicher Vorgaben – zumutbar war (vgl auch 3.2). War sie dies nicht, muss (und kann nicht nur!) eine Sanktion ausscheiden. Diese Beurteilung muss auch gerichtlich überprüft werden können.

3.
Voraussetzungen der leistungsrechtlichen Sanktion
3.1.
Unterschiedliche Rechtsfolgenanordnungen

Inhaltlich waren für die Entziehungsentscheidung die §§ 99 Abs 2 und § 366 Abs 1 und 2 ASVG sowie § 26 BPGG maßgeblich. Diesen Bestimmungen ist gemeinsam, dass die dort für den Fall der Verletzung von Untersuchungsobliegenheiten vorgesehenen Folgen nur bei entsprechender Ladung und vorheriger Androhung der Säumnisfolgen in Betracht kommen. Letzteres war in concreto unstrittig und soll daher auch nicht weiter vertieft werden. Bevor näher auf die gebotene Verhältnismäßigkeit eingegangen wird (3.2.), scheinen aber einige präzisierende Ausführungen zur „Sanktionswirkung“ der verschiedenen Rechtsgrundlagen angebracht:

Nach § 366 Abs 1 ASVG sind „Anspruchswerber und Anspruchsberechtigte“ ausdrücklich verpflichtet, „sich einer ärztlichen Untersuchung oder einer Beobachtung in einer Krankenanstalt zu unterziehen, die der zuständige Versicherungsträger anordnet, um das Vorliegen und den Grad von gesundheitlichen Schädigungen festzustellen, die Voraussetzung für den Anspruch auf eine Leistung sind“. Wird einer solchen Anordnung nicht entsprochen, kann der Versicherungsträger nach Abs 2 „der Entscheidung über den Leistungsanspruch den Sachverhalt, soweit er festgestellt ist, zugrunde legen“. § 366 ermöglicht dem Sozialversicherungsträger damit gerade nicht zwingend die Entziehung der Leistung. Vielmehr „kann“ er sich lediglich mit dem bis dahin festgestellten Sachverhalt begnügen, ohne sich dem Vorwurf mangelhafter Ermittlungen auszusetzen (idS etwa auch Ivansits/Izgi, Mitwirkungspflichten in der Sozialversicherung unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage nach dem Sozialrechts- Änderungsgesetz [SRÄG] 2012, DRdA 2016, 90 [96]; Auer-Mayer, Grenzen der Mitwirkungspflicht der Versicherten, in Pfeil/Prantner [Hrsg], Krankenversicherung zwischen Leistungsanspruch und Selbstbestimmung der Versicherten [2015] 33 [35 f]). § 366 Abs 2 ASVG zielt damit offenkundig nicht auf die Sanktionierung eines „verpönten“ Verhaltens, sondern „nur“ auf die Lösung des durch die Verweigerung der Untersuchung entstehenden Beweisproblems ab. Ist das Bestehen des Leistungsanspruchs (insb aufgrund vorliegender Befunde) auch ohne die Untersuchung feststellbar – dient diese also etwa nur der Ermittlung einer allenfalls noch höheren Minderung der Arbeitsfähigkeit –, ist die Leistung trotz Verstoßes gegen die Mitwirkungsobliegenheit weiterhin zu gewähren (idS auch Kneihs in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 366 ASVG Rz 12 f [1.10.2019, rdb.at]). Nur wenn das (weitere) Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen ohne die Untersuchung nicht beurteilt werden kann, führt eine Zugrundelegung des Sachverhalts idR zur Verneinung der Anspruchsberechtigung – und in weiterer Folge meist zur Zurückweisung zeitnaher neuerlicher Anträge (vgl § 362 Abs 2 bis 4 ASVG, § 25 Abs 4 BPGG).

Der festgestellte Sachverhalt deutete nun angesichts der bisherigen Befunde gerade nicht auf den Wegfall der Voraussetzungen für eine Berufsunfähigkeitspension oder das Fehlen der Pflegebedürftigkeit hin. Im Gegenteil wurde in der – nur wenige Monate zurückliegenden – chefärztlichen Stellungnahme festgehalten, dass eine Besserung des Gesundheitszustands „ausgeschlossen“ sei, Berufsunfähigkeit auf Dauer bestehe und berufliche Rehabilitationsmaßnahmen nicht zweckmäßig und zumutbar seien. Rechtlich wenig überzeugend ist es daher, wenn die PVA im Bescheid zur Entziehung des Pflegegeldes (wenn auch gestützt auf §§ 9, 26 BPGG und nicht auf § 24 BPGG iVm § 366 ASVG) argumentierte, wegen Unmöglichkeit der Wiederbegutachtung müsse angenommen werden, dass eine wesentliche Besserung im Zustandsbild eingetreten sei und kein Pflegebedarf mehr bestehe. Für die Fiktion des Nichtmehrvorliegens der Pflegebedürftigkeit fehlte mE auf Basis der vorliegenden Befunde jedenfalls die rechtliche Grundlage.

Ebenso ist es aber etwas missverständlich, wenn der OGH davon spricht, § 26 BPGG habe § 366 ASVG „zum Vorbild“. Im Gegensatz zu letztgenannter Bestimmung kann nämlich gem § 26 Abs 1 BPGG die Leistung des Pflegegeldes „abgelehnt, gemindert oder entzogen werden“, wenn und solange der/die Anspruchswerber*in ohne triftigen Grund Untersuchungsobliegenheiten verletzt. Wie § 99 Abs 2 ASVG ermöglicht § 26 Abs 1 BPGG somit nicht (nur) die „Zugrundelegung des Sachverhaltes“, sondern die Verfügung eines sanktionsweisen – gänzlichen oder teilweisen – Leistungsverlusts für die Dauer der Weigerung (näher zu dieser Grenze auch bei § 99 Abs 2 ASVG Auer-Mayer, Mitverantwortung 404 f mwN).

3.2.
Verhältnismäßigkeitsprüfung

Hinsichtlich der Obliegenheit des Kl zur Duldung der Untersuchung betont der OGH überzeugend die (auch) vor dem Hintergrund des Art 8 EMRK gebotene Verhältnismäßigkeit. Dies freilich, ohne dessen Maßgeblichkeit trotz Fehlens unmittelbaren staatlichen Zwangs näher zu thematisieren. Hingewiesen sei dazu zunächst darauf, dass auch im Wege der Drohung mit dem (teilweisen) Verlust von Sozialleistungen erheblicher Druck auf 240 die Betroffenen ausgeübt werden kann. Bezüglich der Versicherungsleistung Berufsunfähigkeitspension lässt sich zudem die verpflichtende (und beitragspflichtige) Einbeziehung in die gesetzliche PV gegen die „Freiwilligkeit“ geforderter Untersuchungen ins Treffen führen. Darüber hinaus würde der Staat seinen grundrechtlichen Schutzpflichten nicht nachkommen, würden Leistungswerbende durch sozialrechtliche Normierungen dazu gebracht, unverhältnismäßige und damit die Privatsphäre verletzende Maßnahmen zu dulden. Nicht zuletzt würde der Verlust ansonsten zustehender Leistungen allein aufgrund der Verweigerung derartiger Maßnahmen einen unverhältnismäßigen Eingriff in das durch Art 1 1. ZPEMRK geschützte Eigentum bedeuten. Denn spätestens seit der E des EGMR in der Rs Gaygusuz (EGMR 16.9.1996, 17371/90) ist klargestellt, dass durch eigene Beitragsleistungen begründete Sozialleistungsansprüche unter den Eigentumsschutz des Art 1 1. ZPEMRK fallen. Auch unabhängig von einer Beitragsleistung gebührende Leistungen sind nach neuerer Rsp unter die Eigentumsgarantie zu subsumieren, sofern ein individueller Rechtsanspruch auf diese besteht (zB EGMR 30.9.2003, 40892/98, Koua Poirrez; EGMR 8.1.2013, 9134/06, Efe) (vgl zum Ganzen ausführlich Auer-Mayer, Mitverantwortung 149 ff, 168 ff mwN).

Sämtliche gesundheitsbezogene Mitwirkungsobliegenheiten sind demnach mit dem OGH grundrechtskonform dahingehend zu interpretieren, dass eine leistungsrechtliche Sanktion nur in Betracht kommt, wenn die konkrete Maßnahme mit Blick auf ein legitimes Ziel geeignet, erforderlich und angemessen ist. Hieran ändert auch nichts, dass eine Zweckbindung der Untersuchung nur in § 366 ASVG („... um das Vorliegen und den Grad von gesundheitlichen Schädigungen festzustellen, die Voraussetzung für den Anspruch auf eine Leistung sind“) und § 26 Abs 1 Z 2 BPGG („eine für die Entscheidungsfindung unerläßliche [sic!] ärztliche Untersuchung verweigert“), nicht aber in § 99 Abs 2 ASVG explizit zum Ausdruck kommt.

Dass die Überprüfung des weiteren Vorliegens der Leistungsvoraussetzungen dem Grunde nach ein legitimes Ziel darstellt, kann wohl ebenso nicht bestritten werden wie der Umstand, dass Untersuchungen bezüglich „gesundheitsabhängiger“ Leistungen grundsätzlich der Erreichung dieses Ziels dienen. Darüber hinaus können Untersuchungen legitimerweise auch die Ermittlung der Möglichkeit und Zumutbarkeit bestimmter (medizinischer oder beruflicher) Maßnahmen und damit (mittelbar) die Beseitigung des Leistungsfalls bezwecken. Damit kann durchaus auch in Fällen, in denen die Leistungsberechtigung als solche nicht fraglich ist, ein berechtigtes Interesse daran bestehen, dass sich Leistungsbeziehende regelmäßigen (Nach-)Untersuchungen unterziehen. Der OGH hatte dennoch völlig zu Recht Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der konkret angeordneten Untersuchung. Denn schon auf Basis des festgestellten Sachverhalts scheint die Zulässigkeit des Leistungsentzugs höchst zweifelhaft:

Was zunächst die Eignung der angeordneten Maßnahme betrifft, so war die Untersuchung wohl dem Grunde nach durchaus geeignet, die gewünschten Informationen zu liefern. Eine zum Zweck der Überprüfung der Leistungsberechtigung angeordnete Untersuchung muss jedoch darüber hinaus zumindest potentiell zum Ergebnis führen, dass die Leistungsvoraussetzungen nicht mehr in der ursprünglichen Form vorliegen. Damit fehlt die Eignung zur Zielerreichung (spätestens aber die Erforderlichkeit) auch dann, wenn dem Sozialversicherungsträger eine Beurteilung bereits aufgrund vorliegender Befunde möglich ist, insb weil eine Änderung des festgestellten Gesundheitszustands mit Auswirkungen auf Ob, Höhe oder Art der Leistungsberechtigung ex ante ausgeschlossen scheint (ähnlich Kneihs in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 366 ASVG Rz 4, 12 f; Jabornegg, Die Entziehung von Leistungsansprüchen nach § 99 ASVG,

[3]). Nichts anderes gilt, falls etwa die Möglichkeit von Rehabilitationsmaßnahmen geprüft werden soll, sich aber schon aus den bisherigen Befunden die diesbezügliche Kontraindikation ergibt. Geht man von der bereits erwähnten ärztlichen Feststellung aus, wonach eine Besserung des Gesundheitszustands des Kl „ausgeschlossen“ war, ergeben sich vor diesem Hintergrund massive Zweifel an der Eignung der – sehr zeitnah vorgesehenen – weiteren Nachuntersuchung. Hieran ändert im Kern auch der Hinweis auf intendierte Befundungen aus anderen Fachgebieten nichts. Denn begründet der Gesundheitszustand schon nach Maßgabe der, erst wenige Monate zurückliegenden, psychiatrischen Begutachtung ohne Besserungsprognose den Anspruch auf (unbefristete) Berufsunfähigkeitspension und Pflegegeld, so erschließt sich die Eignung und Erforderlichkeit derartiger Befundungen ohne konkrete Anhaltspunkte für eine Änderung des Sachverhalts ebenfalls nicht.

Selbst wenn man aber Eignung und Erforderlichkeit der Untersuchung anerkennen wollte, sprechen die Feststellungen dafür, dass die Zulässigkeit des Leistungsentzugs spätestens an der fehlenden Verhältnismäßigkeit ieS scheitert. Deren Beurteilung erfordert nach einhelliger Ansicht eine Interessenabwägung unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls (exemplarisch zu Behandlungsobliegenheiten mwN Schramm in Mosler/Müller/Pfeil [Hrsg], Der SV-Komm § 99 ASVG Rz 11 [1.10.2021, rdb.at]). Nun steht bezüglich der vorgesehenen Untersuchung fest, dass daraus keine Gesundheitsgefährdung resultierte. Feststellungen zu weiteren objektiven und subjektiven Zumutbarkeitskriterien fehlen. Schon die offenkundig sehr geringen Erfolgsaussichten (iSd „Verringerung“ der Leistungspflicht der PVA) deuten aber darauf hin, dass es dem Kl nicht zumutbar war, sich einer dritten Untersuchung innerhalb weniger Monate zu unterziehen. Nicht unerwähnt bleiben soll hier auch, dass dieser bereits vier Tage nach seiner ersten psychiatrischen Begutachtung im Jänner zu einer weiteren psychiatrischen Untersuchung für Ende Februar geladen wurde. Ende März, also nur rund einen Monat später, erfolgte die erneute Ladung zu einer dritten Untersuchung im Mai – all dies trotz der ärztlich ausgeschlossenen Besserung 241 des Gesundheitszustands. Dass eine derartige Vorgangsweise für Leistungsberechtigte (insb ohne nähere Begründung) schwer nachvollziehbar ist oder gar als „Schikane“ empfunden wird, vermag – bei allem Verständnis für die notwendige regelmäßige Überprüfung der Leistungsberechtigung – nicht allzu sehr zu überraschen.

3.3.
Relevanz des Verschuldens der leistungsberechtigten Person

Zuletzt soll noch kurz auf den in der E ebenfalls angesprochenen Aspekt des Verschuldens eingegangen werden. Der OGH führt dazu grundsätzlich zutreffend aus, dass nach einhelliger Ansicht auch das Verschulden der leistungsberechtigten Person Voraussetzung einer leistungsschädlichen Verletzung der Mitwirkungspflicht ist. In weiterer Folge weist er auf die notwendige Berücksichtigung sowohl objektiver als auch subjektiver Zumutbarkeitskriterien hin und nennt, der Rsp zur „Allgemeinen Mitwirkungspflicht“ entsprechend, einerseits die mit der Maßnahme verbundenen Gefahren, Erfolgsaussichten und Folgen unter Berücksichtigung erforderlicher Nach- oder Folgebehandlungen, andererseits Faktoren wie körperliche und seelische Eigenschaften sowie familiäre und wirtschaftliche Verhältnisse als Kriterien. Eine Mitwirkungsobliegenheit bestehe daher insb nicht, wenn die Erfüllung dem/der Betroffenen aus einem wichtigen Grund nicht zugemutet werden könne, der die Weigerung entschuldige und sie als berechtigt erscheinen lasse.

Damit wird freilich die Frage des Verschuldens an der Versäumung konkreter Termine (wie sie etwa in § 366 Abs 2 ASVG ausdrücklich adressiert wird) ein wenig mit jener vermengt, ob die angeordnete Untersuchung als solche zumutbar war und daher die Anordnung überhaupt befolgt werden musste. So fehlt es an der schuldhaften, sohin (auch) subjektiv vorwerfbaren Verletzung einer dem Grunde nach bestehenden Mitwirkungspflicht, wenn der betroffenen Person (nur) die Einhaltung des konkreten Termins (zB wegen dessen Kurzfristigkeit) nicht möglich oder (etwa wegen ihres Gesundheitszustands oder familiärer Notfälle) nicht zumutbar war. Diesbezüglich deutet im Übrigen sowohl die Formulierung des § 99 Abs 2 ASVG („sich ... entzieht“) als auch des § 26 Abs 1 BPGG („nicht entspricht“ [Z 1] bzw „verweigert“ [Z 2]) im Verein mit der notwendigen Aufforderung unter Androhung der Säumnisfolgen auf das Erfordernis eines (zumindest bedingt) vorsätzlichen Verhaltens hin.

Erweist sich dagegen bereits die Untersuchungsanordnung als solche als unverhältnismäßig, verletzen Leistungsberechtigte ihre Mitwirkungsobliegenheit auch dann nicht, wenn sie, wie der Kl, wissentlich und willentlich – somit vorsätzlich – nicht zur Untersuchung erscheinen. Es trifft damit zu, dass sich der Kl nicht auf fehlendes Verschulden berufen könnte, sollte sich die angeordnete Untersuchung als geeignet, erforderlich und adäquat darstellen. Eben dies darf allerdings bezweifelt werden.