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Urlaubsersatzleistung bei unberechtigtem vorzeitigen Austritt

MONIKADRS (WIEN)
§ 10 UrlG; Art 7 RL 2003/88/EG; Art 31 Abs 2 GRC
EuGH 25.11.2021 C-233/20WD gegen job-medium GmbH in Liquidation
  1. Art 7 der RL 2003/88/EG iVm Art 31 Abs 2 der GRC ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, wonach eine Urlaubsersatzleistung für das laufende letzte Arbeitsjahr nicht gebührt, wenn der AN das Arbeitsverhältnis ohne wichtigen Grund vorzeitig einseitig beendet.

  2. Der nationale Richter braucht nicht zu prüfen, ob der Verbrauch der Urlaubstage, auf die der AN Anspruch hatte, für diesen unmöglich war.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Unionsrecht

3. Erwägungsgründe [...]: (4) Die Verbesserung von Sicherheit, Arbeitshygiene und Gesundheitsschutz der AN bei der Arbeit stellen Zielsetzungen dar, die keinen rein wirtschaftlichen Überlegungen untergeordnet werden dürfen.

(5) Alle AN sollten angemessene Ruhezeiten erhalten. Der Begriff „Ruhezeit“ muss in Zeiteinheiten ausgedrückt werden, dh in Tagen, Stunden und/ oder Teilen davon. AN in der Gemeinschaft müssen Mindestruhezeiten – je Tag, Woche und Jahr – sowie angemessene Ruhepausen zugestanden werden. In diesem Zusammenhang muss auch eine wöchentliche Höchstarbeitszeit festgelegt werden.

4. Art 1 [...] (1) Diese RL enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.

5. Art 7 [...] (1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder AN einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.

(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden.

6. Art 23 [...] Unbeschadet des Rechts der Mitgliedstaaten, je nach der Entwicklung der Lage im Bereich der Arbeitszeit unterschiedliche Rechtsund Verwaltungsvorschriften sowie Vertragsvorschriften zu entwickeln, sofern die Mindestvorschriften dieser RL eingehalten werden, stellt die Durchführung dieser RL keine wirksame Rechtfertigung für eine Zurücknahme des allgemeinen AN-Schutzes dar.

Österreichisches Recht

7. § 10 UrlG [...] (2) Eine Ersatzleistung gebührt nicht, wenn der AN ohne wichtigen Grund vorzeitig austritt. [...]

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

8. WD war vom 15.6.2018 bis zum 9.10.2018, dem Tag, an dem er das Arbeitsverhältnis durch unberechtigten vorzeitigen Austritt beendete, bei jobmedium beschäftigt. Im Beschäftigungszeitraum hatte WD einen Urlaubsanspruch von 7,33 Arbeitstagen erworben, von denen er 4 Tage während des Arbeitsverhältnisses verbraucht hatte. Zum Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses hatte WD noch einen Urlaubsanspruch in Höhe von 3,33 Arbeitstagen. Job-mediumlehnte es unter Verweis auf § 10 Abs 2 UrlG ab, die Urlaubsersatzleistung für diese Tage in Höhe von 322,06 € auszubezahlen.

9. Da WD der Ansicht war, dass diese Bestimmung unionsrechtswidrig sei, erhob er Klage auf Zahlung dieser Urlaubsersatzleistung. [...

14. Unter diesen Umständen hat der OGH (Österreich) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist mit Art 31 Abs 2 der Charta und Art 7 der RL 2003/88 eine nationale Vorschrift vereinbar, wonach eine Urlaubsersatzleistung für das laufende (letzte) Arbeitsjahr nicht gebührt, wenn der AN ohne wichtigen Grund vorzeitig einseitig das Dienstverhältnis beendet („Austritt“)

2. Wenn diese Frage verneint wird: Ist dann zusätzlich zu prüfen, ob der Verbrauch des Urlaubs für den AN unmöglich war? Nach welchen Kriterien hat diese Prüfung zu erfolgen? [...]

Zur ersten Frage

23. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art 7 der RL 2003/88 iVm Art 31 Abs 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, wonach eine Urlaubsersatzleistung für das laufende letzte Arbeitsjahr nicht gebührt, wenn der AN [...] das Arbeitsverhältnis ohne wichtigen Grund vorzeitig einseitig beendet.

24. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass nach stRsp des Gerichtshofs der Anspruch jedes AN auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen umsetzen dürfen, die in der RL 2003/88 ausdrücklich gezogen werden (vgl idS Urteil vom 12.6.2014, Bollacke, C-118/13, EU:C:2014:1755, Rn 15 und die dort angeführte Rsp).

25. Art 7 Abs 1 der RL 2003/88 spiegelt das in Art 31 Abs 2 der Charta verankerte Grundrecht auf bezahlten Jahresurlaub wider und konkretisiert es (vgl idS Urteil vom 8.9.2020, Kommission und Rat/Carreras Sequeros ua, C-119/19 P und C-126/19 P, EU:C:2020:676, Rn 115). 388

26. Deshalb darf der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht restriktiv ausgelegt werden (Urteile vom 8.11.2012, Heimann und Toltschin, C-229/11 und C-230/11, EU:C:2012:693, Rn 23, sowie vom 25.6.2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca SpA, C-762/18 und C-37/19, EU:C:2020:504, Rn 55 und die dort angeführte Rsp).

27. Außerdem ergibt sich aus dem Wortlaut der RL 2003/88 und aus der Rsp des Gerichtshofs, dass es zwar Sache der Mitgliedstaaten ist, die Voraussetzungen für die Ausübung und die Umsetzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub festzulegen, sie dabei aber nicht bereits die Entstehung dieses sich unmittelbar aus der RL ergebenden Anspruchs von irgendeiner Voraussetzung abhängig machen dürfen (Urteil vom 25.6.2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca SpA, C-762/18 und C-37/19, EU:C:2020:504, Rn 56 und die dort angeführte Rsp).

28. Insoweit ist auf den Zweck des durch Art 7 Abs 1 der RL 2003/88 jedem AN eingeräumten Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub hinzuweisen, der darin besteht, es dem AN [...] zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm [...] nach seinem [...] Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum der Entspannung und Freizeit zu verfügen. Dieser Zweck, durch den sich der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub von anderen Arten des Urlaubs mit anderen Zwecken unterscheidet, beruht auf der Prämisse, dass der AN [...] im Laufe des Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet hat (Urteile vom 4.10.2018, Dicu, C-12/17, EU:C:2018:799, Rn 27 und 28, sowie vom 25.6.2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca SpA, C-762/18 und C-37/19, EU:C:2020:504, Rn 57 und 58).

nur einen der beiden Aspekte des als unionssozialrechtliches Grundrecht verankerten Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub dar. Dieses Grundrecht umfasst somit auch einen Anspruch auf Bezahlung und – als eng mit diesem Anspruch auf „bezahlten“ Jahresurlaub verbundenen Anspruch – den Anspruch auf eine finanzielle Vergütung für bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Jahresurlaub (Urteil vom 25.6.2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria et Iccrea Banca SpA, C-762/18 und C-37/19, EU:C:2020:504, Rn 83 und die dort angeführte Rsp).

30. Wenn das Arbeitsverhältnis endet, ist es nicht mehr möglich, tatsächlich bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Um zu verhindern, dass dem AN wegen dieser Unmöglichkeit jeder Genuss dieses Anspruchs, selbst in finanzieller Form, verwehrt wird, sieht Art 7 Abs 2 der RL 2003/88 vor, dass der AN Anspruch auf eine finanzielle Vergütung hat (Urteil vom 20.1.2009, Schultz-Hoff ua, C-350/06 und C-520/06, EU:C:2009:18, Rn 56).

31. Ferner ergibt sich aus einer stRsp, dass Art 7 Abs 2 der RL 2003/88 für das Entstehen des Anspruchs auf eine finanzielle Vergütung keine andere Voraussetzung aufstellt als die, dass zum einen das Arbeitsverhältnis beendet ist und dass zum anderen der AN [...] nicht den gesamten

Jahresurlaub genommen hat, auf den er [...] bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch hatte (Urteile vom 6.11.2018, Bauer und Willmeroth, C-569/16 und C-570/16, EU:C:2018:871, Rn 44, und vom 25.6.2020, Varhoven kasatsionen sad na Republika Bulgaria und Iccrea Banca SpA, C-762/18 und C-37/19, EU:C:2020:504, Rn 84 und die dort angeführte Rsp).

32. Somit ist der Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Hinblick auf den Anspruch auf eine finanzielle Vergütung nach Art 7 Abs 2 der RL 2003/88 nicht maßgeblich (vgl idS Urteil vom 20.7.2016, Maschek, C-341/15, EU:C:2016:576, Rn 28).

33. Im vorliegenden Fall hat der AN nach den Angaben des vorlegenden Gerichts während des Bezugszeitraums tatsächlich gearbeitet. Er hat somit einen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erworben, von dem ein Teil bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch nicht verbraucht worden war. Die finanzielle Vergütung für nicht genommene Urlaubstage wurde ihm allein deshalb verweigert, weil er das Arbeitsverhältnis vorzeitig und ohne wichtigen Grund beendet hat.

34. Wie aber in Rn 32 des vorliegenden Urteils ausgeführt wurde, hat der Umstand, dass ein AN sein Arbeitsverhältnis von sich aus beendet, keine Auswirkung darauf, dass er gegebenenfalls eine finanzielle Vergütung für den bezahlten Jahresurlaub beanspruchen kann, den er vor dem Ende seines Arbeitsverhältnisses nicht verbrauchen konnte..

35. Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art 7 der RL 2003/88 iVm Art 31 Abs 2 der Charta dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Vorschrift entgegensteht, wonach eine Urlaubsersatzleistung für das laufende letzte Arbeitsjahr nicht gebührt, wenn der AN [...] das Arbeitsverhältnis ohne wichtigen Grund vorzeitig einseitig beendet.

Zur zweiten Frage

36. Mit der zweiten Frage [...] möchte das vorlegende Gericht wissen, inwieweit und nach welchen Kriterien es zu prüfen hat, ob der Verbrauch des bezahlten Urlaubs für den AN unmöglich war.

37. Da aus den Rn 30 bis 32, 34 und 35 des vorliegenden Urteils hervorgeht, dass der AN in jedem Fall Anspruch auf finanzielle Vergütung für nicht genommene bezahlte Urlaubstage hat, und zwar unabhängig von dem Grund, aus dem er diese nicht verbrauchen konnte, braucht der nationale Richter nicht zu prüfen, ob der Verbrauch dieser bezahlten Urlaubstage für den AN unmöglich war.

ANMERKUNG
1.
Finanzielle Vergütung bei Vertragsbeendigung

Die E des EuGH erging aufgrund eines Vorabentscheidungsersuchens des OGH (9 ObA 137/19s ARD 6703/7/2020), der Zweifel an der Vereinbarkeit von § 10 Abs 2 UrlG mit der Arbeitszeit-RL und der GRC hegte (parallel dazu gibt es noch drei weitere Verfahren zu dieser Frage [OGH 27.5.2020, 9 ObA 11/20f; OGH 27.5.2020, 8 ObA 8/20i; OGH 389

29.4.2020, 9 ObA 142/19a], die alle aufgrund des Verfahrens vor dem EuGH unterbrochen wurden). Im April 2021 kam bereits der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen (ARD 6745/6/2021) zu dem Ergebnis, dass der Entfall der Urlaubsersatzleis tung bei unberechtigtem vorzeitigen Austritt unionsrechtswidrig sei. SE wäre zwar jede Lesart der Arbeitszeit- RL, die den AN dazu veranlassen könnte, aus freien Stücken während des Bezugs- oder Übertragungszeitraums keinen bezahlten Urlaub zu nehmen, um seine Vergütung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu erhöhen, mit den Zielen der RL unvereinbar. Es müsse aber auch eine Konstellation vermieden werden, in der es gänzlich dem AN obläge, für die tatsächliche Wahrnehmung des Anspruchs auf bezahlten Urlaub zu sorgen. Die Rechte des AG und die des AN müssen in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen. Da der Anspruch auf bezahlten Urlaub nicht restriktiv ausgelegt werden darf, muss der Schutz der AG-Interessen strikt erforderlich sein, damit es sich rechtfertigen lässt, eine Ausnahme vom Anspruch des AN auf bezahlten Urlaub einzuräumen. Der Strafcharakter läuft nach Ansicht des Generalanwalts dem Wortlaut und dem Zweck der RL zuwider, umso mehr, als dem AG andere Mittel vertraglicher oder rechtlicher Art zu Gebote stünden, sich Schäden ersetzen zu lassen, die ihm durch den vorzeitigen und grundlosen Austritt seines AN entstehen. Er hält es aufgrund dieser Garantien auch für unwahrscheinlich, dass der AN allein oder hauptsächlich zu dem Zweck, seine Vergütung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zu erhöhen, keinen bezahlten Urlaub nehmen wird.

Das österreichische Urlaubsrecht (§ 10 Abs 2 UrlG) sieht bei unberechtigtem vorzeitigen Austritt des AN – im Gegensatz zu den sonstigen Beendigungsarten – den Verlust der Urlaubsersatzleistung für offene Urlaubsansprüche aus dem laufenden Urlaubsjahr, nicht aber in Bezug auf Alturlaube, vor. Art 7 Abs 2 der Arbeitszeit-RL besagt zwar nur, dass der Urlaubsanspruch außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden darf, es entspricht jedoch stRsp des EuGH, dass dem AN (zwingend) eine finanzielle Abgeltung gebührt, wenn er einen Urlaub vor Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr verbrauchen konnte (EuGH 25.6.2020, C-762/18, QH und C-37/19, CV [rechtswidrige Entlassung]; EuGH 6.11.2018, C-619/16, Kreuziger/Land Berlin [Beendigung der Ausbildung]; EuGH 6.11.2018, C-569/16, Stadt Wuppertal/Bauer und C-570/16, Willmeroth/ Broßonn [Tod des AN]; EuGH 6.11.2018, C-684/16, Max-Planck-Gesellschaft/Shimizu [Fristablauf]; EuGH 20.7.2016, C-341/15, Maschek [Ruhestandsversetzung]; EuGH 12.6.2014, C-118/13, Bollacke [Tod des AN]; EuGH 20.1.2009, C-350/06, Schultz-Hoff und C-520/06 und Stringer [Pensionierung]).

Nach Ansicht des EuGH stellt Art 7 Abs 2 der RL für den Vergütungsanspruch keine andere Voraussetzung auf als die, dass

  • das Arbeitsverhältnis beendet ist und

  • der AN nicht den gesamten Urlaub genommen

  • hat, auf den er bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch hatte (so auch in der vorliegenden E).

In den bisherigen Entscheidungen ging es aber um die Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch den Tod des AN, um rechtswidrig entlassene AN, die Beendigung der Ausbildung, den Fristablauf, die Ruhestandsversetzung bzw Pensionierung, nicht aber um einen unberechtigt vorzeitig austretenden AN – daher die erste Vorlagefrage.

In seinen Entscheidungen hat der EuGH aber wiederholt auch darauf abgestellt, ob es dem AN (un-) möglich war, den gesamten bezahlten Urlaub zu nehmen, der ihm vor dem Ende des Arbeitsverhältnisses zustand – daher die zweite Vorlagefrage.

2.
Anspruch bei unberechtigtem vorzeitigen Austritt

Dagegen wurde vor allem vorgebracht, dass die Beendigung des Arbeitsverhältnisses unberechtigt und damit vom AN (mit-)verschuldet ist. Da der EuGH in seinen bisherigen Entscheidungen zum Vergütungsanspruch niemals auf die Art der Beendigung des Arbeitsverhältnisses abgestellt hat, sondern sogar in den Rs Maschek (Tod des AN) und Stadt Wuppertal/Bauer sowie Willmeroth/Broßonn (Tod des AN) ausdrücklich festgehalten hat, dass der „Grund für die Beendigung des Arbeitsverhältnisses“ für den Anspruch auf eine finanzielle Vergütung „keine Rolle“ spielt, kam die Antwort des EuGH zur ersten Frage mE nicht überraschend.

Dazu ist anzumerken, dass der AN seinen Urlaubsanspruch (der sich mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses in einen Anspruch auf finanzielle Vergütung wandelt) durch die zuvor erbrachte Arbeitsleistung bereits erarbeitet hat.

Nach Ansicht des EuGH ist außerdem die „praktische Wirksamkeit“ der RL zu gewährleisten. Dieses Argument hat in den Rs Bollacke, Stadt Wuppertal/ Bauer und Willmeroth/Broßonn (Tod des AN) eine Rolle gespielt: Dieses unwägbare, weder vom AN noch vom AG beherrschbare Vorkommnis dürfe nicht rückwirkend zum vollständigen Verlust des bezahlten Urlaubsanspruchs führen. Aber auch in den Rs Kreuzinger (Beendigung der Ausbildung) und Shimizu (Fristablauf) hat der EuGH auf die praktische Wirksamkeit abgestellt: Der AG habe in völliger Transparenz dafür zu sorgen, dass der AN tatsächlich in der Lage sei, seinen bezahlten Urlaub zu nehmen. Nur wenn der AG den Beweis erbringen kann, dass der AN aus freien Stücken und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Konsequenzen darauf verzichtet, seinen bezahlten Urlaub zu nehmen, sei ein Verlust dieses Urlaubsanspruchs bzw der finanziellen Vergütung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses zulässig.

3.
(Un-)Möglichkeit des Urlaubsverbrauchs

In zahlreichen Entscheidungen hat der EuGH den Vergütungsanspruch davon abhängig gemacht, ob dem AN der Verbrauch des offenen Urlaubs vor Vertragsbeendigung (un-)möglich war:

In der Rs Maschek ging es um einen AN, der vor seiner Versetzung in den Ruhestand zunächst krankheitsbedingt abwesend (15.11. bis 31.12.2010) und dann unter Entgeltfortzahlung dienstfrei gestellt 390wurde (1.1.2011 bis 30.6.2012). Nach Ansicht des EuGH stand dem AN zwar in Bezug auf die krankheitsbedingte Abwesenheit Ende 2010 eine finanzielle Vergütung für nicht genommenen Urlaub zu, nicht aber für den während der Dienstfreistellung nicht genommenen Urlaub, es sei denn, er konnte den Urlaub wegen Krankheit nicht nehmen.

Auch in den Rs Schultz-Hoff und Stringer (Pensionierung nach längerem Krankenstand), in der Rs Shimizu (Fristablauf) und in der Rs Kreuzinger (Beendigung der Ausbildung) stellte der EuGH auf die (Un-)Möglichkeit des Verbrauchs des offenen Urlaubs vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses ab. In den Rs Shimizu und Rs Kreuzinger führte der EuGH dazu aus, dass der Anspruch auf Urlaub bzw auf Vergütung bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht völlig unabhängig von den Umständen erhalten bleiben müsste, die dazu geführt haben, dass der AN den bezahlten Urlaub nicht genommen hat. Der Abgeltungsanspruch gehe aber nicht automatisch verloren, wenn der AN vorher keinen Urlaubsantrag gestellt hat; es bedarf vielmehr einer vorherigen Prüfung, ob der AG den AN in völliger Transparenz (zB durch angemessene Aufklärung) tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen, indem er ihn zB auffordert, seinen Urlaub zu verbrauchen.

In den Rs Stadt Wuppertal/Bauer und Rs Willmeroth/ Broßonn sowie in der Rs Bollacke hat der EuGH hingegen angesichts des Todes des AN die Frage der (Un-)Möglichkeit des Urlaubsverbrauchs nicht weiter geprüft. So auch in der Rs QH und in der Rs CV, in der es um rechtswidrig entlassene AN ging, die nach der Wiederaufnahme ihrer Beschäftigung infolge gerichtlicher Nichtigerklärung der rechtswidrigen Entlassung erneut entlassen wurden; diesen AN stehe eine Vergütung des während des Zeitraums der rechtswidrigen Entlassung und der Nichtigerklärung der Entlassung erworbenen Urlaubsanspruchs zu. Der Anspruch auf finanzielle Vergütung sei eben an „keine andere Voraussetzung“ geknüpft als diejenige, „dass zum einen das Arbeitsverhältnis beendet ist und dass zum anderen der AN nicht den gesamten Urlaub genommen hat, auf den er bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses Anspruch hatte“. In den Rs QH und CV kam der EuGH aber auch zu dem Ergebnis, dass sich der Vergütungsanspruch um jenen Betrag verkürzt, der dem Zeitraum einer zwischenzeitig aufgenommenen anderen Beschäftigung entspricht (dieser Teil ist vom anderen AG zu verlangen).

Wenn man nun die den EuGH-Entscheidungen zugrunde liegenden Sachverhalte betrachtet, gibt es zwei Gruppen: Bei der ersten Gruppe endet das Arbeitsverhältnis plötzlich (zB durch Tod, Entlassung), weshalb eine Inanspruchnahme des Urlaubs nicht mehr möglich ist. Bei der zweiten Gruppe ist das Ende des Arbeitsverhältnisses hingegen voraussehbar (zB Pensionierung, Fristablauf); in diesen Fällen prüft der EuGH, ob dem AN der Verbrauch des offenen Urlaubs noch vor der Beendigung des Arbeitsverhältnisses möglich war, was er vor allem bei krankheitsbedingten Abwesenheiten verneint.

Auch bei vorzeitigem Austritt endet das Arbeitsverhältnis sofort, weshalb der AN seinen Resturlaub nun nicht mehr verbrauchen kann. Es ist daher nur konsequent, dass der EuGH auch in diesem Fall die (Un-)Möglichkeit des Urlaubsverbrauchs nicht weiter prüfen lässt, nachdem sE weder die Art der Beendigung des Arbeitsverhältnisses noch der Grund dafür eine Rolle spielt (siehe Kap 2.).

4.
.Auswirkungen auf das österreichische Recht

Abschließend ist noch zu erwähnen, dass nach der Rsp des EuGH nationale Gerichte nicht nur eine gefestigte Rsp abzuändern haben, die auf einer Auslegung des nationalen Rechts beruht, die mit den Zielen einer RL unvereinbar ist; sie haben darüber hinaus auch eine nationale Regelung, die nicht im Einklang mit Art 7 der Arbeitszeit-RL und Art 31 Abs 2 der GRC ausgelegt werden kann, unangewendet zu lassen (Rs Shimizu, Rs rStadt Wuppertal/Baue und Rs Willmeroth/Broßonn). Diese unmittelbare Wirkung des Unionsrechts gilt nach Ansicht des EuGH nicht nur für staatliche AG, sondern aufgrund der GRC auch für private AG.

Die österreichischen Gerichte haben daher in Zukunft den Vorrang des Unionsrechts zu berücksichtigen und einem unberechtigt vorzeitig austretenden AN trotz der nationalen Regelung des § 10 Abs 2 UrlG eine Urlaubsersatzleistung auch für das laufende, letzte Urlaubsjahr zuzusprechen. Die AN können diesen Anspruch innerhalb der dreijährigen Verjährungsfrist des ABGB (§ 1486 Z 5) geltend machen, soweit keine kürzere Verfalls- oder Verjährungsfrist im KollV bzw im Arbeitsvertrag vorgesehen ist.

Es stellt sich aber die Frage, ob der Abgeltungsanspruch nur in Bezug auf den vierwöchigen Urlaubsanspruch des Unionsrechts gilt oder auch in Bezug auf den darüber hinausgehenden Urlaubsanspruch nach dem nationalen österreichischen Recht, dh auch für die 5. und 6. Urlaubswoche? Dabei ist zu berücksichtigen, dass Art 7 der Arbeitszeit-RL, aber wohl auch Art 31 Abs 2 der GRC, nur auf den vierwöchigen Urlaubsanspruch anwendbar ist. Dementsprechend kam der EuGH zu dem Ergebnis, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, für den über die Mindestdauer von vier Wochen hinausgehenden Urlaub eigene Regelungen vorzusehen. Zulässig sind daher nationale Rechtsvorschriften, die einen bezahlten Urlaub von mehr als vier Wochen, aber zB keine finanzielle Vergütung für den Fall vorsehen, dass ein (in den Ruhestand tretender) AN diese zusätzlichen Urlaubsansprüche krankheitsbedingt nicht mehr rechtzeitig verbrauchen konnte (EuGH 24.1.2012, C-282/10, Dominguez; EuGH 3.5.2012, C-337/10, Neidl; EuGH Rs Maschek) bzw im Krankheitsfall eine Gutschrift der über diese Mindestdauer hinausgehenden Urlaubstage ausschließen (EuGH 19.11.2019, C-609/17, TSN und C-610/17, AKT). Umgesetzt auf den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass der österreichische Gesetzgeber sehr wohl einen Ausschluss der Urlaubsersatzleistung für die 5. und 6. Urlaubswoche vorsehen darf (idS auch Ludvik, ASoK 2022, 2 ff).

Die Frage ist allerdings, ob es dazu einer neuen unionsrechtskonformen Regelung bedarf, oder ob Urlaubsersatzleistung 391 die nationale Bestimmung, dh § 10 Abs 2 UrlG, nur insoweit unangewendet zu bleiben hat, als sie mit dem Unionsrecht unvereinbar ist. ME spricht vor allem die Formulierung in der Rs Stadt Wuppertal/ Bauer und in der Rs Willmeroth/Broßonn (unmittelbare Wirkung „soweit“ sie nicht im Einklang ... ausgelegt werden könnte) für die 2. Variante. Inzwischen liegt auch die E des OGH im wiederaufgenommenen Verfahren (OGH 17.2.2022, 9 ObA 150/21f), aber auch in den Parallelverfahren des 9. Senats (OGH 17.2.2022, 9 ObA 147/21i) und des 8. Senats (OGH 22.2.2022, 8 ObA 99/21y) vor: Beide Senate gehen offensichtlich ebenfalls von der 2. Variante aus, da sie in den wiederaufgenommenen Verfahren den unberechtigt vorzeitig austretenden AN nur den aliquoten (auf Basis des unionsrechtlichen Mindesturlaubs von vier Wochen zu berechnenden) Teil der Urlaubsersatzleistung (dh 4/5 abzüglich des bereits verbrauchten Urlaubsteils) zusprachen.

ISd Rechtssicherheit wäre es mE aber wünschenswert, wenn der österreichische Gesetzgeber aktiv wird und § 10 Abs 2 UrlG streicht oder entsprechend ändert, indem er den Verlust der aliquoten Urlaubsersatzleistung nur in Bezug auf die 5. und 6. Urlaubswoche vorsieht.