Aus für Abschlagsfreiheit – Neuer Frühstarterbonus kommt
Aus für Abschlagsfreiheit – Neuer Frühstarterbonus kommt
„Dem – aus dem Gleichheitssatz abgeleiteten – Vertrauensschutz kommt gerade im Pensionsrecht besondere Bedeutung zu.“
Im Hinblick auf die Judikatur des VfGH sind so manche Entscheidungen des Gesetzgebers – gerade im Pensionsrecht – im Laufe der letzten Jahre kritisch zu betrachten. Im September 2019 wurde mit einem Abänderungsantrag im Nationalrat (NR) die Wiedereinführung der Abschlagsfreiheit bei Vorliegen von 45 Arbeitsjahren beschlossen und ist am 1.1.2020 in Kraft getreten. Im November 2020 wurde – wieder mit einem Abänderungsantrag im Plenum des NR – das neuerliche Ende der Abschlagsfreiheit mit Ende des Jahres 2021 beschlossen. Die Novelle wurde vom Bundesrat jedoch nicht auf die Tagesordnung gesetzt, weshalb sich die Kundmachung um maximal acht Wochen verzögert.* Ein Fristsetzungsantrag der Regierungsfraktionen wurde vom Bundesrat abgelehnt.
Mit dem Sozialrechts-Änderungsgesetz 2000 – SRÄG 2000 (BGBl 2000/92) begann die Erhöhung des Anfallsalters für vorzeitige Alterspensionen für Frauen von 55 auf 56,5 und für Männer von 60 auf 61,5. Bereits damals wurde im Übergangsrecht (§ 588 Abs 7 idF SRÄG 2000) für Frauen und Männer bestimmter Geburtsjahrgänge die Möglichkeit eines früheren Pensionszugangs bei Vorliegen von 40 bzw 45 Beitragsjahren (inklusive fünf Jahre Kindererziehung und zwölf Monate Präsenz- oder Zivildienst) und mit verminderten Abschlägen eingeführt. Diese „Übergangsbestimmung“ wurde mehrfach verlängert, dh auf weitere Geburtsjahrgänge ausgedehnt (vgl § 607 Abs 12 ASVG, § 617 Abs 13 ASVG). Im Laufe der Jahre – manchmal in Vorwahlzeiten auch mit überraschenden Mehrheiten im Parlament – wurden die auf die 40 bzw 45 Jahre anrechenbaren Zeiten ausgedehnt (zB Krankengeldbezug) und später wieder eingeschränkt. Das Anfallsalter wurde bei Männern von 60 auf 62 erhöht, bei Frauen schrittweise ebenfalls in Richtung 62 (§ 617 Abs 13 ASVG). Die gänzliche Abschlagsfreiheit wurde 2004 eingeführt (PensionsharmonisierungsG BGBl 2004/142), mehrfach verlängert und letztlich ab 1.1.2014 abgeschafft (BudgetbegleitG 2011 BGBl 2010/111BGBl 2010/111). Im September 2019 wurde dann mit dem bereits genannten Abänderungsantrag die Abschlagsfreiheit wiedereingeführt. Technisch wurde die Regelung als neuer Abs 4b in § 236 ASVG eingefügt – eigentlich eine Wartezeitbestimmung, dh die Normierung der erforderlichen Versicherungsmonate und Rahmenzeiträume für die verschiedenen Pensionsarten. Die Abschlagsfreiheit gilt für Langzeitversicherten-, aber auch für Schwerarbeits- und Invaliditätspensionen bei Vorliegen von 45 Arbeitsjahren, wobei höchstens fünf Jahre Kindererziehungszeit berücksichtigt werden. Zeiten des Präsenzoder Zivildienstes zählen nicht, ebenso wenig können Versicherte profitieren, die aus gesundheitlichen Gründen Krankengeldbezugszeiten vorweisen oder arbeitslos werden und deshalb keine 45 Arbeitsjahre erreichen können. Diese Regelung ist ua deshalb auf Kritik gestoßen; kritisiert wurde ebenso die Ungleichbehandlung bzw Nicht-Einbeziehung jener Versicherten, die zwischen 2014 und 2019 mit Abschlägen in Pension gegangen sind.
Als im Herbst 2020 erste Gerüchte in den Medien über Regierungspläne zur „Abschaffung der Hacklerregelung“ (richtig: Abschaffung der Abschlagsfreiheit) auftauchten, wurde eine Sondersitzung im NR für den 3.11.2020 anberaumt, die aber nach dem Terroranschlag in Wien abgesagt wurde. Mitten in den Vorbereitungen für den zweiten Lockdown infolge der COVID- 19-Pandemie und die Diskussionen darüber erfolgte dann die Einigung der Regierungsparteien: Es wurde ein Gesamtändernder Abänderungsantrag (AA-83 27. GP) im NR eingebracht und am nächsten Tag, dem 20.11.2020, beschlossen. Derart weitreichende Neuregelungen im Pensionsrecht, nämlich die Abschaffung der Abschlagsfreiheit einerseits und die Einführung eines Frühstarterbonus andererseits, ohne ordentliches Begutachtungsverfahren auf den Weg zu bringen, ist höchst kritikwürdig. Rechtsunterworfene verlieren wohl eher – und völlig unbegründet – das Vertrauen in das sichere österreichische Pensionssystem, wenn laufend 61 überraschende Novellen beschlossen werden. Ein unter extremem Zeitdruck vorbereiteter Gesetzestext birgt zusätzlich Fehlerquellen, was neuerlich zu Korrektur-Novellen führen muss.
§ 236 Abs 4b ASVG tritt mit Ablauf des 31.12.2021 außer Kraft (§ 745 Abs 2 ASVG). Zusätzlich gibt es eine Wahrungsbestimmung: Auf Personen, die die Anspruchsvoraussetzungen nach § 236 Abs 4b ASVG spätestens am 31.12.2021 erfüllen, ist die Abschlagsfreiheit weiter anzuwenden. Der neue Frühstarterbonus (siehe später) ist in diesen Fällen nicht anzuwenden.
In der Begründung des Antrags wird die Abschlagsfreiheit für eine kleine Gruppe als sozial problematisch und mit hohen Kosten verbunden bezeichnet. Begünstigt würden Personen mit ohnehin weit überdurchschnittlichen Pensionen. Zusätzlich wird argumentiert, dass de facto nur Männer begünstigt würden. Sowohl über die Höhe der Pensionen als auch die Kosten werden verschiedene Zahlen kolportiert. Es ist davon auszugehen, dass die Wiedereinführung von Abschlägen zu Beginn rund 50 Mio € Minderausgaben* pro Jahr bedeuten, wobei sich die Einsparungseffekte über die weitere Pensionsbezugsdauer kumulieren. Die jährlich hinzukommende Einsparung der Abschlagsfreiheit würde jedoch mittel- bis langfristig infolge sich ändernder Erwerbsverläufe (längere Ausbildungsphasen) und auch steigender Arbeitslosenzeiten auf rund 25 bis 30 Mio € sinken. Dem ebenfalls angeführten Argument, dass Frauen nicht begünstigt werden, ist entgegenzuhalten, dass Frauen derzeit die (normale) Alterspension noch mit Vollendung des 60. Lebensjahres ohne Abschläge antreten können. Allerdings beginnt die stufenweise Anhebung des Frauenpensionsalters in wenigen Jahren, womit Frauen in der gleichen Weise von der Abschlagsfreiheit profitiert hätten. Zur Verringerung des zitierten Pension- Gap sind andere Maßnahmen sinnvoll – neben einem Ausbau der Betreuungseinrichtungen und einer gerechten Verteilung unbezahlter Arbeit auch eine höhere Bewertung der Kindererziehungszeiten. Widersprüchlich ist das Argument der zu hohen Kosten für das Pensionssystem in der Antragsbegründung zu manch öffentlicher Äußerung, dieselben Mittel würden nur anders verteilt.*
Ob mit der Übergangsbestimmung von einem Jahr der verfassungsrechtliche Vertrauensschutz gewahrt ist (Zitat aus der Begründung), ist schwierig einzuschätzen. Der Vertrauensschutz wird aus dem Gleichheitssatz abgeleitet. Gerade bei Pensionen und Pensionsanwartschaften kommt dem Vertrauensschutz große Bedeutung zu, weil Personen ihre Lebensführung während der Aktivzeit auf zu erwartende Pensionen einrichten.
Die Frage der Beurteilung der Zulässigkeit von Änderungen erfolgt in einer „Art beweglichem System“ – Ziele des Gesetzgebers, Größe bzw Höhe des Eingriffs, Dringlichkeit, Betroffenheit der Gruppe und auch anderer Gruppen, ausreichende Übergangsfristen müssen gegeneinander abgewogen werden. Eingriffe in das Pensionsrecht zur Reduktion des Defizits öffentlicher Haushalte, zur Verfolgung arbeitsmarktpolitischer Ziele und auch zur Gleichbehandlung von Gruppen wurden vom VfGH als zulässig erachtet. Das bei der vorliegenden Regelung vorgebrachte Ziel der Gleichbehandlung von Frauen und Männern und die Sicherstellung einer nachhaltigen Finanzierung der Altersversorgung ist grundsätzlich ein zulässiges Ziel. Allerdings liegt ein verhältnismäßig großer Eingriff für den Einzelnen im Verhältnis zur Dringlichkeit des Finanzierungsarguments vor. Höhere Eingriffe bei hohen Pensionen wurden vom VfGH als zulässig angesehen – etwa 10 % bei ehemaligen Gemeinderatsmitgliedern ohne Übergangsrecht oder eine 12 %-ige Kürzung von Beamtenpensionen bei frühzeitiger Pensionierung. Der maximal 12,6 %-Abschlag bei vergleichsweise hohen Pensionen liegt wohl von der Höhe des Eingriffs an der Grenze. Vom VfGH wurde bisher meist auch beurteilt, ob der Eingriff Teil eines Maßnahmenpakets ist (zB für Aktive und PensionistInnen) – das ist hier bedingt der Fall; neben der Abschaffung der Abschlagsfreiheit ist eine Aliquotierung der ersten Pensionsanpassung Teil des Pakets. Zu beurteilen sind auch die Plötzlichkeit des Eingriffs und das Übergangsrecht: Je kürzer die Zeit war, in der auf den Bestand einer Altersvorsorge vertraut werden durfte, desto weniger kann sich der Vertrauenstatbestand verfestigt haben und desto geringer ist dementsprechend der Vertrauensschutz. Bei einer Regelung, die erst seit einem Jahr (wieder) in Geltung war, die politisch und medial praktisch laufend diskutiert wurde, könnte argumentiert werden, dass potentiell Betroffene weniger auf den unveränderten Fortbestand vertrauen durften. Die Regelung bleibt ein weiteres Jahr in Kraft und enthält eine Wahrungsbestimmung für alle, die in dieser Zeit die Anspruchsvoraussetzungen des § 236 Abs 4b ASVG erfüllen. Die Versicherten haben aller Wahrscheinlichkeit nach während ihrer Berufslaufbahn keine speziellen Dispositionen im Vertrauen auf diese Rechtslage getroffen. In Betracht zu ziehen wären aber selbstverständlich arbeitsrecht-62liche Dispositionen, wie die Vereinbarung einer Altersteilzeit. Ob die Argumente insgesamt eher für die Zulässigkeit der Abschaffung der Abschlagsfreiheit in der vorliegenden Form sprechen, wird letztlich wohl der VfGH zu entscheiden haben.
Als Maßnahme, die gegen die Altersarmut wirkt und von der Frauen und Männer gleichermaßen profitieren, wird ein Frühstarterbonus eingeführt (§ 262a ASVG). Dieser Bonus ist auf Stichtage ab dem 1.1.2022 anzuwenden (§ 745 Abs 5 ASVG). Der Frühstarterbonus wird zu Pensionen des Alters und zu Invaliditätspensionen gewährt. Es müssen 25 Jahre Erwerbstätigkeit vorliegen; davon müssen mindestens zwölf Monate der Erwerbstätigkeit vor der Vollendung des 20. Lebensjahres liegen. Jeder Erwerbsmonat vor der Vollendung des 20. Lebensjahres bringt € 1,- Pensionsbonus – daher beträgt der Frühstarterbonus maximal € 60,-. Der Frühstarterbonus wird bei der Zuerkennung der Pension berechnet und ist Bestandteil der Pension. Der Betrag (€ 1,-) wird jährlich aufgewertet.
Die von der Regierung in einer Pressekonferenz (vor der Beschlussfassung im Parlament) angekündigten € 840,- (€ 60,- mal 14) erreichen nur wenige Versicherte, weil nur Erwerbszeiten zählen, dh alle Männer, die Präsenz- oder Zivildienst geleistet haben, erhalten weniger. Jene, die mit der Lehre später begonnen haben, erhalten weniger. Frauen, die Kinder vor 20 bekommen haben, erhalten weniger. Jene, die nach einer Handelsschule oder Matura zu arbeiten begonnen haben, erhalten weniger. Jene, die als Hilfsarbeiter gearbeitet haben und arbeitslos oder krank waren, erhalten weniger. Mit dem Argument, dass eine frühe Erwerbstätigkeit mit einem Bonus „belohnt“ werden müsse, weil diese frühen Erwerbsjahre sich nicht allzu positiv auf dem Pensionskonto auswirken, wird das bestehende Pensionskontorecht und seine Logik ausgehöhlt. Teilgutschriften auf dem Pensionskonto werden mit der Lohnentwicklung – besser als früher – aufgewertet; auch Versicherte nach einer Ausbildung beginnen ihre Berufslaufbahn mit oft prekären und gering entlohnten Beschäftigungsverhältnissen. Außerdem wird durch die Einführung des Frühstarterbonus die volle Transparenz und Vorhersehbarkeit des gesetzlichen Pensionsanspruchs für die Betroffenen wieder ausgehöhlt, weil ein „Bonus“ – unter bestimmten Voraussetzungen – am Ende bei Pensionsantritt quasi zusätzlich aufgeschlagen wird. Die angegebenen Gesamtkosten für den Frühstarterbonus erscheinen im Hinblick auf sich ändernde Erwerbsbiographien langfristig nicht realistisch. Während von den Jahrgängen der sogenannten Babyboomer-Generation, die in den nächsten Jahren in Pension gehen werden, vor der Vollendung des 20. Lebensjahres noch etwa 60 % erwerbstätig waren, sind von den heute 20-Jährigen umgekehrt etwa 70 % in einer Ausbildung. Eine denkbare und besser geeignete Variante wäre eine Bonifizierung von abgeschlossenen Berufs- oder Schulausbildungen gewesen. Die Kosten für den Frühstarterbonus betragen bei einem durchschnittlich zu erwartenden Bonus von rund € 45,- in den ersten Jahren etwa 38 Mio € pro Jahr, absinkend auf 13 Mio € jährlich.
Von einem Instrument gegen Altersarmut zu reden (siehe Begründung des Antrags), ist mit einer maximalen Höhe von € 60,- monatlich, die außerdem – wie gezeigt wurde – nur wenige erreichen, sozialpolitisch fragwürdig. Auch zum Frühstarterbonus können sich Fragen der Verfassungskonformität stellen, angesprochen sei hier nur eine mögliche Diskriminierung von Personen, die Präsenz- oder Zivildienst leisten mussten.
Es muss noch einmal betont werden, dass häufige Gesetzgebungsakte in der beschriebenen Form, ohne Diskussion, ohne Beiziehung der Sozialpartner, ohne ordentliches Begutachtungsverfahren, das Vertrauen in das Pensionssystem untergraben können. Es ist zu befürchten, dass AnbieterInnen privater Zusatz- oder Pensionsversicherungen eine solche Vorgangsweise des Gesetzgebers zu nutzen wissen. Es ist klar, dass in der gesetzlichen SV, dass in einem Pensionssystem, immer Anpassungen erforderlich sind, um adäquate Leistungen einerseits und die Finanzierbarkeit andererseits aufrecht erhalten zu können – das wurde in den letzten Jahrzehnten in Österreich bereits unter Beweis gestellt. Unabhängig von der Beurteilung der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit derartiger Novellierungen ist eine Politik der nächtlichen Abänderungsanträge jedenfalls klar abzulehnen. 63