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Konkrete Lebensumstände des Arbeitnehmers sind ausschlaggebend für die Eigenschaft als echter Grenzgänger

BIRGITSDOUTZ
§ 44 AlVG iVm Art 65 VO (EG) 883/2004
VwGH 28.1.2015, 2013/08/0056

Selbst bei einem wöchentlichen Pendeln nach Ungarn ist in weiterer Folge zu prüfen, in welchem Umfang Lebensinteressen in Ungarn vorliegen.

SACHVERHALT

Eine Arbeitslose ist ungarische Staatsbürgerin und hatte zum Zeitpunkt der Antragstellung auf Arbeitslosengeld einen Hauptwohnsitz in Österreich und einen Nebenwohnsitz in Ungarn. Das AMS hat den Antrag mangels Zuständigkeit infolge Fehlens eines ständigen Wohnsitzes bzw eines dauernden, gewöhnlichen Aufenthaltsortes zurückgewiesen.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Als Begründung für die Ablehnung brachte das AMS vor, dass die Arbeitslose niederschriftlich erklärt hat, dass sie jedes Wochenende ca 140 bis 150 km nach Ungarn fahre, um dort ein Haus zu renovieren. Weiters wurde vom AMS niederschriftlich festgehalten, dass die Arbeitslose in Österreich einen Freundeskreis aufgebaut hat und die Wochenenden und die Freizeit mit Freunden verbringt sowie in Österreich in einer 30m² Wohnung lebt und auch das Bankkonto in Österreich hat. Trotz des Wohnsitzes in Österreich behandelte das AMS die Arbeitslose als „echte Grenzgängerin“ gem Art 1 lit f iVm Art 65 Abs 2 und 3 der VO (EG) 883/2004 – mit der Folge, dass nicht die österreichische AlV, sondern der vermeintliche Wohnortstaat Ungarn zuständig sei.

Die Arbeitslose brachte in der Beschwerde dagegen vor, dass das AMS die Bestimmungen des Meldegesetzes unrichtig ausgelegt hat und dass sie bereits im Jahr 2011 Leistungen aus der AlV bezogen hat und somit das AMS selbst davon ausgegangen ist, dass der Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen in Österreich ist und sich seither an den Lebensumständen nichts geändert hat.

Der VwGH hat erwogen, dass das AMS den Sachverhalt nur unzureichend ermittelt hat und allein aus der Angabe der Arbeitslosen, sie fahre jede Woche nach Ungarn, unzulässigerweise auf einen Lebensmittelpunkt in Ungarn geschlossen hat. Selbst bei einem wöchentlichen Pendeln nach Ungarn ist zu prüfen, in welchem Umfang Lebensinteressen in Ungarn vorliegen. Der VwGH hat den Bescheid wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

ORIGINALZITAT AUS DER ENTSCHEIDUNG

„Für die Anwendung des Art. 65 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 kommt es somit nicht bloß – wie von der belangten Behörde offensichtlich angenommen – darauf an, ob der Arbeitnehmer mindestens einmal wöchentlich in den anderen Mitgliedstaat zurückkehrt. Vielmehr sind auch die konkreten Lebensumstände des Arbeitnehmers mit in die Beurteilung einzubeziehen. Folglich hätte sich die belangte Behörde im vorliegenden Fall mit den oben wörtlich wiedergegebenen Vorbringen im Berufungsverfahren auseinandersetzen und Feststel-156lungen zu den tatsächlichen Lebensverhältnissen der Beschwerdeführerin, nämlich sowohl was ihre familiäre Situation und soziale Integration in Ungarn betrifft, als auch hinsichtlich ihrer sozialen Integration und der Dauer ihres Aufenthalts in G, treffen müssen.“

ERLÄUTERUNG

Dieses VwGH-Erk zur Eigenschaft als Grenzgänger für den Leistungsbezug in der AlV weicht von den bisherigen Entscheidungen ab. In gegenständ- lichem Erk stützt sich der VwGH ausdrücklich auf die Gesamtbetrachtung der Lebensumstände und nicht nur darauf, wie oft jemand in den Wohnsitzstaat zurückkehrt, obwohl laut Definition in Art 1 lit f der VO (EG) 883/2004 ein „Grenzgänger“ eine Person ist, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich zurückkehrt.

Trotz dieses Erk entschied der VwGH am gleichen Tag einen anderen Fall nach seiner bisherigen Rechtsansicht: Im Erk 28.1.2015, 2013/08/0074, werden die Lebensumstände nicht einer Gesamtbetrachtung unterzogen, sondern lediglich darauf abgestellt, dass der Arbeitslose zumindest einmal pro Woche während seiner Beschäftigung nach Polen zu seiner Familie zurückgekehrt sei. Obwohl der polnische Arbeitslose belegbar auch an Wochenenden arbeiten musste bzw Wochenenden mit Freunden in Wien verbrachte, wurde er als „echter“ Grenzgänger qualifiziert.