136Keine europarechtlichen Bedenken gegen unterschiedliches Pensionsalter
Keine europarechtlichen Bedenken gegen unterschiedliches Pensionsalter
Das derzeit noch unterschiedliche Pensionsalter verstößt nicht gegen die in der Grundrechtecharta festgelegten Grundsätze der Gleichbehandlung und Nichtdiskriminierung. Der EuGH geht in seiner Rsp davon aus, dass die durch die Ausnahmebestimmung der RL 79/7/EWG ermöglichte Ungleichbehandlung beim Pensionsalter während einer Übergangszeit legitimen Zielen der Sozialpolitik dient.
Der 1950 geborene Kl beantragte im Februar 2012 die Gewährung der Alterspension. Die bekl Sozialversicherungsanstalt lehnte den Antrag ab, weil ein Anspruch erst nach Vollendung des 65. Lebensjahres bestehe.
Im Sozialgerichtsverfahren wurden vom Kl europarechtliche Bedenken vorgebracht. Mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Jahr 2009 habe die Grundrechtecharta der Europäischen Union (GRC) den gleichen Rang wie die Gründungsverträge selbst erhalten. Art 7 Abs 1 lit a RL 79/7/EWG (RL zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit) gelte nicht mehr, weshalb auch vorübergehend das ungleiche Pensionsalter nicht mehr zulässig sei.
Die ordentliche Revision wurde vom OLG zugelassen, weil eine Rsp des OGH zum Verhältnis der GRC zu Art 7 der RL fehle. Der OGH hält die Revision zwar für zulässig, aber inhaltlich für nicht berechtigt. Er sieht sich auch nicht veranlasst, ein Vorabentscheidungsverfahren beim EuGH einzuleiten.
„Zuletzt hat der erkennende Senat in der Entscheidung 10 ObS 35/12p, SSV-NF 26/29, in dem eine außerordentliche Revision zurückweisenden Beschluss seine Auffassung bekräftigt, dass das BVG-Altersgrenzen dem Recht der Europäischen Union nicht widerspricht, ist hiebei aber auf Art 21 Abs 1 und Art 23 Abs 1 GRC nicht ausdrücklich eingegangen. An dieser Auffassung ist festzuhalten. […] Nach Art 23 Abs 1 GRC ist die Gleichheit von Frauen und Männern in allen Bereichen, einschließlich der Beschäftigung, der Arbeit und des Arbeitsentgelts, sicherzustellen. Die Bestimmung kommt in allen Bereichen, daher auch im Bereich der sozialen Sicherheit zum Tragen. […] Art 23 Abs 1 GRC, der daher auch im Bereich der sozialen Sicherheit gilt, macht die nicht einklagbaren Förderungspflichten des Art 8 AEUV und des Art 3 EUV zu rechtlich verbindlichen Pflichten des Uniongesetzgebers. […] Die Mitgliedstaaten sind an die GRC gebunden, wenn sie sekundäres Unionsrecht anwenden, insbesondere Verordnungen und Richtlinien vollziehen und umsetzen. […] Im Bereich der allgemeinen sozialen Sicherheit wurde die Richtlinie 79/7/EWG des Rates vom 19.12.1979 zur schrittweisen Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen im Bereich der sozialen Sicherheit geschaffen (ABl 1979, L 6, 24). […] Das Unionsrecht verpflichtet daher die Mitgliedstaaten, wie sich auch schon aus der Bezeichnung der Richtlinie ergibt, ledig- lich zu einer schrittweisen Verwirklichung der Geschlechtergleichbehandlung auf dem Gebiet des Sozialrechts. Bei der Festsetzung des Anfallsalters für die Alterspension steht es den Mitgliedstaaten frei, zwischen Männern und Frauen unterscheidende Regelungen noch für eine bestimmte Zeit – also nicht unbefristet […] aufrechtzuerhalten. […] Eine feste zeitliche Begrenzung für die Beibehaltung der Ausnahme ist allerdings nicht vorgesehen. […] Aus der bisherigen Rechtsprechung des EuGH lassen sich somit, soweit überblickbar, keine Zweifel an der ‚vorübergehenden‘ Zulässigkeit ungleicher Altersgrenzen in gesetzlichen Pensionssystemen ableiten, die den Mitgliedstaaten durch die Richtlinie 79/7 zugestanden wurde (vgl 10 ObS 35/12p, SSV-NF 26/29). […]
Gemäß § 1 BVG-Altersgrenzen sind gesetzliche Regelungen, die unterschiedliche Altersgrenzen von männlichen und weiblichen Versicherten der gesetzlichen Sozialversicherung vorsehen, zulässig. […] §§ 2 und 3 BVG-Altersgrenzen statuieren ein bundesverfassungsgesetzliches Gebot an den Gesetzgeber, für weibliche Versicherte die Altersgrenze für die vorzeitige und für die ‚reguläre‘ Alterspension innerhalb hiefür vorgesehener Zeiträume in näher bestimmter Weise anzuheben. […] Der Verfassungsgerichtshof sprach schließlich in seinem Erkenntnis G 300/02 ua, VfSlg 16.293/2003, aus, dass angesichts der Detailliertheit der Regelungen des BVG-Altersgrenzen, im Besonderen dessen §§ 2 und 3, davon ausgegangen werden muss, dass der Bundesverfassungsgeber, wäre es ihm darum gegangen, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens des BVG-Altersgrenzen einfachgesetzlich geltenden Altersgrenzen für die vorzeitige (und für die ‚reguläre‘) Alterspension weiblicher Versicherter bundesverfassungsgesetzlich festzuschreiben, dies im Wortlaut des Bundesverfassungsgesetzes zum Ausdruck gebracht hätte. […]
Die Ausnahmebestimmung des Art 7 Abs 1 lit a der Richtlinie 79/7 ist gegenwärtig nicht nur für Österreich, sondern noch für zehn andere Mitgliedstaaten von Bedeutung. […]
Nach Auffassung des Obersten Gerichtshofs verstoßt der präjudizielle § 130 Abs 1 GSVG nicht gegen die161in Art 20, Art 21 Abs 1 und Art 23 Abs 1 GRC verankerten Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung, die Österreich bei der Umsetzung der Richtlinie 79/7 gemäß Art 51 Abs 1 GRC zu beachten hat (vgl EuGH 11.4.2013, C-401/11, Soukupova, Rn 28). […] In ständiger Rechtsprechung des EuGH, die bei der Anwendung des Art 52 Abs 1 GRC zugrunde zu legen ist, geht der Gerichtshof im Bereich der sozialen Sicherheit für die Richtlinie 79/7 bei der Prüfung der Rechtfertigung einer Ungleichbehandlung von der Formulierung aus, dass Art 4 Abs 1 der Richtlinie einer nationalen Maßnahme entgegensteht, ‚sofern diese Maßnahme nicht durch objektive Faktoren gerechtfertigt ist, die nichts mit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts zu tun haben‘. […]
Wann der Zeitpunkt gekommen ist, zu dem ein unterschiedliches Pensionsalter für Frauen und Männer unzulässig ist, weil die Schlechterstellungen von Frauen im Arbeitsleben als beseitigt angesehen werden können, ist auch nach der Rechtsprechung des EGMR zu Art 14 EMRK schwierig oder unmöglich festzustellen. […]“
Verfahrensrechtlich wurde neuerlich betont, dass der vom Kl gestellte Antrag auf Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim EuGH als unzulässig zurückzuweisen ist, weil den Prozessparteien kein diesbezügliches Antragsrecht zukommt – sie können nur die Einleitung eines Verfahrens anregen. Der OGH setzt sich im vorliegenden Fall jedoch selbst ausführlich mit den europarechtlichen Vorgaben auseinander und sieht sich nicht veranlasst, ein EuGH-Verfahren einzuleiten. Nach Auffassung des OGH widerspricht die schrittweise Angleichung des Frauenpensionsalters in Österreich von 2024 bis 2033 nicht der GRC der EU.
Zusätzlich zur europarechtlichen Dimension soll im Folgenden noch ein Blick auf die verfassungsrechtliche Lage und Entwicklung geworfen werden:
Der VfGH hat am 6.12.1990 (VfSlg 12.568) das unterschiedliche Pensionsalter noch als verfassungswidrig aufgehoben. Interessant ist dieses Erk auch insofern, als darin die Entwicklung des Pensionsalters in Österreich zusammengefasst wird: Ein unterschiedliches Pensionsalter gab es in Österreich erstmals 1914 in einer Kaiserlichen VO betreffend die PV der Angestellten. Ab 1.1.1939 galt dann das für beide Geschlechter gleiche Rentenalter des deutschen Sozialversicherungsrechts. Bereits 1946 wurde anlässlich der Budgetberatung (!) die Herabsetzung für weibliche Versicherte gefordert, aber als „aus staatsfinanziellen Gründen nicht tragbar“ abgelehnt. Am 1.7.1948 ist dann doch das BG über die Herabsetzung der Altersgrenze für weibliche Versicherte (auf das 60. Lebensjahr) in Kraft getreten. In der RV wurde ausgeführt, man wolle den durch den deutschen Gesetzgeber verursachten Rückschritt beseitigen.
Eine Herabsetzung des Rentenalters auch für männliche Versicherte müsse auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden, in dem die materiellen Auswirkungen tragbar seien. Der Beginn werde deshalb mit den Frauen gemacht, weil anzunehmen sei, dass sie früher arbeitsunfähig seien. Das unterschiedliche Pensionsalter wurde vom ASVG übernommen.
In seiner Aufhebung des unterschiedlichen Pensionsalters als verfassungswidrig im Jahr 1990 verweist der VfGH darauf, dass es in den rechtspolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers falle, Belastungen von Personen im Arbeitsleben im Pensionsversicherungsrecht auszugleichen. Den bloß nach dem Geschlecht differenzierenden Regelungen fehle jedoch die sachliche Rechtfertigung. Der Gesetzgeber dürfe jedoch auch nicht sofort das gleiche Pensionsalter festsetzen, weil er damit den Vertrauensschutz verletze.
In der Folge wurde vom Gesetzgeber zuerst mit Verfassungsgesetz das (aufgehobene) unterschiedliche Alter neuerlich beschlossen und damit zunächst abgesichert. In den Erläuterungen wurde ausgeführt, eine spätere Gleichsetzung des Alters sei Teil der (geplanten) Strukturreform der PV. Die Reform solle am 1.1.1993 in Kraft treten. Darüber hinaus müsse diese Gleichsetzung in Zusammenhang mit der noch vorhandenen Benachteiligung der Frauen in der Arbeitswelt gesehen werden. Die Bestrebungen, diese Benachteiligungen zu beseitigen, erhielten angesichts der Gleichsetzung des Pensionsanfallsalters besonderes Gewicht.
Formal getrennt, aber in zeitlicher Nähe der Pensionsreform 1993, wurde die derzeit in Geltung stehende verfassungsrechtliche Regelung (BVG-Altersgrenzen BGBl 1992/832) beschlossen: Gem § 2 BVG-Altersgrenzen sollte das Alter für die vorzeitige Alterspension der Frauen beginnend mit 2019 jährlich um sechs Monate erhöht werden. Gem § 3 wird beginnend mit 1.1.2024 das Alter für die (normale) Alterspension jährlich um sechs Monate erhöht. Das bewirkt im Ergebnis, dass für Frauen, die ab dem 2.6.1968 geboren sind, das Pensionsalter 65 (im Jahr 2033) erreicht ist. Die gewählte Form der Angleichung des Pensionsalters wurde 1992 in der RV damit begründet, man wolle bewirken, dass die Regelung nur für Frauen gelten solle, die noch am Anfang ihrer Berufslaufbahn stehen und insoweit ihre Lebensplanung noch nicht auf ein bestimmtes Antrittsalter gestaltet hätten.
In der Folge wurden trotzdem zahlreiche Gesetze beschlossen, die das Frauenpensionsalter betreffen (beispielsweise die schrittweise Aufhebung der vorzeitigen Alterspensionen, die laufende Erhöhung des Antrittsalters bei der sogenannten Hacklerregelung).
Der VfGH musste in einem weiteren Erk vom 27.6.2003 betreffend die Pensionsreform 2000 (VfSlg16216.923) neuerlich (ua) zum Pensionsalter Stellung nehmen (Anm: Bekämpft war die einfachgesetzliche Anhebung des Alters bei den vorzeitigen Alterspensionen bei Frauen von 55 auf 56,5 und bei Männern von 60 auf 61,5). Darin betont der VfGH: Ein unterschiedliches Alter sei nach der Rechtslage des BVG-Altersgrenzen zwar nicht geboten, aber zulässig. §§ 2 und 3 BVG-Altersgrenzen statuieren ein bundesverfassungsrechtliches Gebot an den Gesetzgeber, für weibliche Versicherte die Altersgrenzen innerhalb vorgesehener Zeiträume in näher bestimmter Weise anzupassen. Weiters betont der VfGH zur Begründung der Zulässigkeit der Altersanhebung bei der vorzeitigen Alterspension von 55 auf 56,5 Jahren durch einfaches Gesetz, dass sich im BVG-Altersgrenzen zur gleichzeitigen und gleichmäßigen Anhebung der unterschiedlichen Altersgrenzen für die vorzeitige Alterspension sowohl für männliche als auch für weibliche Versicherte keine Regelung findet.