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Sozialversicherungsabgaben auf Vermögen sind unabhängig vom Arbeitnehmerstatus in die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit einzubeziehen

MARTINATHOMASBERGER
Art 2, 4 und 13 VO (EWG) 1408/71

Die VO 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf AN und Selbstständige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, ist dahin auszulegen, dass Abgaben auf Einkünfte aus dem Vermögen, wenn sie zur Finanzierung der gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit beitragen, eine unmittelbare und relevante Verbindung zu bestimmten der in Art 4 der VO genannten Zweigen der sozialen Sicherheit aufweisen und daher in den Geltungsbereich dieser VO fallen, auch wenn diese Abgaben unabhängig von einer Erwerbstätigkeit des Steuerpflichtigen erhoben werden.

SACHVERHALT

Der Kl im Ausgangsverfahren, Herr de Ruyter, ist niederländischer Staatsangehöriger, der zwar ständig in Frankreich lebt, aber in den Niederlanden bei einem niederländischen Unternehmen arbeitet. Er unterliegt daher dem niederländischen Sozialrecht. Er bezieht neben Einkünften aus unselbstständiger und aus selbstständiger Erwerbstätigkeit auch Einkünfte aus Leibrenten, die von zwei niederländischen Versicherungen ausgezahlt werden. Sämtliche Einkünfte wurden in Frankreich versteuert. Die französischen Finanzbehörden belegten die Einkünfte aus Vermögen in den Jahren 1997 bis 2004 ua mit dem allgemeinen Sozialbeitrag (CGS) und anderen Sozialabgaben, die alle nach dem anwendbaren nationalen Recht auch von Einkünften aus Vermögen eingehoben werden. Nach Angaben des Kl werden die Einkünfte aus Vermögen bereits in den Niederlanden mit Abgaben belegt, die für die Finanzierung der Sozialsysteme verwendet werden.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Der Kl brachte bei der französischen Finanzverwaltung Beschwerde gegen die Einhebung dieser Abgaben ein. Er begründete dies mit Art 13 der VO 1408/71, nach dem Personen, für die die VO gilt, vorbehaltlich der Einschränkungen der Art 14c und 14f, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats unterliegen. Die Besteuerung von Einkünften in zwei oder mehr Mitgliedstaaten mit Abgaben, die der Finanzierung der Systeme der sozialen Sicherheit dienen, widerspreche diesem Grundsatz. Nach divergierenden Rechtsmittelentscheidungen der Unterinstanzen legte das französische Finanzministerium 2009 ein Rechtsmittel beim Conseil d’État, dem französischen Höchstgericht, ein, der die Urteile der Unterinstanzen aufhob und den Beschluss fasste, in der Sache selbst zu entscheiden. Das Gericht gelangte zu der Ansicht, dass festgestellt werden müsse, ob diese Abgaben eine unmittelbare und relevante Verbindung zu bestimmten der in Art 4 der VO 1408/71 genannten Zweigen der sozialen Sicherheit aufwiesen und daher in den Geltungsbereich der VO fallen. Der Conseil d’État beschloss, das Verfahren auszusetzen und dem EuGH zur Vorabentscheidung vorzulegen, ob steuerliche Abgaben auf Einkünfte aus dem Vermögen allein deshalb, weil sie zur Finanzierung der französischen gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit beitragen, eine unmittelbare und relevante Verbindung zu bestimmten der in Art 4 der VO 1408/71 genannten Zweige der sozialen Sicherheit aufweisen, und damit in den Geltungsbereich dieser VO fallen.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„Weisen steuerliche Abgaben auf Einkünfte aus dem Vermögen […] allein deshalb, weil sie zur Finanzierung der französischen gesetzlichen Systeme der sozialen Sicherheit beitragen, eine unmittelbare und relevante Verbindung zu bestimmten der in Art 4 der Verordnung 1408/71 genannten Zweige der sozialen Sicherheit auf, und fallen sie somit in den Geltungsbereich dieser Verordnung? […]

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Verordnung 1408/71 dahin auszulegen ist, dass Abgaben auf Einkünfte aus dem Vermögen wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, wenn sie zur Finanzierung von gesetzlichen Systemen der sozialen Sicherheit beitragen, eine unmittelbare und relevante Verbindung zu bestimmten der in Art 4 der Verordnung 1408/71 genannten Zweige der sozialen Sicherheit aufweisen und daher in den Geltungsbereich dieser Verordnung fallen, auch wenn die Abgaben unabhängig davon auf die Einkünfte aus dem Vermögen der Steuerpflichtigen erhoben werden, ob diese eine Erwerbstätigkeit ausüben.“

ERLÄUTERUNG

Der EuGH verweist in der rechtlichen Beurteilung auf seine ständige Judikatur zum Umfang der Sozialrechtskoordination, die die Gesamtheit der Sozialsysteme der Mitgliedstaaten umfasst (Rn 22) und zum Anwendungsbereich der VO 1408/71, in den alle Vorschriften fallen, die einen hinreichend relevanten und unmittelbaren Zusammenhang mit den in Art 4 aufgeführten Zweigen der sozialen Sicherheit aufweisen (Rn 23). Die Qualifikation einer gesetzlichen Abgabe als Steuer im nationalem Recht schließt nicht aus, dass die Kriterien der Sozialrechtskoordination anzuwenden sind, auch wenn die Abgabe nicht unmittelbar leistungswirksam ist (wie zB die Pensionsversicherungsbeiträge im öster-164reichischen Recht), sondern nur der Finanzierung eines Systems der sozialen Sicherheit dient. Dieser Umstand reicht aus, um einen unmittelbaren und hinreichend relevanten Zusammenhang mit den Regelungen der in Art 4 der VO 1408/71 genannten Zweige der sozialen Sicherheit herzustellen (Rn 23 bis 27).

Der wichtigste Grundsatz der europäischen Sozialrechtskoordination ist, dass es für Wander-AN wie den Kl im Ausgangsverfahren im Bereich der sozialen Sicherheit keine Kumulierung (= Anwendung auf denselben Sachverhalt) von Rechtsvorschriften mehrerer Staaten geben darf. Da der Kl nach den Vorschriften der VO 1408/71 den Sozialrechtsvorschriften seines Beschäftigungsstaats Niederlande unterliegt, widerspricht die Belastung seiner Einkünfte aus Vermögen mit Abgaben in Frankreich, die dem dortigen System der sozialen Sicherheit zuzurechnen sind, der VO 1408/71. Dies träfe sogar dann zu, wenn diese Einkünfte in dem Mitgliedstaat, der für die SV zuständig ist, noch nicht mit Sozialversicherungsbeiträgen belastet worden wären (Rn 38 bis 41).

Der Sachverhalt ereignete sich vor dem Inkrafttreten der VO 883/2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, daher nimmt das Urteil des EuGH nur auf den Geltungsbereich der Vorgänger- VO 1408/71 Bezug, die sich in Art 13 ausdrücklich auf AN bezieht. Der EuGH hatte sich daher mit der Frage auseinanderzusetzen, ob Einkünfte, die nicht unmittelbar aus der Erwerbstätigkeit von Betroffenen resultieren, in die Koordination der Systeme der sozialen Sicherheit einzubeziehen sind.

Das Urteil ist aber auch für die Anwendung der aktuell geltenden VO 883/2004 relevant. Der persönliche Geltungsbereich der VO 883/2004 wurde in Art 2 im Vergleich zu Art 13 der VO 1408/71 zwar etwas weiter gefasst und umfasst alle Unionsbürger, Flüchtlinge und Staatenlose unabhängig von ihrer Erwerbstätigkeit, die ihren Wohnort iSd Art 1 lit j in einem Mitgliedstaat haben, und für die die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten gelten. Die Regelungen der beiden Verordnungen über ihren jeweiligen sachlichen Geltungsbereich unterscheiden sich allerdings nicht wesentlich voneinander, so dass die Rsp des EuGH zu Art 4 VO 1408/71 (so wie das vorliegende Urteil) auch für Sachverhalte als anwendbar gesehen wird, die sich nach Inkrafttreten der VO 883/2004 ereignen (Spiegel in

Spiegel
[Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Art 3 VO 883/2004, Rz 2).

Die Abgaben auf Vermögen, die den Anlassfall für dieses Verfahren bildeten, haben nach den nationalen französischen Bestimmungen den Charakter von Steuern, die mit einer gesetzlichen Zweckbindung für die Finanzierung bestimmter Systeme der sozialen Sicherheit iSd sachlichen Geltungsbereichs der beiden europäischen Verordnungen eingehoben werden (Rn 5 bis 8). Aus den Begründungen des EuGH ergibt sich, dass diese Zweckbindung die notwendige Bedingung dafür ist, den erforderlichen „unmittelbaren und relevanten“ Zusammenhang zu konstituieren, der für die Anwendung der Regelungen über die Sozialrechtskoordination erforderlich ist. Insofern weicht der EuGH nicht von seiner bisherigen Rsp ab. Das Urteil enthält die Klarstellung, dass in grenzüberschreitenden Sachverhalten auch Vermögenssteuern der Sozialrechtskoordinierung unterliegen können, soweit sich aus den nationalen Regelungen eine klare Zweckbindung für die (Finanzierung der) Systeme der sozialen Sicherheit ableiten lässt.