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Betriebsbegriff im Zusammenhang mit Massenentlassungen

DORISLUTZ
RL 98/59/EG
des Rates vom 20.7.1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen (idF RL)
EuGH 30.4.2015, C-80/14, Union of Shop, Distributive and Allied Workers (USDAW), B Wilson/WW Realisation 1 Ltd, in Liquidation, Ethel Austin Ltd, Secretary of State for Business, Innovation and Skills; EuGH 13.5.2015, C-392/13, Andrés Rabal Canas/Nexea Gestión Documental SA, Fondo de Garantia Salarial; EuGH 11.6.2015, C-1/14, Base Company NV, vormals KPN Group Belgium NV, Mobistar NV/Ministerraad, Beteiligte: Belgacom NV

Der Betriebsbegriff der Massenentlassungs-RL ist ein unionsrechtlicher Begriff, der nicht durch Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestimmt werden kann. Wenn ein Unternehmen aus mehreren Einheiten besteht, wird der „Betrieb“ von der Einheit gebildet, der die von der Entlassung betroffenen AN zur Erfüllung ihrer Aufgaben zugewiesen sind. Beendigungen aufgrund des Auslaufens befristeter Verträge sind nicht zu dem Schwellenwert zur Einleitung des nach der Massenentlassungs-RL vorgesehenen Konsultationsverfahrens dazuzuzählen, wenn sie nicht vorzeitig beendet wurden.

SACHVERHALT

Im ersten Fall handelte es sich um eine landesweit unter dem Firmennamen „Woolworths“ bzw „Ethel Austin“ agierende Einzelhandelskette. Nachdem sie zahlungsunfähig geworden war, wurde sie unter Insolvenzverwaltung gestellt, was die Erstellung von Sozialplänen und Entlassungen für Tausende von AN im gesamten Vereinigten Königreich zur Folge hatte. Ein Konsultationsverfahren iSd Massenentlassungs-RL war nicht eingeleitet worden. Ca 4.500 der betroffenen AN waren in Betrieben mit weniger als 20 AN beschäftigt.

Im zweiten Fall war ein Facharbeiter bei der Firma Nexea tätig, einer Gesellschaft, die zur Unternehmensgruppe Correos gehörte, deren gesamtes Gesellschaftskapital von der Sociedad Estatal de Participaciones Industriales (SEPI) gehalten wurde. SEPI ist eine dem Ministerium für Finanzen und öffentliche Verwaltung zugeordnete öffentliche Körperschaft, deren Zweck darin besteht, Unternehmensbeteiligungen, die ihr von der Regierung übertragen werden, zu verwalten und zu rentabilisieren. Im relevanten Zeitpunkt besaß Nexea zwei Betriebe in Madrid (Verwaltungs- und Produktionszentrum) und in Barcelona (Operationszentrum), in denen 164 bzw 20 Personen beschäftigt waren. Im April 2012 beendete Nexea 14 Arbeitsverhältnisse im Madrider Betrieb wegen Umsatzrückgangs und Verlusten. Von August bis November desselben Jahres kam es nacheinander zu insgesamt acht Beendigungen (vier in Barcelona und vier in Madrid). Bei fünf Beendigungen waren befristete Verträge ausgelaufen. Im Dezember wurde dann der Facharbeiter nebst zwölf weiteren AN gekündigt.

Im dritten Fall war Bluebird UK Bidco 2 Ltd (idF Bluebird) Eigentümerin der unter der Firma „Bonmarché“ geführten Geschäfte. Im relevanten Zeitraum betrieb Bonmarché 394 Bekleidungsläden im Vereinigten Königreich mit 4.000 AN. In Nordirland und auf der Isle of Man (die als eine einzige Verwaltungseinheit betrachtet wurden idF Nordirland) betrieb Bonmarché seinerzeit 20 Geschäfte mit 180 AN. Nach Zahlungsunfähigkeit der Voreigentümerin und Übertragung auf Bluebird, leitete diese einen Umstrukturierungsprozess ein, der zu Schließungen von Geschäften führte. Es verblieben im Vereinigten Königreich 265 Läden mit 2.900 AN und in Nordirland 8 Geschäfte mit 75 AN. Die vier klagenden AN waren in Geschäften in Nordirland beschäftigt. Sie hatten in vier verschiedenen Bonmarché-Läden gearbeitet, die sich an unterschiedlichen Orten in Nordirland befanden und in denen jeweils weniger als 20 AN beschäftigt gewesen waren.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Im ersten Fall erhob die Gewerkschaft USDAW im Namen und auf Rechnung mehrerer Tausend Mitglieder Klage, und forderte für die von der Auflösung des Arbeitsverhältnisses betroffenen AN Entlassungsentschädigungen, weil das die RL umsetzende Konsolidierungsgesetz von 1992 über Gewerkschaften und kollektive Arbeitsbeziehungen (TULRCA), das vor Erlass der Sozialpläne ein Konsultationsverfahren vorsieht, nicht entsprechend eingehalten worden war. Einer Reihe von AN wurde eine Entlassungsentschädigung zugesprochen. Etwa 4.500 AN wurde die Entschädigung allerdings mit der Begründung verweigert, dass sie in Ladengeschäften mit weniger als 20 AN gearbeitet hätten und dass jedes Geschäft als eigenständiger Betrieb anzusehen sei.

Im zweiten Fall focht der Facharbeiter seine Entlassung an und machte Nichtigkeit geltend, weil Nexea das für Massenentlassungen nach der RL zwingend vorgeschriebene Konsultationsverfahren umgangen habe. Darüber hinaus machte er geltend, dass der in der nationalen Regelung zur Umsetzung der RL festgelegte Schwellenwert, bei dessen Überschreitung das Verfahren bei Massenentlassungen zwingend anzuwenden ist, erreicht sei, da die Beendigungen aller Arbeitsverträge, einschließlich der befristeten, zu berücksichtigen seien.

Auch im dritten Fall fochten die Kl die Wirksamkeit ihrer Entlassung wegen Verstoßes gegen die Massenentlassungs-RL an.

Die drei Gerichte setzten das Verfahren aus und wandten sich an den EuGH. Fraglich war in allen drei Fällen die für die Berechnung der Zahl der Entlassungen maßgebliche Einheit. Konkret wurde danach gefragt, ob sich der Schwellenwert von „mindestens 20 AN“ auf die in sämtlichen Betrieben des gesamten Unternehmens oder nur auf die Zahl der in jedem einzelnen Betrieb vorgenommenen Entlassungen bezieht. Darüber hinaus wurde dem EuGH die Frage gestellt, ob bei den Schwellenwerten auch Beendigungen aufgrund des Auslaufens befristeter Verträge zu berücksichtigen seien.198

Der EuGH stellte fest, dass es sich bei dem Begriff „Betrieb“, der in der RL selbst nicht definiert ist, um einen unionsrechtlichen Begriff handelt, der nicht durch Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten bestimmt werden kann. Er ist daher in der Unionsrechtsordnung autonom und einheitlich auszulegen. Wenn ein Unternehmen aus mehreren Einheiten besteht, wird der „Betrieb“ von der Einheit gebildet, der die von der Entlassung betroffenen AN zur Erfüllung ihrer Aufgaben zugewiesen sind. Demnach ist es richtlinienkonform, wenn eine nationale Regelung Informations- und Konsultationspflichten dann vorsieht, wenn mindestens 20 AN eines einzelnen Betriebs eines Unternehmens innerhalb von 90 Tagen vorsieht, nicht aber, wenn 20 AN innerhalb desselben Zeitraumes im gesamten Unternehmen entlassen werden.

Darüber hinaus kam der EuGH zu dem Ergebnis, dass Beendigungen aufgrund des Auslaufens befristeter Verträge nicht zum Schwellenwert dazuzuzählen sind, wenn sie nicht vorzeitig beendet wurden.

ORIGINALZITATE AUS DEN ENTSCHEIDUNGEN

„Auch wenn Mitgliedstaaten […] befugt sind, für die Arbeitnehmer günstigere Vorschriften auf der Grundlage von Art. 5 der Richtlinie 98/59 zu erlassen, sind sie jedoch an die autonome und einheitliche Auslegung des unionsrechtlichen Begriffs ‚Betrieb‘ in Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a Ziff. i und ii dieser Richtlinie […] gebunden.

Folglich ergibt sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass bei einem Unternehmen, das aus mehreren Einheiten besteht, die [bestimmte] Kriterien erfüllen, der ‚Betrieb‘ im Sinne von Art. 1 Abs. 1 Unterabs. 1 Buchst. a der Richtlinie 98/59 von der Einheit gebildet wird, der die von der Entlassung betroffenen Arbeitnehmer zur Erfüllung ihrer Aufgabe angehören. Ob die fragliche Einheit eine Leitung hat, die selbständig Massenentlassungen vornehmen kann, ist für die Definition des Begriffs ‚Betrieb‘ nicht entscheidend.

[Der Gerichtshof] hat den Begriff ‚Betrieb‘ weiter präzisiert, wobei […] ein ‚Betrieb‘ im Rahmen eines Unternehmens u.a. eine unterscheidbare Einheit von einer gewissen Dauerhaftigkeit und Stabilität sein kann, die zur Erledigung einer oder mehrerer bestimmter Aufgaben bestimmt ist und über eine Gesamtheit von Arbeitnehmern sowie über technische Mittel und eine organisatorische Struktur zur Erfüllung dieser Aufgaben verfügt. [Er führte auch aus], dass die Richtlinie 98/59 die sozioökonomischen Auswirkungen betrifft, die Massenentlassungen in einem bestimmten örtlichen Kontext und einer bestimmten sozialen Umgebung hervorrufen können, so dass die fragliche Einheit weder rechtliche noch wirtschaftliche, finanzielle, verwaltungsmäßige oder technologische Autonomie besitzen muss […].

Die Auslegung, wonach diese Bestimmung [Art 1, Abs 1, lit a Zi ii] es verlangte, die Gesamtzahl der in allen Betrieben eines Unternehmens vorgenommenen Entlassungen zu berücksichtigen, [würde] zwar die Zahl der Arbeitnehmer, die in den Genuss des Schutzes der Richtlinie 98/59 gelangen könnten, erheblich erhöhen, was einem ihrer Ziele entspräche.

Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass diese Richtlinie nicht nur den Schutz der Arbeitnehmer bei Massenentlassungen stärken soll, sondern auch einen vergleichbaren Schutz der Rechte der Arbeitnehmer in den verschiedenen Mitgliedstaaten im Fall von Massenentlassungen gewährleisten und die für die Unternehmen in der Union mit diesen Schutzvorschriften verbundenen Belastungen einander angleichen soll […].

[Der] Ausschluss der individuellen Beendigungen von Arbeitsverträgen, die für eine bestimmte Zeit oder Tätigkeit geschlossen werden vom Anwendungsbereich der Richtlinie 98/59 ergibt sich gleichwohl eindeutig aus dem Wortlaut und der Systematik dieser Richtlinie.“

ERLÄUTERUNG

Der EuGH hat mit den vorliegenden Entscheidungen klargestellt, dass die von der RL zwingend vorgesehenen Informations-, Konsultations- und Schutzverfahren nur in jenen Fällen greifen sollen, in denen in „Betrieben“ bestimmte Schwellenwerte (10 oder 30, bzw 10 % Beendigungen) überschritten werden. Diese Schwellenwerte sind auf bestimmte Betriebsgrößen (21-99, 100-299, 300 und mehr AN) bezogen. Gleichzeitig müssen die Schwellenwertüberschreitungen in einem gewissen Zeitraum (30 oder 90 Tage) erfolgen. Bei der Umsetzung der RL hat der nationale Gesetzgeber hinsichtlich Zeitraum und Schwellenwertfestsetzung einen gewissen Gestaltungsspielraum. Entweder kann der Schutzmechanismus bei Überschreitung der betriebsgrößenbezogenen Schwellenwerte innerhalb von 30 Tagen oder ab 20 Beendigungen innerhalb von 90 Tagen ausgelöst werden. Unklar war allerdings, ob bei der Berechnung der Schwellenwerte auch alle Betriebe eines Unternehmens einbezogen werden können. Diese Orientierung am „Unternehmen“ als maßgeblicher Einheit für die Berechnung der Schwellenwerte kann je nach Einzelfall eine Erhöhung oder eine Verminderung des Schutzniveaus für die betroffenen AN bewirken. Der EuGH hat sich für eine homogene Auslegung entschieden. Die maßgebliche Bezugsgröße soll der Betrieb sein, nur im Falle der Vergrößerung des Schutzniveaus soll es dem nationalen Gesetzgeber gestattet sein, die Bezugsgröße „Unternehmen“ einzuführen. Dies begründete der EuGH vor allem damit, dass Ziel der RL auch sei, einen vergleichbaren Schutz der Rechte der AN in den verschiedenen Mitgliedstaaten im Fall von Massenentlassungen zu gewährleisten und die für die Unternehmen in der Union mit diesen Schutzvorschriften verbundenen Belastungen einander anzugleichen. In Anbetracht der Gestaltbarkeit betrieblicher Strukturen (Stichwort „Filialisierung“) und der damit einhergehenden Möglichkeiten, ohne199 Überschreitung der Schwellenwerte die Auflösung von Arbeitsverhältnissen vorzunehmen, entspricht dieses Ergebnis nicht dem Schutzziel der RL. Diese Bedenken sind auch dadurch nicht zu zerstreuen, dass es sich bei der Klärung, was letztlich die örtliche Beschäftigungseinheit ist, um eine Tatsachenfrage handelt, die von den nationalen Gerichten zu klären ist. Der österreichische Betriebsbegriff nach 34 ArbVG und § 45a AMFG entspricht wohl aber diesen unionsrechtlichen Vorgaben.