159Kurze Beschäftigung in Österreich und fehlende Anhaltspunkte für eine persönliche Bindung oder soziale Kontakte sprechen für die Annahme, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen eines Arbeitslosen in Polen liegt
Kurze Beschäftigung in Österreich und fehlende Anhaltspunkte für eine persönliche Bindung oder soziale Kontakte sprechen für die Annahme, dass der Mittelpunkt der Lebensinteressen eines Arbeitslosen in Polen liegt
Der Antrag auf Arbeitslosengeld eines polnischen Staatsbürgers wurde vom AMS mangels Zuständigkeit abgewiesen.
Die Abweisung durch das AMS erfolgte mit der Begründung, dass der Arbeitslose während seiner letzten Beschäftigung in Österreich mindestens einmal wöchentlich in seinen Heimatstaat Polen zurückgekehrt ist und seine Familie sich ebenfalls in Polen aufhält. Er habe somit seinen Wohnsitz und seinen Lebensmittelpunkt in Polen und sei somit iSd Definition des Art 1 lit f der VO (EG) 883/2004 als echter Grenzgänger zu qualifizieren. Für die Leistungsgewährung sei somit gem Art 65 Abs 2 der VO (EG) 883/2004 der Wohnmitgliedstaat Polen zuständig. Der Arbeitslose brachte in der Beschwerde dagegen vor, dass er nicht wöchentlich in seinen Heimatstaat Polen zurückgekehrt ist und er während seiner letzten 18 Monate andauernden Beschäftigung in Österreich hauptgemeldet war. Weiters wies er darauf hin, dass der Mittelpunkt seiner Lebensinteressen an demjenigen Ort ist, wo sich eine Person ständig aufhält.
Das BVwG hat die E des AMS bestätigt. Zwar sei das Vorbringen des Arbeitslosen, dass er nicht zumindest einmal wöchentlich an seinen Wohnort nach Polen zurückkehrt ist, glaubhaft, da die Heimreise aufgrund der großen Entfernung mit hohen Kosten und großen Mühen verbunden war. Der Arbeitslose habe aber außer seiner beruflichen Tätigkeit keine persönlichen und sozialen Bindungen in Österreich.
„Voraussetzung für den in Art. 65 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 vorgesehenen Statutenwechsel ist, dass der Ort der letzten Beschäftigung und der Wohnort der (voll)arbeitslosen Person auseinanderfallen. Als Wohnort gilt nach der Definition des Art. 1 lit. j der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 der Ort des gewöhnlichen Aufenthalts einer Person. Dieser ist nach der Rechtsprechung des EuGH dadurch gekennzeichnet, dass es sich um den Ort handelt, in dem sich der gewöhnliche Mittelpunkt der Interessen der betreffenden Person befindet. Ein Indiz zur Feststellung dieses Ortes ist etwa der Wohnort der Familie (vgl. das Urteil des EuGH vom 17.02.1977, Rs 76/76, Di Paolo, Rn 17 und 20 sowie Felten in
Im Lichte der o.a. Judikatur folgt daraus, dass der Beschwerdeführer – trotz seines beruflichen Naheverhältnisses zu Österreich – seinen Lebensmittelpunkt in Polen hatte und diesen weiterhin dort hat. Dies vor allem, weil die Beschäftigung in Österreich – im Verhältnis zu seiner langjährigen Erwerbstätigkeit in Deutschland – nur von kurzer Dauer war und keine Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass der Beschwerdeführer in Österreich über persönliche oder soziale Bindungen verfügt, die über jene zu seinem Wohnort in Polen, wo seine Familie lebt, hinausgehen. Im Hinblick auf die Frage des Wohnortes sind zwar auch die ‚Absichten‘ zu berücksichtigen; dies aber nur, wie sie sich aus den gesamten Umständen ergeben (VwGH, 22.02.2012, Zl. 2009/08/0293). Diese Umstände sprechen im gegenständlichen Fall aber eindeutig für die Annahme des Mittelpunktes der Lebensinteressen in Polen.“
Dieses Erk steht im Widerspruch zur bisherigen Judikatur. War doch iSd Grenzgänger-Definition des Art 1 lit f EU-VO 883/2004 („Grenzgänger ist eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung […] ausübt und in einem anderen Mitgliedstaat wohnt, in den sie in der Regel täglich, mindestens jedoch einmal wöchentlich zurückkehrt
“) bisher immer Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Bestimmungen dieser EU-VO, dass der nunmehr Arbeitslose während seiner Beschäftigungszeit zumindest einmal wöchentlich in sein Herkunftsland zurückkehrte. Wurde diese Tatsache verneint, war bisher eindeutig die Zuständigkeit Österreichs für die Anspruchsprüfung gegeben. In diesem und einem zweiten Erk wurde nunmehr explizit in beiden Fällen festgestellt, dass die Beschwerdeführer203 nicht einmal wöchentlich in ihre Herkunftsländer zurückkehrten. Stattdessen wurde auf das Vorliegen sozialer Kontakte in Österreich abgestellt und in deren Ermangelung in beiden Fällen die Zuständigkeit Österreichs verneint. Dass und wie in den einzelnen Fällen der Umfang der Lebensumstände einer Gesamtbetrachtung unterzogen wird, ist daher nicht nachvollziehbar. Bei so einer gravierenden Änderung der Rsp ist es umso erstaunlicher, dass in beiden Fällen keine ordentliche Revision zugelassen wurde.
Festzuhalten ist, dass die Judikatur sowohl des BVwG als auch des VwGH iZm der Prüfung von Grenzgänger-Eigenschaft höchst divergent ist. Für alle Betroffenen wäre es, auch iS von Rechtssicherheit sehr wünschenswert, wenn es eine einheitliche Rsp geben würde.
Zu verweisen ist in diesem Zusammenhang auf eine weitere E des BVwG vom 29.5.2015, W209 2105929-1. Dort brachte der Arbeitslose vor, dass er während seiner letzten Beschäftigung in Österreich nicht wöchentlich nach Polen zurückgekehrt sei, er von seiner Gattin geschieden sei, sein 15-jähriger Sohn ihn in Österreich besuchte und er mit seinem Bruder und Schwager in einer gemeinsamen Wohnung in Österreich lebe. An den Wochenenden gehe er wandern und besuche Verwandte und Bekannte in Österreich. Trotzdem hat das BVwG festgestellt, dass er keine persönlichen und sozialen Kontakte in Österreich habe, so dass Polen als Wohnmitgliedstaat für die Zuerkennung des Arbeitslosengeldes zuständig sei. Hinzuweisen ist auch auf das Erk des VwGH vom 28.1.2015, 2013/08/0056, welches in der Ausgabe DRdA-infas 3/2015 ausführlich besprochen wurde.