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Fahrzeit von Außendienstmitarbeitern zwischen Wohnort und erstem/letztem Kunden ist Arbeitszeit

MATTHIASBALLA
§ Art 2 Nr 1 RL 2003/88/EG
EuGH 10.9.2015, C-266/14, Federación de Servicios Privados del sindicato Comisiones obreras (CC.OO.)/Tyco

Es stünde im Widerspruch zum Ziel der RL 2003/88, wenn die Ruhezeit von AN, die keinen gewöhnlichen oder festen Arbeitsort haben, aufgrund des Ausschlusses der Fahrzeit Wohnort – Kunden vom Begriff „Arbeitszeit“ iS von Art 2 Nr 1 der RL verkürzt würde.

SACHVERHALT

Tyco ist in den meisten Provinzen Spaniens in der Installation und Wartung von Sicherheitssystemen tätig. Im Jahr 2011 schloss Tyco ihre Regionalbüros in den Provinzen. Den Mitarbeitern, welche mit der Installation und Wartung von Sicherheitsvorrichtungen betraut sind, steht ein Firmenfahrzeug zur Verfügung. Traten sie zuvor ihre Arbeit täglich am Standort des jeweiligen Regionalbüros an, begaben sie sich nunmehr direkt von ihrem Wohnort zum ersten Kunden. Vom letzten Kunden traten sie direkt die Heimreise zu ihrem Wohnort an. Tyco berechnete nunmehr die tägliche Arbeitszeit, indem sie auf die Ankunft des AN am Standort des ersten Kunden als Arbeitsbeginn und seine Abreise vom Standort des letzten Kunden als Arbeitsende abstellte.

VERFAHREN UND ENTSCHEIDUNG

Im vorliegenden Fall erhob die spanische Gewerkschaft CC.OO Klage gegen Tyco, da sich diese weigerte, Anfahrtszeiten ihrer Servicetechniker von deren Wohnort zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zurück zu ihrem Wohnort als Arbeitszeit anzusehen. Nach dem vorlegenden nationalen Gericht stellt das spanische Recht für die Berechnung der Arbeitszeit auf den Zeitpunkt ab, an dem sich der AN an seinem Arbeitsplatz befindet. Es stellt die Fahrzeit Wohnort-Kunden nicht der Arbeitszeit gleich, weil der AN bei der Wahl seines Wohnortes frei sei. Anders sei dies bei AN im landgebundenen Verkehr zu beurteilen, weil sich deren Arbeitsplatz im Fahrzeug befinde. Fraglich sei, ob die Situation der AN der Tyco mit derjenigen der letztgenannten AN gleich gesetzt werden könne.

Der EuGH entschied, dass bei AN, die über keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort verfügen, die Zeiten der Anfahrt zum ersten Kunden und der Heimfahrt vom letzten Kunden iSd RL 2003/88/EG als Arbeitszeit zu betrachten sind.

ORIGINALZITATE AUS DER ENTSCHEIDUNG

„Sodann hat der Gerichtshof zum Begriff ‚Arbeitszeit‘ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 wiederholt entschieden, dass die Richtlinie diesen Begriff als jede Zeitspanne definiert, während deren ein Arbeitnehmer gemäß den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder Gepflogenheiten arbeitet, dem Arbeitgeber zur Verfügung steht und seine Tätigkeit ausübt oder seine Aufgaben wahrnimmt, und dass dieser Begriff im Gegensatz zur Ruhezeit zu sehen ist, da beide Begriffe einander ausschließen (Urteile Jaeger, C151/02, EU:C:2003:437, Rn. 48, Dellas u.a., C14/04, EU:C:2005:728, Rn. 42, sowie Beschlüsse Vorel, C437/05, EU:C:2007:23, Rn. 24, und Grigore, C258/10, EU:C:2011:122, Rn. 42). […]

Zum ersten Bestandteil des Begriffs ‚Arbeitszeit‘ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88, wonach der Arbeitnehmer seine Tätigkeit auszuüben312 oder seine Aufgaben wahrzunehmen hat, ist festzustellen, dass nicht bestritten worden ist, dass Tyco vor ihrer Entscheidung, die Regionalbüros zu schließen, die Fahrzeit ihrer Arbeitnehmer zwischen diesen Büros und dem Standort des ersten und des letzten Kunden des Tages als Arbeitszeit betrachtete, die Fahrzeit zwischen dem Wohnort und den Regionalbüros zu Beginn und am Ende des Tages dagegen nicht. […]

Wie der Generalanwalt in Nr. 38 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, sind die Fahrten von Arbeitnehmern, die eine Beschäftigung wie die des Ausgangsverfahrens ausüben, zu den von ihrem Arbeitgeber bestimmten Kunden das notwendige Mittel, damit diese Arbeitnehmer bei den Kunden technische Leistungen erbringen können.

Daher ist bei Arbeitnehmern, die sich in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens befinden, anzunehmen, dass sie während der Fahrzeit Wohnort-Kunden ihre Tätigkeiten ausüben oder ihre Aufgaben wahrnehmen.

Zum zweiten Bestandteil des Begriffs ‚Arbeitszeit‘ im Sinne von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88, […] ist festzustellen, dass der Umstand entscheidend ist, dass der Arbeitnehmer verpflichtet ist, sich an einem vom Arbeitgeber bestimmten Ort aufzuhalten und sich zu dessen Verfügung zu halten, um gegebenenfalls sofort seine Leistungen erbringen zu können. [...]

Während dieser Fahrten unterstehen die Arbeitnehmer den Anweisungen ihres Arbeitgebers […]. Jedenfalls haben die Arbeitnehmer während der erforderlichen Fahrzeit […] nicht die Möglichkeit, frei über ihre Zeit zu verfügen und ihren eigenen Interessen nachzugehen, so dass sie demnach ihren Arbeitgebern zur Verfügung stehen.

Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 2003/88 dahin auszulegen ist, dass unter Umständen wie den im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, unter denen die Arbeitnehmer keinen festen oder gewöhnlichen Arbeitsort haben, die Fahrzeit, die diese Arbeitnehmer für die täglichen Fahrten zwischen ihrem Wohnort und dem Standort des ersten und des letzten von ihrem Arbeitgeber bestimmten Kunden aufwenden, ‚Arbeitszeit‘ im Sinne dieser Bestimmung darstellt.“

ERLÄUTERUNG

In dieser E geht es um die Frage der Bewertung von Reisebewegungen von AN und der Frage, ob sie als Arbeits- oder Ruhezeit zu bewerten sind. (In Österreich verwenden Judikatur und Lehre in diesem Zusammenhang die Begriffe „Wegzeit“ für die Bewegung zwischen Wohnort und Arbeitsort [= Ruhezeit] und „Reisezeit“ für Bewegungen zwischen einem [zB ständigen] Arbeitsort und einem anderen Arbeitsort [= Arbeitszeit].)

Demnach liegt Ruhezeit vor, wenn die AN ohne größere Zwänge über ihre Zeit verfügen und ihren eigenen Interessen nachgehen können (siehe Rn 37, bzw Urteil Simap, C‑303/98, EU:C:2000:528, Rn 50).

Hingegen ist von Arbeitszeit gem Art 2 der RL 2003/88/EG dann auszugehen, wenn der AN dem AG während dieser Zeit zur Verfügung steht (siehe Rn 35).

Überall dort, wo in der Praxis ein fixer, gewöhnlicher Arbeitsplatz besteht, lässt sich anhand der obigen Bestimmung die Arbeitszeit von der Ruhezeit unzweideutig abgrenzen. Die Anfahrt vom Wohnort zum Arbeitsplatz wird dann eindeutig Ruhezeit darstellen und der Privatsphäre des AN zuzurechnen sein. Die Ankunft am Arbeitsplatz wird, sofern sie mit Arbeitsbereitschaft einhergeht, als eindeutiges Indiz für Arbeitszeit zu werten sein.

Im vorliegenden Fall hatte das Unternehmen Tyco, welches mit der Installation und Wartung von Sicherheitssystemen betraut ist, die Arbeitsorganisation ihrer Außendienstmitarbeiter umgestellt. Traten die Servicetechniker ihre Arbeit bislang in den Regionalbüros des AG an, mussten sie nunmehr direkt von ihrem Wohnort die Fahrt zum ersten Kunden antreten und am Ende des Arbeitstages vom letzten Kunden direkt nach Hause fahren. Die tägliche Koordination und Abrechnung der Arbeitseinsätze wurde nunmehr elektronisch über Diensthandys abgewickelt.

Fraglich war, zu wessen Lasten die Entscheidung des AG gehen soll, den festen, gewöhnlichen Arbeitsort zu beseitigen (hier die Schließung der Regionalbüros), wodurch die eindeutige Grenze zwischen Anfahrt zum Arbeitsort (Privatsphäre des AN = Ruhezeit) und Antritt am Arbeitsort (Sphäre des AG = Arbeitszeit) verwischt wurde.

Im vorliegenden Fall vertrat der AG die Position, erst das Eintreffen beim ersten Kunden sei als Arbeitsantritt und bereits der Abschluss der Tätigkeit beim letzten Kunden sei als Arbeitsende zu werten.

Der EuGH hat in diesem Fall zu Lasten des AG entschieden. Die tägliche direkte Reisebewegung zwischen dem Wohnort des AN und den jeweiligen Kunden ist im vorliegenden Fall unmittelbare Folge der Entscheidung des AG gewesen, die Regionalbüros zu schließen. Infolge des Wegfalls eines festen oder gewöhnlichen Arbeitsortes (Regionalbüros) ist den AN die Möglichkeit genommen worden, die Entfernung zwischen Wohnort und gewöhnlichem Arbeitsort frei zu bestimmen. Es kann daher den AN nicht auferlegt werden, die Folgen der Entscheidung ihres AG zu tragen.

Der EuGH geht sogar so weit, darauf hinzuweisen, dass, würde man die Fahrten nicht berücksichtigen, dies den Begriff der Arbeitszeit verfälschen, und damit den Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der AN beeinträchtigen würde (siehe Rn 32).313

Obwohl das vorliegende Urteil eine Einzelfallentscheidung des EuGH darstellt, lassen sich aus ihm mE folgende allgemeine Schlussfolgerungen ziehen:

Entscheidet sich der AG im Rahmen einer vorausschauenden, planenden Entscheidung über die Arbeitsorganisation dafür, keinen gewöhnlichen festen Arbeitsort einzurichten, um die Einsatzzeiten der AN zu seinen Gunsten zu optimieren, hat er auch die daraus resultierenden Lasten allfälliger Unschärfen bei der Bewertung der Arbeitszeit zu tragen.

Besteht infolge der besonderen Umstände der Außendiensttätigkeit der AN kein gewöhnlicher Arbeitsort und stellen die Reisebewegungen ein notwendiges und regelmäßiges Mittel zur Verrichtung der Kerntätigkeiten des AN dar, sind auch die Reisebewegungen zwischen Wohnort des AN und den Kunden als Arbeitszeit zu qualifizieren.

Was die Entlohnung solcher Reisebewegungen betrifft, hat sich der EuGH auf den unionsrechtskonformen Standpunkt zurückgezogen, für diese Fragen nicht zuständig zu sein.

Für Österreich ist das Urteil insofern besonders interessant, als die Judikatur die Reisebewegung vom Wohnort zur ersten auswärtigen Arbeitsstätte des Tages (bzw von der letzten zurück zum Wohnort) bislang der Kategorie „Wegzeit“ zugeordnet und damit nicht als Arbeitszeit behandelt hat. Man darf gespannt sein, wie derartige Streitfälle zukünftig im Lichte des neuen EuGH-Judikats ausgehen werden.